Weiter und weiter machen in einer guten Gegenwart
Die Musik kann im selben Maße wie die Literatur erschüttern, eine gefühlsmäßige Umkehr, Traurigkeit oder absolute Ekstase bewirken; die Malerei kann im selben Maße wie die Literatur verzücken, einen neuen Blick auf die Welt eröffnen. Aber allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was dieser Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt. Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre – denn so tief und dauerhaft eine Freundschaft sein mag, niemals liefert man sich in einem Gespräch so restlos aus, wie man sich einem leeren Blatt ausliefert, das sich an einen unbekannten Empfänger richtet.
Michel Houellebecq ∙ Unterwerfung
»War das einmal meine Sprache? Das ist noch nie meine Sprache gewesen! Die Sprache hat immer anderen gehört.«
Am 23. April 2020 jährt sich zum 45. Mal der Tag, an dem Rolf Dieter Brinkmann, der am 16. April 2020 80 Jahre alt geworden wäre, in London von einer Limousine erfaßt und auf der Stelle getötet wird. Jürgen Theobaldy und Brinkmann sind – wenn ich das, was ich über den Unfallhergang erfahren habe, recht erinnere – auf dem Weg zu einem Restaurant, um eine Abendmahlzeit einzunehmen. Gegen 22 Uhr befinden sich die beiden Autoren, die Richard Burns zum ersten internationalen Cambridge Poetry Festival eingeladen hat (mit Lesungen am 19. und 20. April 1975), auf der Westbourne Grove im Londoner Stadtteil Bayswater, als Brinkmann auf der anderen Straßenseite das Pub The Shakespeare (mit der Hausnummer 65 …) sieht und spontan die Straße betritt, offenbar ohne auf den unmittelbar von links kommenden Verkehr zu achten. So endet auf abrupte, gewaltsame, plötzliche Weise das kurze, lange, schwere Leben jenes aufbegehrenden, beherzten, bildwortbesessenen, empfindsamen, exzentrischen, fanatischen, freimütigen, innovativen, klugen, originellen, polarisierenden, streitbaren, suchenden, vitalen, widersprüchlichen, zornigen Schriftstellers der 1960er und 70er Jahre, deren herrlich abenteuerlicher, zügellos wilder (in den beiden Jahrzehnten sehr unterschiedlich ausgelebter und zunehmend desillusionierter) Freiheitsdrang – Help! – längst legendär und aus Sicht mancher Zeitgenossen nach 2000 vielleicht schwer bloß zu greifen, nachzuvollziehen ist.
»Ist das nicht Leidenschaft, ein Dach blau anzustreichen und darunter zu wohnen?«
In der Woche nach dem Tod, also Ende April 1975, erscheint bei Rowohlt die von 360 auf knapp 200 Seiten geschrumpfte, von Brinkmann (widerwillig) autorisierte Ausgabe des aufsehenerregenden Gedichtbuchs Westwärts 1 & 2, für das ihm posthum der erste Petrarca-Preis verliehen wird. Das Buch wird zum großen Erfolg: Exemplare von Westwärts 1 & 2 werden in fünfstelliger Auflagenhöhe unter die Leser gebracht. In den Jahren danach läßt das Interesse am literarischen Werk dieses wunderbar unangepaßten Menschen zunächst vielleicht eine kurze Zeit lang nach, um seit Mitte der 80er Jahre bis heute wieder kontinuierlich und kräftig zu steigen. –
Brinkmann ist ein Mensch, der sich, in einer Welt schwirrsinnigen Gedankenterrors lebend, zeitlebens nach friedlichen, klaren, langsamen, sanften, stillen, weichen, zärtlichen Momenten sehnt, diesen winzigen Stückchen mehr an Freiheit, die sich, ›augenblicksweise‹ immerhin, in den zu seinem Glück oft langanhaltenden Schreibmomenten als ›Anwesenheit‹ unmittelbarer ›Gegenwart‹ offenbaren, die für ihn, der auch gegen erbärmliches ›Establishment‹, bequeme ›Bürgerlichkeit‹, jede Form von ›Enge‹ anschrei(b)t, erst ›Leben‹ bedeuten, Leben, das, jenseits von ›Sinn‹ und ›Unsinn‹, ganz einfach : ›ist‹ –. Es gilt einfach, / viele gute Augenblicke zu erwischen.
Der am 16. April 1940 (während deutsche Soldaten Dänemark, Norwegen besetzen) in der norddeutschen Kleinstadt Vechta geborene Rolf Dieter Brinkmann macht’s sich und Zeitgenossen nie leicht, auch die Mehrzahl der Zeitgenossen hat’s ihm eher selten leichtgemacht. (Man hat sich also gefunden.) Das Leben an sich, wir hören’s immer wieder, ist nun auch nicht eben leicht. Und: Es ist, nolens volens, für jeden Menschen stets E∙x∙p∙e∙r∙i∙m∙e∙n∙t. Keiner weiß, ob er beim nächsten Schritt stolpert, fällt oder ob’s ganz einfach weitergeht: Literatur geht dort weiter, wo Widersprüche auftreten. Brinkmann nimmt diese Erkenntnis voll, ganz an: Er ›macht‹ die aufs Umfeld immer wieder provozierend wirkenden ›Experimente‹ zum Lebensprinzip, dabei immer wieder den unerfüllt gebliebenen Wunsch äußernd:Ich möchte weiter und weiter machen in einer guten Gegenwart. –
Manch Unveröffentlichtes harrt der Publikation. 2005 erscheinen drei Editionen – der umfangreiche Nachlaß der Tonbänder und Lesungen sowie die vollständige Ausgab von Westwärts 1 & 2. Brinkmanns Zorn, der Film über die letzten fünf Lebensjahre Brinkmanns, kommt 2006 in die Kinos, 2010 kommt Vorstellung meiner Hände (das Buch mit den frühen Gedichten) heraus, 2011 gibt Mark Terrill in der Parlor Press in Anderson (South Carolina) den Sammelband An Unchanging Blue. Selected poems 1962 – 1975 heraus. –
»Das blaue Futur wurde in die Maschine gegeben.«
Eines Tages frage ich in einer blauen Stunde fröhlich in die Runde, welche drei Lyriker wir vier als Repräsentanten des deutschen Sprachraums während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (bis etwa 1960), welche wir für die zweite Hälfte ›nominieren‹ würden. Ergebnis des Votums, an dem sich Kraus, Mrs Columbo und Peer Quer zunächst zögerlich, dann begeistert beteiligen (Bensch liegt erkältet im Bett): Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Paul Celan für die erste, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Rolf Dieter Brinkmann für die zweite Hälfte. Unweigerlich fliegen uns weitere Namen zu, die wir gern als Teil der Kleeblätter sähen: Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Hans Magnus Enzensberger, Oskar Pastior, Jürgen Becker, Thomas Kling. Ein amüsantes Gedankenspiel. Immerhin bekommen wir Unterstützung von vielen Seiten: Allusion, Echo, Nachklang, Pastiche, Plagiat, Wort, Zitat der benannten ersten sechs Autoren scheinen am häufigsten, in welcher Form auch immer, in Gedichten auch nach 2000 auf; Eichendorff, Hölderlin, Goethe sind ebenfalls mächtig präsent. (Und weiterhin schwebt das blaue Band, das blaue Südwort durch die Verse, ergänzt Peer Quer, worauf wir ihn umgehend zur blauen Eminenz des grauen Planeten ernennen.)
»Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.«
Der 23. April ist ›Welttag des Buches‹: Die Geburtstage von Miguel de Cervantes und William Shakespeare (der ausgerechnet am vermuteten Tag der Geburt stirbt) geben den Anlaß. Daß Brinkmanns Todestag ein 23. April ist, wirkt auf mich insofern wie ein Schicksalswink, als ich ›Welttage‹ aller Art für ziemlich überflüssig halte – in dieser besonderen Verbindung allerdings für nichts weniger als attraktiv. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht, wo Brinkmann sich befindet, als das Unglück geschieht: gegenüber dem Pub The Shakespeare in London – der weltoffenen Metropole, in die es ihn seit 1965 immer wieder zieht, um die Freiheit, die er meint, zu erleben, und sich, fürs Überleben im verhaßten Köln, mit druckfrischen amerikanischen Gedichtbüchern der ›Beat‹-, ›Pop‹-Generation und neuen Langspielplatten zu versorgen. Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs,betont Brinkmann, aktuelle Liedtexte tropfen sinnreich in Gedichte, in deren Titeln ausdrücklich Wörter wie Lied oder Song auftauchen. Die Trennung von Dichtung und Musik spiegelte sich erstmals in der Druckseite wider, unterstreicht Marshall McLuhan. Brinkmann holt die Musik zurück ins Gedicht, Roll rüber, Beethoven! Im unkontrollierten Nachwort lese ich: Vielleicht ist es mir gelungen, die Gedichte einfach zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.
Die zuletzt publizierten Editionen offenbaren erneut eindrucksvoll die innovativen ›Kunststücke‹ von der Hand des materiell verarmten literarischen Schwerstarbeiters Brinkmann, der sich, restlos angewidert von Köln, vom Literaturbetrieb, von der Welt, ab 1970, wieder ein Sonntag in Deutschland, der absolut albtraumhaft ist, ich trete aus dem Haus & trete zuerst in Hundescheiße, nachdem er sich – bis auf Henning John von Freyend, dem er 1973 schreibt: Dränge danach, jeden Gedanken, jede Erfahrung, jeden körperlichen Zustand in den vergangenen drei Jahren aufzuschreiben. Das nenne ich meinen Roman. Ich muß unbedingt aus meinen Erfahrungen ein Gesetz herausfinden – mit Bekannten, Freunden überwirft, konsequent in die Schreibzimmerwelt zurückzieht, ich habe mich ans Leben im entlegenen Versteck gewöhnt (Han Shan), unterbrochen bloß von den unbedingt zum Materialsammelprogramm gehörenden (oft nächtlichen) Gängen durch die dreckigen, düsteren großstädtischen Seitenstraßen, sich, intensiver vermutlich als jeder Zeitgenosse, radikal dem ›Eigentlichen‹, dem großen Roman, widmend.
»In Rom dachte ich an London. In London dachte ich an Rom. Als ich in Köln war, dachte ich an Amsterdam.«
Ich denke fünfzehn Jahre zurück – an jenen Freitag, den 8. April 2005: ein Tag, den die Menschheit so schnell nicht vergißt. Die Beisetzung des verstorbenen polnischen Papstes gerät zum ›ungeheuren‹ Medienspektakel. (Oder hat sie ihn schon vergessen? Wahrscheinlich ja. – Da fällt mir ein: Am 11. September 2001 treffe ich erstmals Jan Röhnert, wir flanieren, lyrikvoll und ahnungslos, durch die Seitenstraßen Kölns, heften uns an die Verse Brinkmanns, stehen vor dem Haus Nummer 65 in der Engelbertstraße, wo er mit Frau Maleen und Sohn Robert lebte, erfahren erst abends, was in jener anderen Welt so los ist – es ist ja immer etwas los …) Just an jenem Apriltag jedenfalls, und deshalb vergesse ich ihn nicht, kommt mit der Post – nach zwei Wochen langen Wartens – die erweiterte Neuausgabe von Westwärts 1 & 2. Ausgepackt, geschaut, geblättert, hier Bilder betrachtet, dort Verse gelesen.
