2016 erschien von joanna lisiak, die zwischen zürich und basel lebt, der gedichtband »links wenn sie träumt« beim verlag »edition 8« in zürich, einem der ausgangsorte der klassischen moderne. »links wenn sie denkt« wäre ebenfalls möglich. links träumen und denken bedeutet, die zukunft mitdenken, über das vorgefundene hinausgehn, alternativen zum herkömmlichen und bestehenden entwickeln, etwas frei und neu gestalten, die gefährdeten und schutzlosen verteidigen und fehlentwicklungen entgegenwirken. der titel ließ mich zudem an die linke gehirnhälfte denken. für das schreiben von gedichten braucht man, sofern die zuordnungen stimmen, mehr die intuitiv, schöpferisch und ganzheitlich wahrnehmende rechte gehirnhälfte, fürs überarbeiten stärker die systematisch, analytisch und detailbezogen arbeitende linke. vielleicht war diese trennung, die inzwischen teils infrage gestellt wird, aber selber die folge dualistischer weltbilder. mir scheint am wichtigsten, daß die gehirnhälften zusammenwirken. in einem gespräch sagte die autorin, insbesondere auf ihre lyrik und deren leser bezogen: »Finde mich, aber komm nicht auf die Idee zu denken, mich deswegen zu kennen.« wer gedichte verstehen will, sollte beachten, daß sie etwas geheimnisvolles und vieldeutiges enthalten, dem sich ein interpret nähern kann, ohne sich einzubilden, es bis ins letzte entschlüsseln zu können.
die texte des bandes, der entspannt und entspannend wirkt, zeigen, wie joanna lisiak, lebenszugewandt und phantasievoll zugleich, das angenehme mit allen sinnen erlebt und dabei ursprünglich und originell ist, und umgekehrt. wenn sie mit facetten des alltags spielt und ihre spontane und energiegeladene kreativität vieles verknüpft und vernetzt, verbindet sie, nachdenklich und heiter veranlagt, etwa gedankentiefe und humor, die für sie keinen gegensatz bilden.
der leser findet ein poetisches gastmahl der schönheit, leichtigkeit und lockerheit. die lebenswelt wird staunend erkundet und betrachtet, in ihren nuancen wahrgenommen und mit der eigenen phantasie ausgefüllt, also poetisiert, wie im gedicht »in bereitschaft«: »ins schaufenster des optikers / gespäht auf den regalen / aufgereiht all die blinden / brillengestelle noch unbeseelt / auch sie lugen hinaus / zur strasse hin / nackte nasen im visier«. die brillen gleichen hier seelen, die, wie in mythen und noch lange im volksglauben, auf ihren körper warten, indem sie ihren möglichen künftigen träger anschauen. bei hans arp wurden stühle, uhren, krawatten, knöpfe, teller, gabeln, messer und besen zu gegenständen in gedichten.
immer wieder beschreibt sie das zarte, sanfte, nuancierte und grazile, sogar im unscheinbaren und alltäglichen. vielleicht lenkt auch die erkenntnis, die großen prozesse der welt, die sie in anderen büchern thematisiert, seien kaum noch individuell beeinflußbar, bis sie selber durch ihre wirkungen veränderungen erzwingen, den blick auf die kleinen dinge. literatur lebt vom konkreten. und das konkrete ist oft klein. walter benjamin und ernst bloch waren meister der beschreibung kleiner dinge. roland barthes erklärte, daß alle wahren künstler »sich aus dem Kleinen heraus entfalten.«
novalis schrieb: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« selbst das derbere oder robustere gedicht »mutmassung am bahnhofsplatz« gehört in dieses motivfeld. »noch eher finden sich lippenstiftstummel unbrauchbare / fahrkarten vergilbte / notizzettel ungültige telefonnummern / schirmsprossen loser / zigarettentabak ausgetrocknete / kugelschreiber leere petflaschen / vergessene rezepte / verlorene koordinaten verschneuzte / taschentücher zermanschte / pralinen kaputte / brillengestelle eine krümelsaat / stilles feuer als dass / in einer der baumelnden taschen / ein gedicht läge«. ich ließ einmal, wahrscheinlich weil meine gedanken woanders waren, drei gerade gekaufte bücher samt einkaufsbeutel in einer straßenbahn liegen, die dann in keinem fundbüro mehr auftauchten. an einer stelle schreibt sie: »viele würden / gäbe es keine bücher / an der tatsache als solcher / sterben und manche die / würden es nicht / einmal merken«.
