Durch das imaginäre Objektiv meiner Kamera sehe ich ihn, den Alois Vogel: Seine große, aufrechte, schlanke Gestalt; in einem grauen Anzug, mit Strickweste und mit sorgfältig gebundener, farblich und stofflich dazupassender Krawatte. Im Winter darüber ein knielanger, schwarzer Kapuzenmantel. Eine Baskenmütze oder eine Kangol-Kappe auf dem Kopf. Meist braune, elegante Halbschuhe aus feinem Leder, mit Gummisohle. Und eine Aktentasche unter dem Arm; darin allerlei Manuskripte, Zeitschriften; und wahrscheinlich auch ein Buch.
Zurückhaltung, elegante Vornehmheit schon in der Erscheinung des Äußeren. Dem entsprechend eine solche im Benehmen, im Umgang, in den Gebärden, im Gespräch. Dazu noch eine gewisse, vorsichtige Bedächtigkeit, das Maßhalten in der Abgemessenheit ruhiger Bewegungen; das Abwägen der Worte beim Aussprechen der Gedanken. Der zielgerichtete Aufbau eines Satzes ebenso wie das harmonische Ausklingen desselben. Das Schweigen danach. Der Blick zum Gegenüber. Der fast schon liturgisch anmutende Griff zum Weinglas und das Trinken daraus. Das wieder immer wieder In-sich-zurückkehren – für eine kurze Weile oder am Ende des Gespräches; beim Abschied.
Die Frage, das Fragen überhaupt. Das Kreisen um eine vielleicht mögliche Antwort. Nichts als Behauptung, nichts als laute, als vorlaute Äußerung; nein. Immer wieder das „Glaubst du nicht, daß..?“ oder das „Es könnte aber vielleicht auch sein“ als Rückfrage und Anfrage im Dialog; oder als Einwand. Nie: „Das ist so – und nicht anders!“ Nein, immer die Sprache des eines trotz Lebenserfahrung und Lebensweisheit noch immer Suchenden, der für sich nicht „die Wahrheit gepachtet hat“; der noch immer neugierig ist auf andere Sichtweisen und Antworten; und diese – auch wenn er anderer Meinung ist – respektiert. Also ein Mensch, der – auch wenn und indem er seinen eigenen Standpunkt hat – andere Sichtweisen, Meinungen, Standpunkte und Haltungen gelten läßt. Das ist mehr, als man mit dem abgegriffenen Wort „Toleranz“ bezeichnen mag.
Nur für eines bringt er kein Verständnis auf, was in diesem Fall kein Mangel, sondern Haltung ist: Für Intoleranz und Gewalt. Lebenserfahrung – das bedeutet auch Erfahrung auf der politischen, auf der ideologischen Ebene. Ständestaat, Nazidiktatur, Militarismus überhaupt. Das ist bei Alois Vogel ein Bereich individueller Persönlichkeitserfahrung; auch als Grenzerfahrung im Krieg. Daraus resultiert eine prinzipielle, lebenslange Ablehnung. Diese gilt einer jeden Art von sich selbst absolutsetzender Ideologie; weil sie den Menschen versklavt, ihn seiner Freiheit und Würde beraubt. Und die Wahrheit stets mit Füßen tritt. Und so gilt seine Ablehnung auch einer jeden Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist oder sich über das Legitime hinwegsetzt. Hohle Pathossprüche, leere Propaganda und deren Urheber miteingeschlosssen. Hier definiert sich seine klare Position gegen den Mißbrauch vom Menschen und gegen die Herabwürdigung der Sprache zum bloßen Werkzeug.
Unvergessene und unvergeßliche Augenblicke der Begegnung mit ihm als Mensch und Dichter – wie die durch die geschilderten Personen und Ereignisse in seinen Romanen, aber auch durch das Eintauchen in die Tiefe seiner Gedichte – fallen mir immer wieder ein, wenn ich an Alois Vogel denke. Und dann sehe ich ihn wieder vor mir, den Freund und Wegbegleiter über viele Jahre. Jetzt verändert sich nichts mehr für mich an ihm. Die Erinnerung ist abrufbereit für mich; wie ein Bild, das sich im Lauf der Zeit entwickelt und verfestigt hat. Und ich habe so ein Bild als Fotografie auch wirklich von ihm gemacht. Und aus dieser Fotografie sieht er mich, da ich das Buch vor mich hinstelle, so an, wie ich ihn hier beschrieben habe. Zugleich aber ist sein Blick in die Ferne gerichtet; auf etwas, das er sieht.
Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.