Ich kann ansatzweise bloß beschreiben, was es für mich bedeutet, dieses Buch endlich vollständig in Händen zu halten (minutenlang blick ich einfach bloß aufs Titelblatt), benenne drum zunächst bloß äußere Aspekte. Ist das Buch bislang 19 mal 12,5 Zentimeter klein, so ist Westwärts 1 & 2 nun 23 mal 15,5 Zentimeter groß und weist damit den für die oft exorbitant angelegten Gedichte angemessenen Umfang auf, der zudem eine Schrittgröße zuläßt, die natürlich der zum Teil ameisenhaft winzigen der Ausgab von 1975 bei weitem vorzuziehen ist. Das Buch hat nun das Format, das ihm aufgrund seiner fulminant entgrenzenden Gesamtgestaltstruktur zusteht.
Und nun lese und lese und lese ich wieder, lasse mich umrauschen, du denkst an frische Äpfel / im August, vom Sound magisch aufgeladener Wörter, in denen Klang und Sinn, wie von selber, miteinander plauschen, Ohren, die die Welt belauschen, Augen, die mit mir Blicke tauschen: Einen jener klassischen // schwarzen Tangos in Köln, Ende des / Monats August, da der Sommer schon / ganz verstaubt ist, kurz nach Laden / Schluß aus der offenen Tür einer / dunklen Wirtschaft, die einem / Griechen gehört, hören, ist beinahe / ein Wunder: für einen Moment eine / Überraschung, für einen Moment / eine Pause in dieser Straße, / die niemand liebt und atemlos / macht, beim Hindurchgehen. Ich / schrieb das schnell auf, bevor / der Moment in der verfluchten / dunstigen Abgestorbenheit Kölns / wieder erlosch.
»Ich schleppte meinen Koffer zu der Haltestelle. Jenseits der Betonflächen mit Spuren dünnen Lichts begann der Nachmittag, westwärts.«
Bis heute hab ich das in alle vom Autor denkfühlganggreiferlebbaren Richtungen ›aufbrechende‹, makrokosmisch vielschichtige Vermächtnis Westwärts 1 & 2 drei weitere, einzelne Gedichte unzählige Mal wiedergelesen; in der zweiten Februarwoche 2015 ist’s wieder soweit, ich erlebe erneut, wie dieser (einschließlich des visuellen Rahmens, auf dessen das ganze Buch durchwirkende Natur/Kultur-Dichotomie Roberto Di Bella eindrücklich hinweist) glasklar strukturierte tumultuarische Taumel, von aufwühlendem zu ruhespendendem zu beschwingtem zu rasendem Gedicht zu einer (anti-)poetischen Gestalt mit Ecken und Kanten geformt wird, die das faustische, sich aus der zuchthauszelleneng erlebten Gegenwart hin aufs die unverhoffte Weite von WortBildWelt bewegende, erinnernde, erlebende, träumende, schreibende Individuum in einem Bewußtseinsfilm zerspiegelt, in dem suchend neugestaltet wird, was, wer weiß, wer weiß, die Welt im Innersten zusammenhält. Die Wucht, mit der die vertrauten Wörter auf mich einschlagen, als wäre es das erste Mal, daß ich sie lese, macht mich wieder dermaßen brinkmannhungrig, daß ich alle Bücher auf einen Schlag wiederlesen will: Her mit Vanille, her mit Eiswasser an der Guadelupe Str., her mit Rom, Blicke (mit Paul Auster, Thomas, Bernhard, Friederike Mayröcker – und, ich räume es freimütig ein, manchen, nein, vielen anderen, Joseph Roth, Gottfried Keller, Virginia Woolf, Hans Henny Jahnn …, geht’s mir genauso, seit ich 1959 zu lesen beginne, als ich noch gar nicht lesen kann).
Wie in allen Büchern Brinkmanns vermittelt es sich auch in Westwärts 1 & 2 : Schreiben ist Handwerk plus eigener Sumpf, das eine ohne das andere ist nichts, lese ich bei Bodo Kirchhoff und denke: Aber wehe, die beiden Kräfte kommen beim Richtigen zusammen, dann bin ich als Leser nicht – mehr – zu – r/e/t/t/e/n. Am 9. und 10. Februar 2015 tue ich also nichts anderes als am 9. und 10. April 2005: Weitestgehend darauf verzichtend, körperliche Nahrung aufzunehmen, verleibe ich mir erneut dieses weltumspannende, weltschöpfende, weltverwandelnde Buch ein.
» Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschenden Konventionen «
Die am 23. April 2005 veröffentlichte vollständige Ausgabe des Wörtervulkans Westwärts 1 & 2 ist mehr als ›bloß‹ Gedichtbuch: Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschenden Konventionen, und kann ebenso gut als ein zusammenhängendes Prosabuch, Gedichtbuch wie Essaybuch gelesen werden, wie Brinkmann den poetisch-narrativen Charakter von Westwärts umschreibt, auf dessen zugleich epische Struktur Roberto Di Bella vollkommen zurecht vehement verweist. Und: ›Bilderbuch‹ möchte ich hinzufügen, denn da sind auch noch die zahlreichen zum Dialog auffordernden Photos bzw. Photomontagen als wesentliche Bestandteile des Ganzen ›wahrzunehmen‹. 25 der 26 wieder eingefügten Gedichte sind bis dahin nicht veröffentlicht, vom nahezu 90seitigen Nachwort mit über absatzlose Seiten mäandernden Reihungen erscheint lediglich ein kurzer Auszug im Literaturmagazin 5/1976. – – – Nach dem Lesen setzt sich eine Grille im Kopf fest, die so heftig zirpt, daß die vier Freunde es nicht überhören können: Dieses ›ursprüngliche‹ Gedichtbuch Westwärts 1 & 2 gehört zu meinem Top Dutzend deutschsprachiger Gedichtbücher aller Zeiten.
Es tut der gewaltigen (Sog-)Wirkung dieses von einem wortbildbesessenen Erneuerer – in Köln, in Rom und Olevano sowie in Austin/Texas – reflektiert unkontrolliert geschriebenen Buchs keinerlei Abbruch, wenn Kraus unmittelbar anmerkt, daß eine Handvoll der 26 wiedereingefügten Gedichte nicht durchgängig die Dynamik habe, für die Brinkmann, bei aller sehr bewußt thematisierten, programmatischen Alltäglichkeit und Banalität – Man muß Gedichte aus ihrem Begriff ›Gedichte‹ befreien, um zu einem Gedicht zu kommen – doch so zuverlässig garantiere, schließlich habe der Autor sie 1975 selbst (wenn auch widerstrebend) aus dem Manuskript genommen. Muß denn jedes Gedicht dynamisch sein? mault Bensch, und wie so oft trifft er mit der simplen Frage den Nagel auf den Kopf, worauf Kraus bloß noch meint, er meine ja bloß, und schon kann’s weitergehen: Denn Schattenmorellen ins Spiel zu bringen brennt mir jetzt einfach auf die Nägel. Schattenmorellen ist eins der 26 ›neuen‹ Gedichten in Westwärts 1 & 2, 1990 in dem zum 50. Geburtstag herausgegebenen Katalog des Bremer Antiquariats Seinsoth abgedruckt, und es ist ein Gedicht, das wir drei einfach bloß herrlich beglückend finden:
Schattenmorellen
entzückten mich, als ich heute
durch die graue, nasse Straße
ging, unter den vielen Gesichtern
frisch und klar, mehr als das
Problem des Unendlichen
kurz vor halb sieben,
Ladenschluß. Ich sagte, »Friede!«
und ging in den Laden, kaufte
anderthalb Pfund Schattenmorellen.
Die Unendlichkeit ist teurer,
160 Seiten, 10,80 DM,
Originalausgabe, und nicht
halb so gut. Ich gehe über
eine Brücke und spucke
einen Schattenmorellenkern
aus, was genau wie Frieden ist.
Es gibt Schattenverfahren, Schatten
Vögel, Schattenwickler, Schattenspiele
und Schattenboxen, es gibt Schatten
Probe und Schattenrisse, es gibt
Schattenpflanzen, Schwachlicht
Pflanzen, Schattenregierungen
und Schattenlitze, es gibt
Schattengewebe und Schatten
Industrie, Schattenkabinette
und gemeine Schatten, den
dunklen Raum hinter einem
beleuchteten, undurchsichtigen
Körper, es gibt das Schattenbild
von Göthe und Fritz von Stein
und die Schattenmorellen in
der Papiertüte, es gibt Hare
Krishna und Kernspaltung.
Das war der Moment, als
die Straße aufhörte. Ich
sah auf die Schattenmorellen
in der Hand. Der Friede
ist so einfach wie das Entzücken
und Schattenmorellen.