die gedichte haben teils die poesie von märchen. in »ich sah sie sofort« wird aus stiefmütterchen »mutterstiefelchen«. das wort stiefel oder schuh tragen tatsächlich einige blumen im namen. der frauenschuh etwa aus der familie der orchideen, die im antiken griechenland und noch viele jahrhunderte später für aphrodisiaka verwendet wurden, heißt deutsch auch venusschuh, marienschuh, kuckucksschuh und kuckucksstiefel, österreichisch guggerschuh, russisch ebenfalls kuckucksschuh. in »weichzeichner« finden sich »pusteblumenpropeller«.
außerdem gibt es eine kulinarische komponente. die passage »da flog mir eine idee / für ein gedicht entgegen sie schwebte / in einem bepuderten windbeutel dahin / da war ganz viel musik / und poesie drin« im gedicht »traum« muß man sich wohl mit einem lächeln vorgetragen vorstellen. in »heute in der bäckerei / (die paillasse-brötchen)« kommt das wort »gebäcksbäckchen« vor. im österreichischen burgenland heißt ein weihnachtsgebäck wickelkind. in manchen orten bayerns bekamen eltern nach der geburt eines kindes einen meterlangen brotzopf geschenkt. das backen von brot, brötchen, kuchen und anderem gebäck im backofen, der wegen seiner gewölbten form symbol des schwangeren bauches war, entspricht symbolisch dem wachsen des kindes im körper der mutter. schon das altertum kannte diese symbolik.
joanna lisiak erkundet in ihren gedichten, die unmittelbar, konkret, facettenreich und reflektierend sind, stets auch zwischenräume, intervalle, übergänge. ein kapitel heißt »im wirbel eines zwischentons«. »ich werde in übergängen verweilen«, schreibt sie im gedicht »beschlossene sache«. das innehalten ermöglicht sublimierungen und vertiefungen. in »zustimmung« läßt sich das lyrische ich ins alter sinken, um daraus verjüngt aufzuerstehen, was mit alten techniken der verwandlung korrespondiert und mir den keltischen kessel der wiedergeburt ins gedächtnis ruft. »das bild sinkt herab / es ist jünger als ich / ich sinke hinein / und bin alt // etwas erhabenes naht / ist bereit sich zu binden / ich gebe mich preis / und bin jung«. kreatives denken und gestalten erweckt und verjüngt menschen seelisch.
in »hier also bin ich« schreibt sie: »ich bin präsens selbst wenn ich zeiten überwinde / ich werde nicht älter die äusseren / umstände verändern sich«. dies meint spielräume des subjektiven erlebens und wahrnehmens sowie der phantasie und imagination gegenüber profanen realitäten. die seelische zeit eines menschen entspricht sowieso nie ganz der uhrzeit. zwischen den worten lebt der dichter ohne uhr, zumindest während ein gedicht entsteht. mythische zeit ist immer zeitlose gegenwart. auch in wohnstätten der elfen und zwerge herrscht eine andere zeitordnung, weshalb menschen, die solche orte aufsuchen, hinterher um jahrhunderte gealtert, krank und irre sein können, mitunter jedoch auch, sagt man, verjüngt.
