Dank Netzers Ballbeherrschung, seiner grandiosen weiten Pässe, seiner Geistesblitze und Übersicht sowie Heynckes’ Schnelligkeit und Intuition entwickelte diese Elf einen Spielfluss und eine Brillanz, die sie weder zuvor noch danach jemals wieder besessen hat.
schreibt Daniel Cohn-Bendit über die die deutsche Nationalelf von 1972. Sein Plan ist es gewesen, nicht einfach etwas über 50 Jahre 1968 zu schreiben, sondern eine Biografie entlang der eigenen Fußballerlebnisse, die er dann mit gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Überlegungen verbunden hat. Bedauerlicherweise erreicht er an keiner Stelle die gedankliche Tiefe des damaligen London-Korrespondenten der FAZ, Karl-Heinz Bohrer, der anläßlich des Spieles der „Wembley-Elf“ berichtete, Netzer habe seine Vorstöße „aus der Tiefe des Raumes“ vorgetragen. Im Gegensatz zur Politik hat der Fußball eine große Macht, weil es sich um ein attraktives und dynamisches Spiel handelt, bei dem man den Ausgang nicht vorhersehen kann. Das ist eine triviale Definition, der Cohn-Bendit auch nicht sonderlich viel neues hinzufügen kann, aber sie wird von vielen Menschen in aller Welt geteilt. Die Faszination des Spiels hat Sponsoren und wirtschaftliche Ressourcen zum Fußball geholt, und dadurch ist das Phänomen immer größer geworden, sodaß man von einer „Hegemonialsportart“ spricht. Rollt der Ball erstmal, sind Menschenrechtsverletzungen in Russland, Korruption bei der FIFA und der Skandel um die gekaufte WM in Katar schnell vergessen. Und auch die aktuelle Corona-Krise. Als Opium fürs Volk plant der DFB ab Mai Geisterspiele.
Ihr habt doch früher – der Günter – was die früher für einen Scheiß gespielt haben! Da konntste doch früher gar nicht hingegangen, die haben doch Standfußball gespielt früher!
Rudolf (Tante Käthe) Völler, 6. September 2003, ARD-Sportextra im Gespräch mit Waldemar „Weißbier“ Hartmann.
Von den sogenannten „68“ern bliebt als historische Leistung der Dosenpfand und eine „sexuelle Revolution“, bei der die Folgen zu Redaktionsschluß noch ungeklärt sind. Daniel Cohn-Bendit wird es wahrscheinlich freuen, daß für die falsche Borussia im Herbst ein Spieler auflaufen wird, der gerade mal 15 Jahre alt ist. Wie schnellebig die Zeitläufte sind, zeigt sich, daß das Buch erschienen ist, bevor die EM aus bekannten Gründen abgesagt worden ist. Ob es noch das Papier wert ist, auf dem es gedruckt wurde, mag der Leser selber entscheiden.
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Unter den Stollen der Strand Fußball und Politik – mein Leben, von Daniel Cohn-Bendit, Kiepenheuer&Witsch, 2020
Weiterführend →
Lesen Sie auch zum Thema „Fuppes“ A.J. Weigonis Beitrag aus der Reihe Mein Klassiker.