»Man muß Gedichte aus ihrem Begriff ›Gedichte‹ befreien, um zu einem Gedicht zu kommen«
Westwärts 1 & 2 ist ein anarchisch brennender, monumentaler, überschäumender, ineinander verzahnter, literarische Genres verschmelzender (anti-)poetischer Kosmos, hirnflora und herzfauna (aus einem Gedicht von Henryk Gericke), manchmal ein wüster, alltäglicher Albtraum mit Sonnenblumen und toten Tieren und Gärten, klar und kühl, der mich mit aggressiv zwischen verschiedensten (imexplodierenden) ›Realitäts‹- und Traumwelten hin- und herspringenden, ätzend, blau, brutal, dynamisch, frivol, humorig, ›hymnisch‹, kämpferisch, liedhaft, obszön, sensiblen, still, weich, zärtlich tönenden, an Oberfläche orientierten, offenporig, doppelbödig gebauten, immer wieder mehrspaltig gesetzten, sich über etliche Seiten hinziehenden, simultan auf mich einstürzende, unentwegt überflutende wahnhafte Sinneseindrücke auch visuell sichtbar machenden Gedichten, agilen Anaphern, bildhafter Ballade, idiosynkratischen Infragestellungen, katachresischen Katalogen, leidenschaftlichen Litaneien, lichtvoll-luftigen Leerzeilen, momentanen Fantasien, narrativen Notaten, parodistisch-persiflierenden (Parallel-)Passagen, ›phantastischen‹ Photomontagen, rasanten raumgreifenden Reihungen, sinnlichen Snapshots, seriellen Sequenzen, zynischen Zerrbildern, Fenster-, Türen-, Wolken-Versen, filmartig geschnittenen kaskadischen Wort-, Gedankenergüssen voll von Farben, Geräuschen, Gerüchen, Empfindungen, unerhört temperamentvollen BergTalFahrten des nicht enden wollenden unkontrollierten Nachworts in einen Leserausch voller ›befreiender‹ Überraschungsmomente versetzt, in dem ich, im wortwährenden Nahkampf mit den Bildern, die ich (mir) von jenem schreibenden Individuum mache, in einem Moment bei mir, im andren außer mir bin. Brinkmann macht ›notgedrungen‹ weiter, weiter, jede desillusionierende Erfahrung stachelt ihn offenbar weiter an: Ein Gedicht (lakonisches ›Logbuch‹) öffnet die Tür zum nächsten nächsten nächsten Gedicht, in dem es weiterweiterweitergeht – bis es auf einmal ›einfach‹ aufhört – denn
»nach einem Gedicht beginnt das Niemandsland « :
Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden. / In diesem Gedicht gibts keine Bäume. / Kein Zimmer zum Hineingehen und Schlafen / ist hier in dem Gedicht. / Keine Farbe kannst du in diesem // Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind / in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht / hier zum Anfassen. Es gibt keine Gerüche hier in / diesem Gedicht. Keiner braucht über einen Zaun // oder über eine Mauer in diesem Gedicht zu klettern. / Es gibt in diesem Gedicht hier nichts zu fühlen. / Das Gedicht hier kannst du nicht überziehen. / Es ist nicht aus Gummi. Kein weißer Schatten // ist in dem Gedicht hier. Kein Mensch kommt / hier in diesem Gedicht von einer Reise zurück. / Kein Mensch kommt in diesem Gedicht hier atemlos / die Treppe herauf. Das Gedicht hier macht keine // Versprechungen. In dem Gedicht stirbt auch keiner. / In diesem Gedicht spürst du keinen Hauch. Es gibt / keinen Laut der Freude in dem Gedicht hier. Kein / Mensch ist in dem Gedicht hier verzweifelt. Hier // in dem Gedicht ist es ganz still. Niemand / klagt in diesem Gedicht. Niemand redet hier / in dem Gedicht. Hier in diesem Gedicht schlagen / sich auch keine Arbeiter wund. Das Gedicht hier // steht einfach nur hier. Es enthält keine Schlüssel / zum Aufschließen von Türen. Es gibt keine Türen / in diesem Gedicht. Das Gedicht hier ist ohne / Musik. Es singt keiner in diesem Gedicht, und // keiner macht hier in diesem Gedicht jemanden / nach. Keiner schreit hier in dem Gedicht, flucht, / fickt, ißt und nimmt ein Rauschmittel. Es gibt in / diesem Gedicht keine bombastische Ausstattung // für dich. Das Gedicht hier geht nicht, liegt nicht, / schläft nicht, es kennt keinen Tag, es kennt keine / Nacht. Du brauchst hier in diesem Gedicht keine / Rechnungen zu bezahlen. Es gibt keinen Hausbesitzer // in dem Gedicht hier, der die Miete erhöht. Es gibt / keine Firmen in diesem Gedicht. Es gibt in dem / Gedicht keinen Staat Kalifornien. Es gibt kein / Oregano in dem Gedicht. In diesem Gedicht gibt’s // kein Meer. Du kannst in dem Gedicht hier nicht / schwimmen. Das Gedicht, das hier steht, enthält keine / Wärme, das Gedicht enthält keine Kälte. Das Gedicht / hier ist nicht schwarz, es hat keine Fenster und // kennt keine Angst. Das Gedicht hier zittert / nicht. Das Gedicht hier ist ohne Spiegel. In diesem / Gedicht gibts auch kein Spiegelei. Einen Supermarkt / gibt es hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht, // das du hier liest, hat keine Titten und keine Fotze, / das Gedicht hier ist völlig körperlos. Keiner stöhnt / hier in dem Gedicht. Das Gedicht blutet nicht, es / verschweigt nichts, das Gedicht hat keine Regel, // das Gedicht ist kein Zitat, für keinen. Hier in / diesem Gedicht findet niemand einen Pfennig, / und hier in diesem Gedicht fährt kein Mensch mit / einem Auto. Keine Reifen quietschen um die Ecke. // In diesem Gedicht lutscht niemand zärtlich an / einem Schwanz. Es gibt hier in dem Gedicht keine / Lampen. Das Gedicht ist kein gelber Schal. Das / Gedicht, auf das du hier schaust, hustet nicht. // Hier in dem Gedicht kannst du nicht küssen. / Hier in diesem Gedicht wird auch nicht gepißt. Du / kannst mit diesem Gedicht nichts anfangen. Das / Gedicht besteht aus lauter Verneinungen. Die // Verneinungen in diesem Gedicht werden immer mehr. / Hier gibts keinen Kiff in dem Gedicht. In diesem / Gedicht lacht kein Mensch. Das Gedicht kennt keine / Arbeit. Niemand sieht in diesem Gedicht Fernsehen. // Das Gedicht trägt keine Uhr. Das Gedicht ist nicht / zeitlos. Es braucht soviel Zeit, wie du brauchst, / um das Gedicht hier zu lesen. Kein Wasserhahn / tropft in dem Gedicht hier, und keiner verlangt //in dem Gedicht hier nach Zigaretten. Hier das / Gedicht gibt kein Trinkgeld. Keine Toilette ist / hier in dem Gedicht. Es gibt keine Stadt in diesem / Gedicht. Hier in dem Gedicht wäscht keiner sich die // Füße. In die Schule zu gehen, ist hier in dem Gedicht / nicht nötig. In dem Gedicht leckt auch keiner eine / Möse. Dein Geschlechtsteil richtet sich hier in / dem Gedicht nicht auf. Du kannst hier in dem Gedicht // dich nicht hinsetzen und denken. Das Gedicht hier / ist nicht der Staat. Es ist nicht die Gesellschaft. / Es ist kein Flipperautomat. Das Gedicht hier hat / keinen Hund. Mit diesem Gedicht kann sich keiner / identifizieren. Keine Polizisten fahren in diesem / Gedicht herum und suchen nach einem Bruch. Eine Kuh / liegt hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht hier / ist nicht gedankenlos. Das Gedicht hier ist nicht // gedankenvoll. In dem Gedicht erscheint auch kein / Sommertag. Es ist niemals Dienstag in diesem Gedicht, / es gibt keinen Mittwoch in diesem Gedicht, es herrscht / nicht Freitag in diesem Gedicht und kein Donnerstag // fehlt in dem Gedicht hier. Es ist nicht Montag, / Samstag und Sonntag in hier dem Gedicht. Das Gedicht / hier ist nicht die Verneinung von Montag oder / Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf.
»Ein Lied zu singen / mit nichts als der Absicht, / ein Lied zu singen«
Westwärts 1 & 2 ist das Gedichtbuch nach 2000. (Wobei ich auf Mayröckers dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif ebensowenig verzichten will wie auf Pastiors durch – und zurück, Böhmers Kaddish, Walter Helmut Fritz’ Gedichte ∙ Prosagedichte, Thomas Klings Gesammelte Gedichte,Jürgen Beckers … Weiteres hierzu vermittelt das in poet 18 abgedruckte Gespräch, das ich im Herbst 2015 mit Hans Bender zum Thema Lesen geführt habe.) Aber jetzt geht es um nichts als Brinkmanns Westwärts 1 & 2, und ich halte fest: Mancher Weg mag nach Rom führen (oder sonst wohin), an Westwärts 1 & 2 führt kein Weg vorbei. Wer im Lyrikdiskurs mitredet, ohne dieses Gedichtbuch zu lesen, der soll halt weiter mitreden. Geredet wird ja viel, wie man gelegentlich hört. Ich kann da nicht mitreden. Bist du nicht alt genug zu schweigen? (heißt es in Joseph Roths Roman Hiob …)
Im Sommer 2005 erscheint in der von Karl-Friedrich Hacker in Itzehoe betriebenen edition bauwagen ein weiterer handgeschriebener Sammelband mit originalen Handschriften. Das sechste Künstlerbuch der Reihe trägt den Titel In ein anderes Blau – ich habe es im Gedenken an Brinkmann ediert. Das Gedicht aus Westwärts 1 & 2 mit den legendären Schlußversen Ich gehe in ein / anderes Blau schwebt durch das Buch in dieser, jener künstlerisch, literarisch anverwandelten Form. So hat Hacker es in Kunst umgewandelt, Ingrid van Biesen zum Teil ins Gedicht montiert. So kommt Gedicht zu Gedicht und dokumentiert die Lebendigkeit, mit der Brinkmanns Wörter sich weiterhin in den Köpfen von Autoren, Künstlern, Literaturwissenschaftlern (ganz zu schweigen von der großen Mehrheit anonymer Leser) tummeln, wovon nicht bloß der Namenkatalog weiter unten beredt Zeugnis abliefert.
»… das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«
Jedermann kann sich leicht errechnen, was alles auf diesen wenigen Schreibmaschinenenseiten unterschlagen werden muß. Das Ganze ist sozusagen eine einzige Lüge des Verschweigens, die nur darum für Wahrheit genommen werden darf, weil es Vollständigkeit im Beschreiben nicht geben kann. Auch die Wissenschaft treibt es nicht anders. Den Worten Hans Henny Jahnns von 1932 habe ich im Zusammenhang dieses ›Flickenteppichs‹ nichts hinzuzufügen. Im Fall von Roberto Di Bellas im Januar 2015 erschienener Monographie »… das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums« ∙ Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt ist das allerdings ›ein wenig‹ anders … 671 großformatige Seiten, die in die Tiefe durch doppelte Böden bohren, die nach oben in ein / anderes Blau aufsteigen, die nach links – von den Vorort / Straßen bis in die Innenstadt gehen und nach rechts, wo die Kadaver toter Fliegen am Fensterglas kleben, Ausschau halten. Dieses gleichsam ›nichts verschweigende‹ Buch ist eine von stupendem Kenntnisreichtum, von feinsinniger Interpretationskunst getragene ›Revision‹ von Brinkmanns verändertem Umgang mit dem Material der Pop(ulär)-Kultur nach 1970, im dreifachen Sinn von Wiederholung, Korrektur und (intensivierter) erneuerter Verbildlichung, wofür die Di Bella den zusammenfassenden Begriff Re-Vision er/findet.
