Genau wie meine Mutter hatte auch ich keine Lust, auf Ostermärsche zu gehen, weil ich es immer so anstrengend fand.
Ich erkläre kurz für die Jüngeren unter uns: Ostermärsche für den Frieden gab es schon in den sechziger Jahren. Anfang der achtziger Jahre waren sie die weltweite Reaktion der Völker auf das atomare Wettrüsten der Großmächte Amerika und Russland, und zwar in Form von gigantischen Demonstrationszügen.
Hunderttausende von Menschen verstopften also die Straßen.
Die Leute in den Häusern hatten richtig Mitleid mit uns, weil wir so ungeschützt in der gleisenden Mittagssonne standen und es nicht weiterging. Ostern ist ja gerne schönes Wetter!
Einige haben dann aus den Fenstern eimerweise Wasser auf die Ostermarschgänger geschüttet, um sie zu erfrischen. Am Straßenrand gab es Energiebällchen aus ökologischem Anbau zu essen, wenn gar nichts mehr ging.
Ich dagegen wuchs schon wieder von der Leberwurst in die Länge und hatte einen Kreislaufzusammenbruch, lag völlig benebelt im Sanitätszelt und musste Salzwasser trinken, mein Lieblingsgetränk.
Aber als mein Vater mir sagte, ich könne beim nächsten Mal auf dem LKW mitfahren, auf dem er Musik machte, war ich einverstanden. So hab ich doch noch dazu beigetragen, dass das Wettrüsten der Amerikaner und Russen beendet wurde.
Ich war also mit daran beteiligt, den dritten Weltkrieg zu verhindern und sorgte so dafür, dass die Welt noch weiter bewohnbar war, ohne dafür laufen und in Ohnmacht fallen zu müssen.
Wir saßen also auf der großen Ladefläche von dem LKW und fuhren langsam von einer Kundgebung zur anderen. Am Schlagzeug saß Chuck Cornish und sang ›Summertime‹.
Helge Schneider blies dazu das TenorSaxofon, Jochen Bosak spielte Klavier, Glöder war am Bass und mein Vater blies Flügelhorn.
Plötzlich begann ich, bewusst zuzuhören und nahm sogar ein Samba-Ei zur Hand. Auf einmal verstand ich überhaupt erst mal, was mein Vater und die Musiker da machten: Jazz!!!
Ich ließ mir von Chuck den Text aufschreiben und fing sofort zu Hause an zu üben, denn ich wollte Jazz Sängerin werden.
Mein Vater besaß eine riesige Sammlung ›Blue Note‹-Jazzschallplatten von politisch korrekten Afroamerikanern, die inzwischen schon ganz schon wertvoll geworden war.
Natürlich waren die meisten Platten rein instrumental, also mit Trompete und Kontrabass, seinen Lieblingsinstrumenten. Aber er hatte auch die Sängerinnen Billie Holiday und Ella Fitzgerald in seiner Sammlung.
Ich hörte mir zuerst Ella an und fühlte mich genauso unfähig, sie zu begreifen, wie sich damals der unmusikalische Kaiser nach der Mozartoper gefühlt hatte: ≫Zu viele Noten! Das war viel zu kompliziert und schwierig für mich. Woher sollte ich diesen unglaublichen Sprudel an Lebensfreude nehmen und ihn dann aus meiner Kehle strömen lassen, wie Ella es konnte?
Also legte ich Billie Holiday auf und sang mit ihr um die Wette.
Ich versuchte, ihre Stimme zu imitieren, was dann so klang wie eine Katze, die sich fortpflanzen wollte.
Am nächsten Sonntagmorgen stand ich wie immer im Jazzkeller ›Blue Note‹ an der Kasse und dachte aber das ganze Konzert hindurch: ≫Gleich geh ich hin, nur noch das eine Stück, wenn das zu Ende ist… Nach dem nächsten Lied frag ich aber bestimmt, ob ich singen darf. Jetzt! … Oh schade, die machen Pause… Mist, ich muss schon wieder aufs Klo!≪
Als ich vom Klo zurückkam, war die Pause vorbei und die spielten auch schon wieder. Jetzt hatte ich Bauchschmerzen von dem Durchfall, den ich bekommen hatte. Aber ich hatte ja noch eine Woche Zeit zum Üben und am nächsten Sonntag war ich mutiger.
Ich schnappte mir einfach das Mikrofon und sagte ≫Summertime≪.
Helge und mein Vater bliesen sofort das Thema, dann war ich an der Reihe. Ich überraschte die Musiker, meinen Vater und das Publikum mit dem Gesang einer Katze, die sich fortpflanzen wollte.
Die Musiker fanden das gut und fühlten sich von meinem Gesang sogar angesprochen. Als mir dann auch noch meine Tasche umfiel und der gesamte Inhalt auf dem Boden lag, also auch Tabak und obendrauf meine Antibabypille, die ich immer prophylaktisch bei mir trug, trafen sich Blicke.
Mein Vater erspähte den Tabak und ärgerte sich und ein Musiker sah die Pille und freute sich. Ich wurde richtig als Sängerin akzeptiert und erweiterte nun wöchentlich mein Repertoire.
Schließlich kam sogar eine kleine Nachwuchsjazzband zustande und wir probten regelmäßig im ›Blue Note‹. Der Klavierspieler sah aus wie Keith Jarrett in lang. Mit ihm habe ich alles Mögliche geübt. Irgendwie kam sogar ein Auftritt in einer anderen Stadt zustande. Die Tante von irgendeinem eröffnete einen Frisörsalon und wir spielten vor der Tür, um die Leute reinzulocken. Es sind wirklich viele reingegangen, denn drinnen gab es Sekt umsonst.
Dann gab es auch mal ein Konzert im ›Blue Note‹-Keller, da hat mir die Hand mit dem Mikrofon geflattert, und als ich auf dem Klo in den Spiegel guckte, hatte ich einen riesigen roten Fleck am Hals, der aussah wie gemalt.
Mein Vater hatte natürlich alles aufgezeichnet mit seinem Tonbandgerät und ich saß am Nachmittag da mit hochroten Ohren und spulte immer wieder die eine Stelle zurück, wo meine Stimme so klang, dass ich gar nicht glauben konnte, dass ich das war. Ich musste noch ganz viel üben. Helge sagte: ≫Nein, nein, dass ist nicht so schlecht, du fängst ja grade erst an!≪, als mein Vater ihm das Band vorspielte und ich darauf bestand, dass sie es ausmachten. Dann machte Helge mich völlig übertrieben nach und sang wie ein Kater, die sich fortpflanzen wollte, was sehr lustig war. Dadurch habe ich aufgehört, mich so doll zu schämen. Ich war noch nicht einmal sauer auf meinen Vater, der sich auch kaputtgelacht hatte.
Ich fühlte mich zum ersten Mal ernst genommen.
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Gott schmiert keine Stullen von Eva Kurowski, rowohlt
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