manches im buch entspricht den ungezwungen vitalen und leichtfüßigen bewegungen von kindern, wie im gedicht »so leben«: »tanze ich im herbst / tango mit fallendem laub / mit lesebändchen im haar« oder in »angeprickelt«: »noch im zarten segeln fischten wir die silben / in unsere schriftnetze«. ein kapiteltitel lautet: »unterwegs im flug«. das buch könnte auch »links wenn sie fliegt« heißen. im gedicht »urwald«, ich denke da an den urwald bei kielce, der mich als kind begeistert hat, und weiß bis heute, daß der reiseführer dort mikulski hieß, ist von »klingenden flügeln« die rede. in »wie flüssige seide« wird eine haarklammer wegen ihrer form mit einem schmetterling verglichen. in »kann dauern« heißt es: »ich gehe erst wenn ich / naturgemäss ein schmetterling / geworden bin«. bei hans arp findet sich die zeile »im sommer wachsen den toten wieder flügel«. der gedankenflug, durch den die lisiakschen texte entstehen, hat auch etwas schmetterlingshaftes, womit sie sich dem stil eines jean paul nähert.
auf kinder wirken plötzlich auftauchende schmetterlinge, die wie wesen einer anderen welt erscheinen und im volksglauben seelen verkörperten, märchenhaft und geheimnisvoll. ludwig bechstein schrieb: »Es war einmal eine Zeit, da es noch keine Märchen gab, und die war betrübend für die Kinder, denn es fehlte in ihrem Jugendparadiese der schönste Schmetterling.«, friedrich rückert »wenn der Lebensschmetterling in der Puppe Tod erwacht.«, theodor däubler: »Das Land hat Gold für Sternenschmetterlinge.«, jean paul, der die »Schmetterlingsflügel bunter Einfälle« kannte und träume »Nachtschmetterlinge des Geistes« nannte: »Die ältesten Gefühle flattern unter den Nachtschmetterlingen.«, und hans arp: »Ein großer blauer Falter ließ sich auf mir nieder / und deckte mich mit seinen Flügeln zu / Und tiefer und tiefer versank ich in Träume. / So lag ich lange und vergessen / wie unter einem blauen Himmel.« der chinesische philosoph zhuāngzi berichtete vor 2300 jahren, er habe geträumt, ein schmetterling zu sein, und fragte sich beim erwachen, ob er nicht eigentlich ein schmetterling sei, der träume, er wäre ein mensch.
ernst jünger wies auf die verbindung von traumhaft phantastischem und erotischem im erscheinen der schmetterlinge hin. insbesondere das hellenistische denken verband den schmetterling mit aphrodite, eros, dionysos und priapos, gottheiten der liebe und der fruchtbarkeit. aphrodite, zu deren gefolge der tagfalter gehörte, und venus erschienen schmetterlingsgeflügelt. bilder der aphrodite und venus mit eroten und schmetterlingen waren in der antike häufig. aphrodite wurde in ihrer liebe zu eros mit schmetterlingsflügeln dargestellt. lukian schrieb, daß eros, mit dem der übergang vom chaos zum kosmos beginne, sogar macht über die götter, etwa seine mutter aphrodite, habe. eros selbst spannte schmetterlinge vor einen muschelwagen, der als symbol der weiblichkeit galt, oder pflug. auf fresken aus pompeji ziehen schmetterlinge eine kutsche.
dante sah das irdische leben als raupendasein. anton tschechow äußerte, bei insekten entstehe der schmetterling aus der raupe, beim menschen wäre es umgekehrt. jean paul, der schrieb: »Liebe ist die Bienenkönigin des jugendlichen Gedankenschwarms.«, bemerkte, der mangel an poetischen einfällen könne darauf hindeuten, daß der moralische mensch noch nicht alle raupenhäute abgelegt habe. christlich war oder ist der schmetterling symbol des flatterhaften, lüsternen, unsteten, unbeständigen und eitlen sowie der törichten liebe zur flackernden, also gefährlichen flamme, die sünde assoziiert und in der man verbrennt. die verwandtschaft von flattern und flackern läßt an feuer denken. deutsch sagt man über flatternde schmetterlinge, sie würden gaukeln. das wort gaukeln = flattern, schwankend fliegen, auf spielerische art täuschen, zauberei treiben, gehört zur gleichen wortwurzel wie kokeln = unvorsichtig mit feuer spielen. schweizerisch toggeli bedeutet zugleich alp, nachtgespenst und schmetterling.