Hier werden Blicke auf Brinkmann möglich, wie bloß der Wanderer als stummer Betrachter sie hat, der von den höchsten Höhen über alle Gipfel, über alle Wipfel schauen und schauen und schauen kann: Kostenloses Kino, Breitwand, Panoramablick, Vista-Vision, besser als Kino war das hier, live! In fünf Teilen – in denen anhand von Begriffen wie Allegorie, Destruktion/Konstruktion, Erstarrung/Bewegung, Komplementarität/Kontrast, Unfälle/Zufälle die beiden ›works in progress‹ Schnitte und Westwärts 1 & 2 analysiert sowie in Bezug zueinander gesetzt werden: Nur so werden »Schnitte« wie »Westwärts 1 & 2« lesbar als in sich schlüssige Verkörperungen eines zwar strukturell offenen, doch deshalb nicht minder zielgerichteten poet(h)ischen Projektes, das an den alten avantgardistischen Traum anzuknüpfen scheint, Leben und Kunst zusammenzuführen – arbeitet Roberto Di Bella heraus, daß das gesamte nach 1970 entstandene Werk – einschließlich Westwärts 1 & 2 – dem einen großen Ziel diente: dem Roman einer Generation. – Was für ein Geschenk des einen RDB an den andren RDB, zumal im Jahr 2015, in dem Rolf Dieter Brinkmann 75 Jahre alt geworden wäre und wir seiner, auch anläßlich des 40. Todestags, wie in diesen Tagen 2020 ganz besonders gedenken. Mein Freund Bernhard Bensch, Architekt ohne Arbeit, hat die monumentale Monographie unmittelbar nach mir gelesen, auf diese Weise einen Zugang zum Werk Brinkmanns gefunden, der ihm so bislang verwehrt war.
»Ach, gehen Sie mir weg mit Ihren Wörtern!«
Wieder geht’s fünfzehn Jahre zurück (was sind schon fünfzehn Jahre?): Ein Paketdienst bringt kurz vor Ostern 2005 die Rolf-Dieter-Brinkmann-Audio-Editionen Wörter Sex Schnitt (der akustische Nachlaß als Erstveröffentlichung – spoken word – Lesung – Tonbandexperiment; aufgenommen in Köln von Oktober bis Dezember 1973 und dort 30 Jahre lang konserviert, 5 CDs und 60 Seiten Booklet; Gesamtlaufzeit 360 min 40 sec; herausgegeben von Herbert Kapfer und Katarina Agathos unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann; intermedium records, Erding 2005) und The Last One (die Lesungen Brinkmanns beim Cambridge Poetry Festival 1975, Gesamtlaufzeit 60 Minuten, unter derselben Herausgeberschaft ebenfalls bei intermedium records erschienen). Wahnsinn – über 400 Minuten Brinkmann live.
Tagelang läuft nichts anderes.
Immer wieder spüre ich das Herz wie verrückt klopfen, immer wieder laufen mir Schauer den Rücken herunter – je nachdem, welche Stimmung diese Stimm ins Wohnzimmer transportiert. An Karfreitag 2005 lauschen Axel Kutsch und ich gemeinsam dem von Brinkmann in Cambridge rezitierten Gedicht Rolltreppen im August, dessen Panik – Panik – Panik direkt ins Hirn schießt. Schon die lakonisch auf englisch gesprochenen einleitenden Wörter ziehen mich magisch an. Brinkmann macht die Absicht, Gedichte vom Olymp in die Seitenstraßen zu holen und so einfach wie Songs sein zu lassen, kurz u. knapp deutlich: The beautiful simplicity is a dream. Zwei Lesungen hat Brinkmann am 19./20. April 1975 in Cambridge: die eine mit John Ashbery, die andere mit Erich Fried, Michael Hamburger, Jürgen Theobaldy. Einmal hämmert Brinkmanns Stimm blechern, beinah bedrohlich, ein anderes Mal dringt sie sanft, geradezu zärtlich ans Ohr, einmal spricht der Mensch ganz ruhig, ja, zurückhaltend, dann wieder auffordernd, suggestiv. Mich überrascht das nicht. Ich weiß, seit ich Brinkmann lese (und das ganze Werk bestätigt es), wie er die Klaviatur der inneren Tonarten beherrscht: Rolf Dieter Brinkmann ist ein empfindsamer Mensch, der sich auf jede Situation einstellt und nicht monoton Dasein ›herunterspult‹. Daß Brinkmann mehr ist als ein ›Dichter‹, diese Aufnahmen beweisen es. Im umfangreichen Booklet zu Wörter Sex Schnitt heißt es:
Betrachtet man Brinkmanns Gesamtwerk, stimmt man seiner Selbsteinschätzung zu: Ich bin kein Dichter. Er ist kein Dichter, eher ein multimedialer Chronist, dessen Zugriff auf die eigene Gegenwart immer der Versuch möglichst detailgetreuer Wiedergabe direkter und nicht durch Vermittlungsanstrengungen verfälschter Sinneseindrücke war.
Jan Röhnert erlebt die CDs zeitgleich im fernen Jena. Ob ostwärts, ob westwärts lebend, Brinkmanns Stimm verbindet. Am Nachmittag des 1. April 2005 erreicht mich die E-Mail, in der er fragt:
Geht es dir ähnlich mit den Brinkmann-Aufnahmen? Sie sind viel weniger aggressiv, als ich erwartet hätte, sehr zärtlich bisweilen, sehr nachdenklich, sehr reflektiert – und es ist eine Stimme, die ich sehr gern höre, eine weiche, feminine Stimme. Ich habe mir in freien Minuten die Sachen auszugsweise immer wieder angehört – dieser Hunger, diese Suche nach Schönheit, Freude steckt an, ich fühle mich da hineingezogen: Das Tonband erweist sich so als das adäquateste Medium, seinem Bedürfnis nach Gegenwart Ausdruck zu verleihen. Und diese Gegenwart überträgt sich auf den Hörer, er wird Teil von ihr.
Egal, ob’s nun die Aufnahmen der Cambridge-Lesungen von 1975 sind oder die (unter deutschen Autoren wahrscheinlich einmaligen) Tonbandprotokolle, die von Oktober bis Dezember 1973 in der Kölner Wohnung und der Innenstadt mit den Seitenstraßen, die er, ›naturgemäß‹, immer wieder in Verse montiert, entstehen: Man rechne beim Hören mit ›allem‹ – Formen, Motiven, Themen sind keine Grenzen gesetzt; ich höre Brinkmanns monologisch sprechen, in der Wohnung flüstern, nachts draußen laut rufen, auf Mülltonnen schlagen, Lautpoesie, Telefonaktionen, Interviews machen, Postkarten lesen, Kommentare abgeben, erleb den am 23. April 1975 verstorbenen Brinkmann in einer Intensität, Sensibilität und Vitalität, die mich in ihren verschiedensten Tonarten nicht bloß mitreißt, sondern im Innersten trifft.
»Sundays kill more men than bombs«
Ist dem sprachkritischen Brinkmann, der der von den Faschisten gleichsam endgültig versauten Sprache so genau aufs Maul schaut, der diese fiese Sprache nicht will und für die ›andre‹ Sprache, in der er ›leben‹ kann, mit guten, klaren Wörtern beißt, kämpft, ringt, der die BRD so ablehnt, haßt, bewußt, daß die Initialen seines Namens und die der Republik identisch sind, RDB sich ›anagrammatisch‹ mit einer ›Gestalt‹ (›Gewalt‹) verbindet, von der er nichts als Abstand haben will? Das Schicksal hat es in mancherlei Hinsicht nicht gut gemeint mit Brinkmann, dessen Spuren ich seit 1975 unbewußt und seit 1986 mehr und mehr und sehr bewußt gefolgt bin. Im Sommer 1975 – wenige Monat also nach Brinkmanns Unfalltod – halte ich mich erstmals zwei Wochen lang in London auf, ohne Ahnung von jenem jungen deutschen Autor, den mir weder Deutschlehrer noch Dozenten der Kölner Universität (wo er 1969 auf Einladung von Walter Hinck liest) nahebringen.
Am 2. Februar 2002, einem sonnigen Sonntag mit viel Schnee, lese ich Jan Röhnerts Monographie Meine erstaunliche Fremdheit! Zur poetischen Topographie des Fremden am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns Reiselyrik (2003), ich sehe alle möglichen Bilder vor mir, die ich seit 1975 bewußt oder unbewußt aufgenommen hab, mir gehen alle möglichen Einfälle durch den Kopf, die ich seit 1986, Rolf Dieter Brinkmanns eingedenk, ersonnen, aufgeschrieben hab. Wie die meisten Menschen haßt auch Brinkmann den Sonntag – Sundays kill more men than bombs, ächzt/ätzt Charles Bukowski –, und auch ich hasse den Sonntag, aber jener Sonntag ist, somehow, gar kein so schlimmer Sonntag mit dem Buch von Jan Röhnert, in dem ich lesend durch Jahrzehnte und Kontinente reise und in dem Brinkmanns Bücher wunderbar gegenwärtig sind.
»Thema des Gedichts ist das Gedicht selber« (Adorno)
Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter (wenn auch nach 2000 phasenweise leicht rückläufig, wie man liest), Brinkmann macht weiter, die Arbeiter machen weiter, Jan Röhnert macht weiter, schreibt ein weiteres Buch, das 2007 unter dem Titel Springende Gedanken und flackernde Bilder ∙ Lyrik im Zeitalter der Kinematographie ∙ Cendrars | Ashbery | Brinkmann erscheint und in dem er, beispielsweise, über Vanille schreibt, dieses grandiose Gedicht, dieses legendäre Langgedicht, diese monumentale Montage, diesen wahrhaftigen Wurf, der überquillt von Alltagsmaterial wie Tageszeitung, Illustrierte, Gebrauchsanweisungen, Comics, Gesprächen, Gedichten anderer, Briefen, Filmen, Fotos, Beobachtungen, Tagträumen … und auch ich mache weiter und freu mich über die Vielzahl von (oft jungen) Menschen, denen Brinkmann noch so viel zu sagen hat.
Mit leicht hochgezogenen Augenbrauen lese ich also in Matthias Altenburgs Langweiler Irgendwie alles Sex (2002): Die ganz Jungen, höre ich jetzt, interessieren sich schon überhaupt nicht mehr für Brinkmann, finden ihn antiquiert. Am 2. Mai 2003 veranstaltet die Stadtbücherei Heinsberg (bei Aachen) einen Rolf-Dieter-Brinkmann-Abend, an dem ich ein paar unkontrollierte Wörter zu RDB verlier. Gleichzeitig zeigt Jürgen Völkert-Marten, der Brinkmann-Sammler, einige Exponate aus einer lückenlosen RDB-Sammlung (die er vor einigen Jahren dem Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf überlassen hat). Axel Kutsch, Andreas Noga, Gerd Sonntag und Maximilian Zander gehören zur jungen Gästeschar, die mit dafür sorgt, daß ein lebendiger Abend im Gedenken Rolf Dieter Brinkmanns erst weit nach Mitternacht endet.
»… kann ich mir hier nicht denken …«
Von 1970 bis 1975 schreibt Brinkmann die Westwärts-Gedichte (in vollkommen andrer Art als die Gedichte der 60 Jahre), tippt unzählige, lange, lange Briefe an Hartmut (in Amerika), die einen ganzen Band füllen, der 1999 erscheint: Diese Offenheit, diesen unverstellten Blick, unverstellt von Ideologie, Gedankenmustern, Absichten, Zielen, Pflichten, Moral usw. kann ich mir hier nicht denken, sie ist nicht da, dieses winzige Stückchen mehr an Freiheit. Statt dessen herrscht eine Ideologie und ein Gedankenterror und ein blindmachendes Abstrahieren, das von Gedanken ausgeht und immer weiter abstrakt Gedanken produziert – dabei geht alle Sinnlichkeit verloren, bereitet in Form von ›Materialbüchern‹ ein Opus Magnumvor, das als fiktive Autobiographie, Grundlagenforschung der Gegenwart, Roman einer Generation, wie Brinkmann die ›Vision‹, als Ausdruck eines noch unverwirklichten Sprach(t)raums, wie Roberto Di Bella die ›Utopie‹ umschreibt, vielleicht noch hinausgelangen will über das, was ihn, zum Beispiel, an William S. Burroughs’ Naked Lunch, Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht, Blaise Cendrars’ Moravagine, Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer, Jean Pauls Die unsichtbare Loge, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser : Warum will ich meine Herkunft nicht akzeptieren? Weil sie voller Drohungen und Schmerzen ist, Arno Schmidts Zettels Traum, Claude Simons Akazie fasziniert. Will Brinkmann, wie beispielsweis James Joyce in Finnegans Wake, die Vorstellung von ›Wort‹, ›Roman‹, ›Literatur‹ total auseinandersprengen? Will er die auch und besonders jenseits der Wörter wirkende Bildwelt schaffen, die alles umfaßt, was ›Leben‹ bedeutet- wo ist das – – – ›Leben‹? Cross the border – close the gap, liest er bei Leslie A. Fiedler. Oder ist doch das zwischen Buchdeckel gebundene vorgefundene, erfundene WortBildBildWort-›Material‹ bereits – als fragments from Work in Progress (James Joyce) – das Werk? ((Ist das hier schon der Roman, den ich schreiben will?? Nein, […] weil ich mich noch viel zu wenig auf die Fiktion in den sogenannten Fakten einlasse!!))//
»Ramsch der Realität«
Brinkmann geht’s nicht um akademisch grundierte Formfragen, ob Erzählung, Gedicht, Essay, Cut-up, Montage, Collage, Brief, Photo stimmige Ausdrucksmöglichkeiten seien, Inhalt, Motiv, Phänomen, Stoff, Thema, Topos usw. in Verse, Zeile, Montage usw. zu bannen, in ›Literatur‹ zu transformieren, lieber geht er der Frage nach, was ›Leben‹ sei, was ›Literatur‹ sei, was ›Sprache‹ sei, was ›Kommunikation‹ sei – oder wie Leben und Literatur und Sprache und Kommunikation als simultan gelebtes wahrhaftiges Menschsein – unbedingt dargestellt als wechselseitige Durchdringung von Bewußtsein und passiver Aufnahme, von Gegenwart und Erinnerung – möglich seien, in dem man seine blauen Wunder erlebt – naturgemäß so oder so, wie es vieldeutig in Axel Kutschs Gedicht Anleitung heißt. Und das nicht in possierlichen, Ansichten wie Pingpong hin- und herspielenden Seminarsitzungen, bei denen man auseinandergeht, als wäre nichts gewesen, sondern in aufs Ganze gehenden, energie- und schlafraubenden, schweißtreibenden, hochkonzentrierten, rauschhaften, entgrenzenden, Bewußtseinserweiterung, Euphorie auslösenden Marathons an Schreibtisch und Schreibmaschine. Die eigne Existenz hemmungslos, total einbeziehend, Familie, Umfeld in keiner Weise schonend, wird ›Tatort‹ zum ›Tatwort‹ transmutiert (Roland Barthes).
So lebt der wolkenkratzerhochsensible, aber auch sehr verletzliche Brinkmann – abrückend, allegorisierend, anfangend, assoziierend, aufbegehrend, aufbrechend, bekämpfend, beschleunigend, betrachtend : Andy Warhol, March 15th through April 3rd, eine kolorierte Porträtaufnahme von Star Liz Taylor, bewertend, collagierend, denkend, denkend, denkend, entdeckend, erkundend, erweiternd, de-/fragmentierend, fiktionalisierend, fortschreitend, fühlend, gehend, gehend, gehend, hinterfragend, historisierend, hoffend, hörend, inventarisierend, ironisierend, imaginierend, irrend, jonglierend, karikierend, kombinierend, kontrollierend, konzentrierend, kritisierend, lamentierend, lauschend : und nun habe ich eine andere Platte der Doors aufgelegt: Strange Days, lesend, lesend : Donald Barthelmes Komm zurück, Dr. Caligari, lesend, monierend, montierend, notierend, nuancierend, öffnend, opponierend, parodisierend, (anti-)poetisierend, polarisierend, phantasierend, photographierend, polemisierend, präzisierend, provozierend, querulierend, reflektierend, rekonstruierend, rotierend, sammelnd, schäumend, schrei(b)end : Mir geht es beim Schreiben nicht um Literatur …, schreibend : Eine zersplitterte Perspektive ist das …, schreibend: Auf einmal ist nun alles still …, sehnend, suchend, trauernd, träumend, überschreitend, utopisierend, verletzend, verneinend, wahrnehmend, weitermachend, wütend, zerbrechend, zerschneidend, zersprengend, zitierend, zweifelnd – in der Literatur, füllt Literatur mit Leben in einer dissonanten Gegenwart (Jan Röhnert), ergänzt, erneuert, erweitert den Literaturbegriff und ist, leidenschaftlich, entschlossen, zielbewußt, mit Alain Robbe-Grillets Weg mit den alten Mythen der Tiefe als Navi-App, auf dem weiten Weg zum roman futur.
»Mehr Gegenwart« : »the mere presence / changes everything«
Besonders nach 1970 ›versucht‹ Brinkmann dieses Leben mit mehr Gegenwart (›verwirklicht‹ Leben, indem er es fiktionalisiert), inmitten/jenseits einer künstlichen, trivialisierten, verkitschten, widerspruchstollen Welt, die er nicht nach-, sondern neubilden will: Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen darf, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen der Vergangenheit gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein Neues, Besseres zu schaffen. (Giordano Bruno) – mehr als je zuvor, materielle Armut, Isolation zähneknirschend/wutschnaubend ›in Kauf nehmend‹. Er zerreißt (sich), um auf dem Kunstweg, alles, alles, ALLES, was er aufnimmt, auf ihn einstürzt, ob Tabu, Tal, Tatort, Tatsache, Tanz, Teller, Text, Theorie, Tieck, Tischbein, Tod, Trash, Trauer, Traum, mehrere flüchtende Tiere, Triviales, Trostlosigkeit, Trümmer, umgehend – Stückchen für Stückchen ›verarbeitend‹, zu sich zu finden, Leben und Welt ›wahrzunehmen‹, ›alles‹ neu, sprich: sichtbar zu machen. Nur so kann Brinkmann existieren, unmittelbare Präsenz erleben, nur so kann Brinkmann sein – Leben, Literatur (wenn es diese Phänomene denn gibt) können für ihn bloß ein und dasselbe sein. Er ist kein lügender Dichter, wie Nietzsches Zarathustra ihn beschreibt. Wohler fühlt er sich als Bewohner von Susan Sontags 1964 eröffnetem Camp : Camp taste is, above all, a mode of enjoyment, of appreciation – not judgment. Camp is generous. It wants to enjoy. It only seems like malice, cynicism. (Or, if it is cynicism, it’s not a ruthless but a sweet cynicism.) Das klingt schon eher nach Brinkmanns Vorstellung von Leben, die eben ›Leben‹ bedeutet (und nicht ›Formblatt‹ oder ›Bürokratie‹ oder ›Gesetzgebung‹ oder ›Verordnung‹ oder ›Ziviehlisation‹ oder: ›man‹). Unmittelbar erlebtes Leben heißt – in one word: ich. The mere presence / changes everything, ›weiß‹ er von Frank O’Hara, und bei Arthur Rimbaud liest: Je est un autre.) Einmal und nie wieder. Leben – und somit Literatur – ist: anarchisch, banal, blau, chaotisch, dicht, energiegeladen, futuristisch, groß, himmlisch, intensiv, jokular, kapriziös, lebendig, musikalisch, nervenkitzelnd, omnipräsent, praktisch, qualvoll, radikal, sinnlich, total, universal, verwegen, xenophil, yberwältigend, wundervoll, zufällig.
»Ölfleck auf dem Asphalt«
In Bert Brunes Roman So weit, daß du die Träume lebst (1989) erlebe ich einen Menschen, der wie Brinkmann viel Zeit mit Herumgehn in Kölner Seitenstraßen, mit Beobachten und anschließendem Notieren verbringt. Und plötzlich ist da zu lesen:
Brinkmann, ein Fanatiker von Fakten, wie er sich selbst nannte und es von sich forderte, beschrieb jeden Bauzaun, den Ölfleck auf dem Asphalt vor seiner Haustür – und eben auch die Lokale, Kneipen, die Diskotheken, die er besuchte, sogar die Bordelle in der Kleinen Brinkgasse, und notierte gewissenhaft den Preis für seine Orientzigarettenpackung, und man erfuhr, wieviel der Wein im Wiener Wald am Ring kostete … Brinkmann war allerdings – im Gegensatz zu mir – ein unermüdlicher Hasser seiner Stadt, wohl allgemein jeder Großstadt (…) dieser Dichter gab jedem seiner Leser einen Adrenalinstoß, man sah selbst nun unwillkürlich genauer hin, nahm seine Umgebung intensiver wahr, fühlte sich aufgefordert, selbst zu notieren, zu reflektieren, und alles, was um einen herum geschah, zu registrieren und zu beurteilen.
Brinkmanns Leben, wie ich es hier mir fiktional vorstelle, scheint geprägt von kreativer Lust und – Haß (verkappter Sehnsucht nach Liebe?). Welt, öffentliches Leben sind für Brinkmann schwer bloß zu ertragen. Empfindet er jemals Glück? An der Schreibmaschine, an der er Augenblicke festhält? Etwa wenn er schreibt: Ich finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und dass sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe. In Aufzeichnungen, Briefen, Erinnerungen, Essays, Gedichten, die immer wieder Haß und Sehnsucht ineinander verschlungen offenbaren, vermeine ich den ›Romantiker‹ Brinkmann zu begreifen, der Ideales in der Fern bloß erkennt: Diese Offenheit, diesen unverstellten Blick, unverstellt von Ideologie, Gedankenmustern, Absichten, Zielen, Pflichten, Moral usw. kann ich mir hier nicht denken, sie ist nicht da, dieses winzige Stückchen mehr an Freiheit, schreibt er im langen Brief vom 22. Januar 1975 an den zu jener Zeit in Amerika lebenden Hartmut Schnell; haarscharf, total kritisch nimmt Brinkmann wahr, was unmittelbar um ihn herum geschieht, kommt nie zu einem auch nur annähernd aufmunternden Ergebnis: Statt dessen herrscht eine Ideologie und ein Gedankenterror und ein blindmachendes Abstrahieren, das von Gedanken ausgeht und immer weiter abstrakt Gedanken produziert – dabei geht alle Sinnlichkeit verloren.
»Jedes Wort ist Krieg«
Diese fiese Zerlegung des Todesterritoriums Westdeutschland in unverbundene Einzelteile soll ›Leben‹, soll lesbare ›Gestalt‹ sein? (Arnold J. Toynbee mutmaßt, daß Kulturen unter ungünstigen Bedingungen an sich selbst zugrunde gehn.) Dinge, Phänomene, die gemeinhin ›Apathie‹, ›Armut‹, ›Atomisierung‹, ›Ausbeutung‹, ›Brutalität‹, ›Chaos‹, ›Dumpfheit‹, ›Enge‹, ›Floskel‹, ›Getöse‹, ›Gewalt‹, ›Hysterie‹, ›Klischee‹, ›Kommerz‹, ›Konditionierung‹, ›Kontrolle‹, ›Korruption‹, ›Lüge‹, ›‹Manipulation, ›MassenMedienMacht‹, ›Müll‹, ›Überproduktion‹, ›Unrecht‹, ›Verknöcherung‹, ›Zynismus‹ genannt werden – Begriffe, diese Bewusstseinsparasiten –, sieht Brinkmann hänge in der Luft, in greller Über- und Doppelbelichtung, alle großen, kleinen, physischen, psychischen Einzelteile des ›Lebens‹, der ›Welt‹, der ›Wirklichkeit‹ mit dem inneren Aug total überdimensioniert heranzoomend, als Auswüchs von faschistoidem, kapitalistischem westdeutschen Demokratismus, in dem Konzerne, Medien, Parteien alles, Menschen nach wie vor ›nichts‹ sind. (Was gewisse Politiker schon bald nach der sogenannten ›Stunde Null‹ über Schriftsteller und Künstler, die – unkontrolliert – Sandkörner ins wirtschaftswundersame Getriebe schmeißen, zu sagen wagen und – viel Beifall dafür erhalten, zeigt, wie nötig die Sandwerfer sind.) Marielle Sutherland diagnostiziert:
The recognition of his native culture’s conservatism is extended into an exposure of the native language’s brutalising and brutalised character. In Westwärts, Teil 2, which deals with Brinkmann’s return from America and his consequent sharpened perception of his homeland and its language, he writes: Der Krieg ist nur unsichtbar geworden, and Jedes Wort ist Krieg. War here is the subtext of the German language, a weapon of control by fear and hatred. It manifests for Brinkmann the tyrannical dominance of the signifier over perceptions of reality, suppressing individual experience and its expression.
/// »Alles was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben« ///
/// S/c/h/n/i/t/t/e. /// Maschinengeschriebner Text / Fetzen aus Comic / Film / Photo / Zeitung / Zeitschrift / Zitat aus Literatur, Musik, Werbung, Wissenschaft (und andren zeichenhaften Bruchstücken – winzige, banale Gegenstände) / kühl montierter / ultrahocherhitzter WortBildDialog / SCHNITTE / (verrecktes traumbuch) / Totenbuch /(Momentaufnahmen/: „schönes Tageslicht“, zu weit weg) / MAGIC AND REALITY / cronache de tempo e dello spazio / 158 großformatige / engbeschriebne / teilweise zweidreispaltig / absatzlos dahinjagende Seiten / verfremdete Umbildung eines als erbarmungs- / rücksichtslos / tiefbedrückend / widerwärtig / zersplittert erlebten Lebens / wobei jede (Cut-up)-Collage die letztlich nicht ausschöpfbare Zeichenhaftigkeit (und den Rätselcharakter) der Welt in den Vordergrund stellt (Roberto Di Bella). Harte Arbeit für den Leser / der überdies auf keineswegs sauber gesetzte Seiten trifft / sondern faksimilierte Wiedergaben der maschinengeschriebenen Blätter / die mir mit durchgeixten Wörtern / dauernden Korrekturen (usw.) das Leben / schwermachen. ////// Es geht buchstäblich, wortwörtlich drunter, drüber: Hier wird simultan die Ohnmacht des Individuums vor der gleichsam unendlichen, permanent weiter expandierenden Unordnung der gegenwärtigen Welt und das Abenteuer der kreativen Bewältigung durchschlagskräftig visualisiert: keine Entropie, keine Schlacke, lebendig machen, schreiben, erzählen, ausdrücken, formulieren, Stückchen für Stückchen, weiter machen zu mir hin, dem mir gemäßen Ausdruck, vermerkt Brinkmann in Rom, Blicke. Diese fiese Gespenstershow zu ›lesen‹, zu betrachten, den immer wieder fixierten Blick loszureißen ist aufreibende, kraftraubende Trauerarbeit; der seitenlange, unaufhaltsame, von einer Assoziation zur nächsten rasende Bewußtseinsstrom reißt mich weiter, weiter, den nächsten Abgrund hinab, über das nächste Gedankenriff, zum nächsten Vorort der Seelenhölle, wo es, urplötzlich, grell weiß gleißt, unvermittelt still wird. ////// Mit hemmungsloser ›Begeisterung‹ stelle ich mich diesem unumgänglich Brutalklartext auf die Leinwand werfenden Buch mit seinen immer wieder grotesk wirkenden Collagen, das mir (wie die anderen Materialbücher) auch das ungeheure ›vorbildliche‹ Erkenntnisinteresse eines chronisch bildungshungrigen, sich fortwährend verortenden, verwortenden Menschen geradewegs filmartig vor Augen führt, der sich, gewaltsam alles Aufgedeckte, Vorgefundene z/e/r/s/c/h/n/e/i/d/e/n/d, neu kombinierend, von aller als repressiv empfundenen Tradition löst, um total, ganz u. gar, frei zu sein für das Verfassen dieser untrüglichen Bücher, die, auf dem steinigen Weg zum Ziel des großen Romans, unverstellte Blicke auf das alltägliche Skandalon möglich machen. ////// Bei der Rezeption solcher Art GeschichtsBücher (auch Westwärts 1 & 2 und die andren Materialbücher lese ich als solche) hechle ich, immer wieder mit Nase und Schnauze im Blut, im Dreck, im Großstadtgekröse und -getöse, dicht entlang an der Schweißspur des Lebens; in radikal unbarmherzig wirkender Nahaufnahm wird hier tief ins Fleisch des Phantoms Gegenwart geschnitten, kein Wunder also, wenn ich über viele Seiten hinweg rasend Phantompowerschmerz verspüre. ////// Brinkmann will’s ›wissen‹. Nach 1968 wird das Material Blatt für Blatt sehr bewußt vor- und zubereitet, geschnitten, zerrissen, getippt, collagiert, geklebt, montiert, kynischparodistisch kombikonfiguriert – gemacht. ////// Brinkmann hat sich mehr von den im Mai 1968 in Paris stattfindenden, von mehr als zehn Millionen Menschen unterstützten Aktionen erhofft, die weit über das hinausgehn, was im Berlin jener Zeit passiert. Am Ende stehn die Träumer mit leeren Händen da. Kämpfende Hoffnungsträger wie Rudi Dutschke (den Brinkmann kritisch sieht – wen nicht?), Che Guevara, Martin Luther King lösen sich, wie Jan Palach in Prag, gleichsam in Rauch auf, sind genauso plötzlich von der Bildfläche verschwunden wie, kurze Zeit später bloß, Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison. In Deutschland scheitert eine weitere ›Revolution‹ – wie alle anderen zuvor, aber diesmal nicht bloß in deutschen Landen. Das ›Establishment‹ macht sich in der Folge breit wie eh und je – auch wegen des jahrelangen Bürgerkriegs, den einige von Brinkmanns Zeitgenossen vergeblich führen? //////Vergeblich? Ich will nicht pessimistisch sein. Heißt’s nicht, zum Beispiel, immer wieder, Schriftsteller wären im Prinzip überflüssig in dieser Welt, aber wer weiß das so genau? Jeder Mensch erfüllt eine Mission. Oft unsichtbar, nicht erkennbar, sind auch die scheinbar vergeblichen Kämpf der Wortmacher keineswegs vergeblich: Sie werden weitgehend immerhin ignoriert. So füllen sie ein gesellschaftliches Vakuum, dessen geheime Auswirkung noch nicht erforscht ist. Wenn das ›nichts‹ ist. ////// Brinkmann ist kein ›Dichter‹, der lügt. Stellt sich auch drum nie der ganz große Erfolg ein? Wäre Brinkmann überhaupt bekannt geworden ohne Unterstützung Dieter Wellershoffs, seinerzeit Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch? Müßig ›eigentlich‹, die Frage, die im Raum steht, seit ich sie mit Harald Gröhler, der Brinkmann verschiedentlich begegnet, diskutiert habe. ////// Der per extremer Nahaufnahme gemachte, durch außerordentliche Intensität fesselnde Roman Keiner weiß mehr wird bis heute gelesen, ein Kritiker, der sich vor dem Buch fürchtet, das B. mit einem Maschinengewehr vergleicht, überschlägt sich 1968 (beinah) bei der Lobrede. Hoppla. ////// Ich will, notabene, nicht behaupten, alle ›erfolgreichen‹ Schriftsteller müßten ein Leben führen wie, beispielsweise, Bertolt Brecht (der trotz allem zahlreiche große Gedichte hinterlassen hat). ////// Hier geht’s / ausschließlich / um eine Sicht von Brinkmann – wie ich ihn, fiktional, erlebe, wenn ich die Bücher lese: Es sind immer nur Wörter, Formulierungen. Aber was ist denn da, tatsächlich? Das kann Sprache, Formulierung nicht sagen. / Brinkmann geht keinen Kompromiß ein. / Immer / wieder / macht / er / ›Schnitte‹ — sieht Dinge / tot, leer, erloschen, die / in der Bearbeitung reanimiert / nolens volens zu Sinnbildern werden. ///
»Jetzt bin ich tatsächlich abgeschwirrt«
Gelegentlich wird behauptet, Zu- bzw. Abneigung würden bei der ersten Begegnung innerhalb von Sekunden bestimmt. Wenn dem so ist, weiß ich, weshalb ich das Werk Brinkmanns so liebe. Die Art und Weise, wie Richard Burns (englischer Dichter und Begründer jenes ersten internationalen Cambridge Poetry Festival im Jahre 1975, bei dem Brinkmann zum letzten Mal liest), den ich während eines Arbeitsbesuchs im Sommer 1986 in Cambridge treffe, mir in die Augen blickend sagt: You don’t know Rolf Dieter Brinkmann? Amazing. He’s a fine German poet. A very fine German poet, öffnet mir erstmals Augen, Ohren für die Wörter Brinkmanns. Ich will hier keine übertriebene Vorstellung vermitteln, nein, es ist einfach so gewesen: In jenem Augenblick läuft mir ein Schauer sanft den Rücken herunter. Ich spüre, daß ich in jenen wenigen Sekunden an zwei Dichterleben teilhabe: Es quoll in mir auf, wie etwas Unbestimmtes, Süßes, Liebes und Vergangenes. (Hugo von Hofmannsthal)
Vielleicht wird in jenem Augenblick erst eigentlich der Schreiber in mir geboren. Was auf jeden Fall geboren wird: Ihr nennt es – Liebe? Eine Liebe, die auch mit meiner Vorliebe für die amerikanischen ›Beatniks‹ und deren Nachfolger zu tun hat, die ein wenig immerhin von dem kernigen, halbwegs ehrlichen Amerika retten, das bereits in der Ära McCarthy mehr oder weniger zum Teufel gejagt wird. Es ist Brinkmann, der die amerikanische subkulturelle Literatur der 1960er Jahre nach Deutschland bringt und – gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla – mit der weiterhin lebendigen, unübertroffenen Anthologie Acid ∙ Neue amerikanische Szene (1969) populär macht: Before I sink / Into the big sleep / I want to hear / The Scream / Of the butterfly …
»Sonnenblumen und Schnellzüge, die durch die finsteren Ebenen rasen, erinnern mich an amerikanische Poesie«
Brinkmanns ›nordostsüdwestwärtige‹ Gedichte sind kaum vorstellbar ohne die Vertiefung in die bahnbrechende angloamerikanische Lyrik eines T. S. Eliot : heap of broken images / mixing / memory and desire, Ezra Pound : I lost my center / fighting the world, William Carlos Williams : – Say it, no ideas but in things – / nothing but the blank faces of the houses / and cylindrical trees / bent, forked by preconception and accident – / split, furrowed, creased, mottled, stained – / secret – into the body of the light!, ohne die Berauschung durch die Verse nachdrängender, gleichsam alle Tabus brechenden Autoren, die auf einfache, direkte, obszöne, sinnliche, radikale Art und Weis gängige handelsübliche Formen, Themen, Wörter sprengen, durcheinanderwirbeln.
Runter vom Sockel mit dem Gedicht.
›Alles‹ drängt ›auf einmal‹ ins Gedicht, vor nichts wird haltgemacht. Howl ist in Deutschland bis dahin – undenkbar: Für deutsche Literatur ist der Ofen so ziemlich aus. Gedichte von, beispielsweise, Ted Berrigan, John Giorno, Frank O’Hara, Anne Waldman, – I’m the cataloguing woman – und weiteren Acid-Autoren weisen Brinkmann den Weg zu ›seinen‹, mit alltäglichen (geistigen, gegenständlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, natürlichen, seelischen, sinnlichen, …) ›Accessoires‹ aller Art, Comic, Jukebox, Konservendose und Film-, Musik-, Plakatzitat angereicherten, in alle nur denkbaren Lebensbereiche eindringenden, jede Einzelheit neu entdeckenden Gedichten, deren komplexe Kombinationen mich faszinieren, indem sie nicht/s beschönigen, eben drum ›schön‹ sind, und deren assoziative, anschaulich, bild-, detailreich, genau beschreibende, ambivalent zwischen Extremen schwingende : Zerstörte Landschaft – – – Ich gehe in ein / anderes Blau, wendige, immer wieder wild lodernde, naturgemäß auch antilyrisch fundierte freimetrische Verse – so oder so – kontinuierlich kurzen Prozeß mit mir machen, ich lese, ich werde, schlage Purzelbäume. Hier wird alltäglich Erlebtes hinein in eine b∙u∙c∙h∙s∙t∙ä∙b∙l∙i∙c∙h immer wahrhaftiger wirkende Wortweltgestalt gefeuert, die vor Abgründen, naturgemäß, nicht haltmacht. Raunen findet, natürlich, nicht statt (staunen schon eher, läßt etwa Big Benn hier grüßen?), dafür unverblümtes, klares Sprechen voller Empfindung, Gefühl, Sinnlichkeit, mit aufgerißnen Augen, aufgesperrten Ohren versinke ich in vibrierenden Versen mit wehmütig wirkenden Wörtern:
Gedicht
Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich
mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus
den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem
Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?
Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau.
»Ein Comicbildchen zeigte, wie jemand Zeichen in eine Steinplatte schlug, und eine Fotografie zeigte eine Schreibmaschine«
Vor einiger Zeit macht Karl Otto Conrady mich auf Pop und danach. Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik in ihrem Dilemma aufmerksam, erschienen in der germanistischen Zeitschrift Wirkendes Wort (Jg. 58/2). – Dilemma, denk ich, welches ›Dilemma‹? Das erste Dilemma, das ich erkenne, ist der unreflektierte Zusammenhang, den Autor Dieter Liewerscheidt zwischen ›Pop‹ und Brinkmann fabriziert, worauf ich mit Marco Livingstone antworte: Pop, like most art historical labels, is a convenience for critics and historians but an irrelevance and an irritant for most of the artists to whom it has been supplied. Gleich zu Beginn heißt’s, Brinkmann wäre mehrfach zur Galionsfigur seiner Generation geworden, mittlerweile jedoch aus dem Blickfeld verschwunden: Abgesehen vom Kultstatus in einer kleinen Fangemeinde genießt sein Werk heute den Bekanntheitsgrad eines Geheimtipps. (Hinter Fangemeinde die Fußnote 3, in der es heißt: Besonders distanzlos: Theo Breuer, Was Neues im Westen oder Brinkmann macht weiter, in: Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000.) In einer renommierten Fachzeitschrift wie Wirkendes Wort diese gansfette Ente zu verbreiten ist nicht rühmlich: Man könnte solchen Unsinn ignorieren, wenn er nicht in einem angesehenen Fachblatt für Germanisten publiziert worden wäre und somit zur Meinungsbildung von Menschen beiträgt, die das geistige Niveau junger Leute erheblich mitbestimmen. (Axel Kutsch) Der schier unerklärliche Fauxpas tut Brinkmanns weiterhin weithin wirkenden Wörtern freilich keinen Abbruch: Massenhafte Verbreitung finden einige der Gedichte (darunter ›Die Orangensaftmaschine‹ und ›Einen jener klassischen‹) durch Abdruck und Interpretation in Lesebüchern für den Schulgebrauch. (Gunter Geduldig) Davon abgesehen, daß mein im Zusammenhang mit Literatur generell hemmungslos auf Tuchfühlung bedachter In-Fight-Stil nicht Liewerscheidts Sache zu sein scheint, sprechen die im Anschluß exemplarisch zusammengetragenen Fakten vielleicht für sich. Und wie meint Brinkmann: Man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege …
»Schnitt:Fortsetzung/«
1997 erscheint die von Gunter Geduldig und Claudia Wehebrink besorgte 280seitige Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann, deren Register sich als ›Who is Who‹ deutschsprachiger Gegenwartsliteratur entpuppt. Dieses Werk setze ich gleichsam mit der Liste Meine Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann fort, die seit 1998 viele hundert neue Vermerke birgt. Möglicherweise ist auch nicht jedermann bekannt, wie intensiv die Gedichte Brinkmanns, der westdeutschen Ausnahmeerscheinung, in der DDR (1986 erscheint beim Verlag Volk und Welt der umfangreiche Auswahlband Rolltreppen im August) oder im rumäniendeutschen Banat gelesen werden: RDB war für uns eine große, inspirierende und geradezu verherrlichte Gestalt – Westwärts 1 & 2 hatte fast schon Bibelstatus, schreibtHorst Samson. Jeder, mit dem ich bei drei Lesungen in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre sprech, kennt Brinkmann. Fragen Sie Heiner Müller.
Allein die Auflagenhöhe von Brinkmanns lyrischem Hauptwerk, dem erratischen Block Westwärts 1 & 2, der 1975 bei Rowohlt erscheint und 2005 in der von Brinkmann ursprünglich intendierten, deutlich erweiterten Fassung neu herausgegeben wird, liegt mit mehr als 25.000 verkauften Büchern unendlich weit über den üblichen 10, 50, 100, selten 200 oder gar 500 Exemplaren, mit denen sich nach 2000 große und kleine Verlage bei Lyriktiteln auch namhafter Autoren herumschlagen müssen. Zum umfangreichen, schwarz broschierten Gedichtbuch Standphotos, das Brinkmanns neun Lyriksammlungen der Jahre 1962 bis 1970 vereint, haben ebenfalls viele tausend Leser gefunden.
»wohin aber in der zwischenzeit verschwinden / in den eignen kopf«
Ich picke ein paar weitre Beispiele aus der seit 1998 ständig erweiterten Liste aktueller RDB-Rezeption heraus, die längst nicht bloß in der Welt der Literatur stattfindet: Ich denke an den 2008 auch im WDR gezeigten Kinofilm Brinkmanns Zorn von 2006 mit Eckhard Rhode, synchronisiert von Brinkmanns Originalstimme: Von einem bestimmten Punkt an wird das Sprechen mörderisch (auch als DVD erhältlich – mit Director’s Cut); an die fünfteilige Audio-CD-Sammlung Wörter Sex Schnitt von 2005 mit dem Mitschnitt von Brinkmanns letzter, das Publikum mitreißende Lesung beim Cambridge Poetry Festival 1975 (drei Tag vor dem Unglück in London); an das 2008 im Theater Bonn, im Maxim Gorki Theater Berlin sowie bei der Ruhr-Triennale in Gladbeck gespielte Theaterstück Westwärts, an das 2007 von Martin Wuttke am Schauspielhaus Köln inszenierte Bühnenwerk Brinkmann; an RDB-Ausstellungen in Bremen, Köln (2006) und Vechta (2008); an Hörfunkbeiträge wie Brinkmann. Westwärts 1 & 2 (Deutschlandradio 2005), Die Wörter sind böse (Hessischer Rundfunk 2004), Ich kann nur sprechen, wenn mir etwas nicht gefällt (Deutschlandfunk 2003); an in regelmäßigen Abständen erscheinende RDB-Monographien – u.a. Karsten Herrmanns Bewußtseinserkundungen im »Angst- und Todesuniversum« ∙ Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher (1999), Gunter Geduldigs TOO MUCH ∙ Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann (2000), Karl-Eckhard Carius’ Brinkmann ∙ Schnitte im Atemschutz (2008), Markus Fausers Medialität der Kunst ∙ Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne (2011), Jan Röhnerts und Gunter Geduldigs Rolf Dieter Brinkmann: Seine Gedichte in Einzelinterpretationen (2012), Klaus Rümmeles Zeichensprache ∙ Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart (2012), Roberto Di Bellas »… das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums« ∙ Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt (2015); an Artikel, Besprechung, Feature in Zeitung, Fachzeitschrift, Internetportal; an Lyrikseminare an Hochschulen wie Jena oder Köln – meine Tochter Anna hält dort im Wintersemester 2008/09 ein Referat über Brinkmanns Polemik Ich hasse alte Dichter und setzt sich in einer Fachseminararbeit mit Vanille auseinander; des weiteren denke ich an unzählige Gedichte, Essays, Kommentare, Romane mit RDB-Reflexen zeitgenössischer Schriftsteller wie Jochen Arlt, Michael Basse, Jürgen Becker, Ulrich Johannes Beil, Uli Becker, Hans Bender : Brinkmann ging, meine ich, manchmal zu weit in seiner schäumenden Wut, Paulus Böhmer, Tom Bresemann, Martin Brinkmann, Bert Brune, Hans Christoph Buch, Werner Bucher, Hansjürgen Bulkowski, Markus Bundi, Peter O. Chotjewitz, Crauss, Christoph Derschau, Hugo Dittberner, Franz Dobler, Richard Dove, Ulrike Draesner, Hans Magnus Enzensperger, Gerald Fiebig, Robert Gernhardt, Dieter M. Gräf, Günter Grass, Günter Guben, Florian Günter, Michael Hamburger, Harald Hartung,Guy Helminger, Stefan Heuer, Uwe Hübner, Hadayatullah Hübsch, Norbert Hummelt, Ingo Jakobs,Adrian Kasnitz, Odile Kennel, Thomas Kling, Axel Klingenberg, Michael Kohtes, Uwe Kolbe, Ursula Krechel, Michael Krüger, Thomas Kunst, Axel Kutsch, Stan Lafleur, Norbert Lange, Christine Langer, Gregor Laschen, Edgar Leidel, Michael Lentz, Peter Maiwald, Marie T. Martin, Frank-Wolf Matthies, Friederike Mayröcker : Rom, Blicke finde ich faszinierend, Klaus Modick, Esther Mohnweg, Markus Orths, Hermann Peter Piwitt, Kai Pohl, Renate Rasp, Sophie Reyer, Jan Volker Röhnert, Peter Rühmkorf, Horst Samson, Peter Salomon, Joachim Sartorius, Frank Schäfer, Jochen Schimmang, Clemens Schittko, Peer Schröder, Raoul Schrott, Tom Schulz, Werner Söllner : Wer hat kein Alibi für den Tag / an dem die Sonne unterging, Gerd Sonntag, Enno Stahl, Armin Steigenberger, Jörg Stein, Jürgen Stelling, Susanne Stephan, Ulf Stolterfoht, Jürgen Theobaldy, Bernward Vesper, Nikolai Vogel, Jürgen Völkert-Marten, Jan Wagner, Richard Wagner : wohin aber in der zwischenzeit verschwinden / in den eignen kopf, Martin Walser, A. J. Weigoni, Dieter Wellershoff, Urs Widmer, Michael Wildenhain, Erich Wilker, Ron Winkler, Klaus-Peter Wolf, Wolf Wondratschek : Er war too much für euch, Leute, Michael Wüstefeld, Gerrit Wustmann, Judith Zander, Maximilian Zander, Ulrich Zieger – was kommt hinzu, das ich nicht einmal kenne? Brinkmann bleibt also ›anstößig‹ im doppelten Wortsinn: provokativ und anregend (Roberto Di Bella). Jan Röhnert hält in der 2006 von Ursula Heukenkamp und Peter Geist herausgegebenen Monographie Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts fest:
Auf eine Weise jedoch haben die Gedichte Brinkmanns auch nach dem Tod ihres Schöpfers ›weitergemacht‹: Beim Leserpublikum und einer Vielzahl von Lyrikern, die sich von Brinkmann zu – mehr oder weniger gelungenen – eigenen Versuchen inspirieren ließen. Seine Anregungen scheinen jeweils dort am fruchtbarsten aufgehoben zu sein, wo sie innerhalb eines wiederum selbständigen Dichtungsentwurfs neue Gestalt gewinnen. Etwa für den ›Kaddish‹-Zyklus von Brinkmanns Generationskollegen Paulus Böhmer, die Lyrik der rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner (›Kopfland. Passagen‹) oder Richard Wagner (›Hotel California‹) ist Brinkmanns Poesie ein fester Bezugspunkt, aber auch für das Selbstverständnis ostdeutscher Lyriker wie Uwe Kolbe, Thomas Böhme oder Michael Wüstefeld spielt Brinkmann eine wichtige Rolle; auch aus den frühen Gedichtbänden Thomas Klings ›geschmacksverstärker‹ und aus Durs Grünbein ›Grauzone morgens‹ ist Brinkmanns Stimme herauszuhören.
Blaue Gedichte (»die blauen, blauen Wildlederschuhe«)
Auch die Lyrikanthologien sprechen eine eindeutige Sprache. In sämtlichen repräsentativen Sammlungen ist Brinkmann seit Jahrzehnten selbstverständlich vertreten – ich weise exemplarisch auf die neueren hin: In Der Große Conrady (2008) verteilen sich die Gedichte ebenso über mehrere Seiten wie in Reclams großem Buch der deutschen Gedichte (2007), Das deutsche Gedicht (2005), Der ewige Brunnen (2005) und Jahrhundertgedächtnis (1999), wobei die Herausgeber erfreulicherweise drauf achten, jeweils andre aus der großen Zahl der besonders gelungenen Brinkmannschen Gedichte auszuwählen. In Michael Krügers Akzente. Ein Reader aus 50 Jahren (2003) finden sich genauso Brinkmanngedichte wie in jeder Ausgab des seit 2004 von Shafiq Naz herausgegebenen Deutschen Lyrikkalenders oder in Reclamtiteln wie Blaue Gedichte (2001), Poetische Sprachspiele (2002) und Deutsche Städte (2013). Nicht zu vergessen: Thomas Klings Sprachspeicher (2001), in dem der Herausgeber sehr bewußt nur 200 Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart versammelt. In LUFTFRACHT. Internationale Poesie 1940 bis 1990 (1991) entscheidet sich Harald Hartung für dreizehn Autoren des deutschen Sprachraums: Ingeborg Bachmann, Jürgen Becker, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Ernst Jandl, Günter Kunert, Oskar Pastior, Rainer Maria Rilke, Immanuel Weißglas.
Zum guten Schluß … (»Was ist mit dem Anfang?«) …
… noch einmal mit Jahn Röhnert sprechend: Brinkmanns Poesie ist zeitlos geworden, weil sie genauso wie Baudelaires sich bedingungslos ihrer unmittelbaren Gegenwart ausliefert. Die Dignität scheinbar banaler, alltäglicher Objekte, die das audiovisuelle Raster unserer synthetischen Umwelt ausmachen – Nylonstrumpfhosen, Vinylplatten, Gitarrenverstärker, Hochglanzblätter, Make-up, Kinoleinwände … –, hat er entdeckt und auf unverwechselbare Weise poetisch transformiert. Brinkmann wirkt weiter – so Anfang 2015 bereits zweimal in Köln: Am 12. Januar lädt der Literaturklub mit Roberto Di Bella und Adrian Kasnitz zu Brinkmann, wild gefleckt ein, am 26. Januar steht Brinkmann gleich zu Beginn im Rampenlicht der Auftaktveranstaltung der poetica, des ersten Kölner Festivals für Weltliteratur, als Barbara Förster ihre Ansprache zur Macht der Poesie ganz dem Werk und Wirken Rolf Dieter Brinkmanns widmet. Am Abend des 12. März 2015 steht der in Düren lebende und in einem Dentallabor hier in Sistig/Eifel tätige Kraus gegen 18 Uhr strahlend vor der Tür und begehrt quarrig Einlaß. Noch bevor wir uns setzen, sprudelt’s aus ihm heraus, es sei großartig gewesen am Vorabend bei der Eröffnung der lit.Cologne mit Herbert Grönemeyer und dem in Düren geborenen Michael Lentz, den er endlich einmal live habe erleben wollen. (Ich habe vor wenigen Wochen dessen Roman Schattenfroh gelesen.) Beste Unterhaltung, wie die beiden sich geradezu schelmisch die Bällen zugespielt – und, jetzt kommt’s, immer wieder Gedichte von Mascha Kaléko, Friederike Mayröcker, Helga M. Novak, Jesse Thoor und Rolf Dieter Brinkmann vorgetragen hätten. Und während ich die Flasche Laphroaig auf den Tisch stelle, gehen Literatur, Geschichte/n schon weiter. Und – wohin gehn sie, will Quer wissen, aber da spielt auch die Musik bereits weiter. Die Tiere und Bäume machen weiter. Ich mache, wie gesagt, jetzt auch (erst mal) weiter – und danach, ja, danach sehn wir weiter
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Weiterführend →
Ein Blick ins KUNO-Archiv: Lesen Sie auf KUNO eine Betrachtung der Jugendsünden des RDB. Aufzeichnungen eines Abgeschriebenen von Jamal Tuschik. Einen Besuch des RDB-Hauses, von Enno Stahl. Auch Sophie Reyer hat sich in der Domstadt auf die Spuren von RDB begeben. Einen Artikel über Das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums, Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt, von Roberto Di Bella. Und die Beantwortung der Frage: „Wer hat Angst vor RDB? durch Axel Kutsch. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.
Rolf Dieter Brinkmann ∙ Werk und Herausgabe
- Ihr nennt es Sprache. Achtzehn Gedichte (1962)
- Le Chant du Monde. Gedichte (1964)
- Die Umarmung. Erzählungen (1965)
- Ohne Neger. Gedichte (1966)
- &-Gedichte (1966)
- Raupenbahn. Erzählungen (1966)
- Was fraglich ist wofür. Gedichte (1967)
- Godzilla. Gedichte (1968)
- Die Piloten. Neue Gedichte (1968)
- Keiner weiß mehr. Roman (1968, Neuausgabe 2005)
- Acid. Neue amerikanische Szene, hg. von Rolf Dieter Brinkmann u. Ralf-Rainer Rygulla (1969, 1983)
- Vanille (1969)
- Frank O’Hara, Lunch Poems und andere Gedichte, übersetzt von Rolf Dieter Brinkmann (1969)
- Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969)
- Standphotos. Gedichte (1969)
- Gras. Gedichte (1970)
- Ted Berrigan, Guillaume Apollinaire ist tot. Gedichte, Prosa, Kollaborationen, hg. von R. D. Brinkmann (1970)
- Westwärts 1 & 2. Gedichte (1975, 1999)
- Rom, Blicke (1979)
- Standphotos. Gedichte 1962–1970 (1980)
- Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. Fotos. Collagen. (1982)
- Eiswasser an der Guadelupe Str. Gedichte (1985)
- Erzählungen (1985)
- Rolltreppen im August. Gedichte (1986)
- Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin Tagebuch (1987)
- Schnitte (1988)
- Künstliches Licht. Lyrik und Prosa (1994)
- Guten Tag wie geht es so. Erzählungen (1996)
- Briefe an Hartmut (1999)
- Westwärts 1 & 2. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe (2005)
- Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte (2010)
- An Unchanging Blue. Selected poems 1962 – 1975. Ausgewählt und übersetzt von Mark Terrill (2011)