ebenso berichtet sie von ihrer kindheit in polen und erwähnt, daß ihr großvater imker war. elias canetti schrieb: »Der Dichter, der die Bienensprache verstand, und sie wird gesprochen.« gedichte für bienen müßten allerdings in ultravioletten farben erscheinen, die das menschliche auge nicht wahrnehmen kann, etwa bienenpurpur oder bienenviolett. wollten mädchen in polen ihre unschuld beweisen, gingen sie mit ihrem verliebten zu einem bienenstock, in der hoffnung, nicht gestochen zu werden. nach katholischem glauben sollten bienen, deren schutzpatronin die jungfrau maria ist, jungfrauen erkennen. der polnischen braut wurde nach der einsegnung des ehebettes der mund mit honig bestrichen, der als symbol der vermählung galt. »Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim.«, heißts im »Hohelied«. in polen gab man früher, wie in anderen ländern, toten honig für die auferstehung mit ins grab.
»ovids göttertränen«, also der bernstein, ruft kindheitstage an der ostsee ins gedächtnis. bernstein ist honigfarben und polnisch miód = honig mit met verwandt. an der ostsee wurde 40 bis 50 millionen jahre alter bernstein mit darin eingeschlossenen bienen gefunden, die sich kaum von heutigen bienen unterscheiden. ovid war am schwarzen meer in der verbannung, weshalb er vor allem in der russischen literatur oft als bezugsperson erscheint. ich bewahre noch heute einige ostseefunde, vor allem originell geformte steine, aus meiner kindheit.
beim lesen der gedichte von joanna lisiak erinnerte ich mich daran, daß ich als kind am fenster der zweiten etage frau holle gespielt hab, indem ich es aus den puderdosen meiner tante schneien ließ, und später, nachdem ich fallschirmspringer im fernsehen gesehen hatte, mit dem aufgespannten regenschirm meiner mutter vom schuppendach auf einen darunter liegenden komposthaufen gesprungen bin, wobei ich weich landete, der schirm aber schaden nahm. in bayern soll 1430 ein sturmwind einen dreijährigen jungen in die luft gehoben haben. im alpenraum gibts zudem sagen, in denen kinder von adlern davongetragen werden.
im gedicht »es warnt meine lippen« erscheinen lachende schwalben, wie man sonst von lachenden möwen spricht. bereits in der antike waren schwalben glücksvögel. die schwalbe, die um segen angerufen wurde, verhieß das reine, lichte, erfreuliche, auf das man auch ihren hellen schrei bezog. in deutschland, österreich und der schweiz galt es als gutes zeichen, schwalben zu sehen. auf dem pariser vogelmarkt kauften noch im 19. jahrhundert personen aller volksschichten schwalben, die sie fliegen ließen, weil dies glück bringen sollte.
zum band gehören einige schöne liebesgedichte, wie »glockenklang«: »du und ich zwei / glocken ohne klöppel / wenn du dich an deiner / angel festmachst und auch / ich mich sichere dann / schweben wir beide jeder / für sich kann nicht fallen / ein ferner wind sanft verzahnt / unsere ketten // dann stossen wir aneinander / mit gewölbten körpern / und bringen zum klingen / wir selbst / ohne klöppel die leerstellen / im raum zwischen uns«. hier läßt sich darauf verweisen, daß spanisch tocar und italienisch toccare zugleich das glockenläuten und die berührung bezeichnen. im deutschen volksglauben konnten kirchenglocken, die man sich als beseelt, ja vernunftbegabt dachte, fliegen und sich ihren standort selber wählen.
mehrmals erscheint der kater von joanna lisiak, wie in »aus dem nichts«: »das majestätische auftauchen von pépino aus dem dunklen nichts / steuert er auf samtpfoten gezielt / wie ein findling dem lichtkegel entgegen / er rechnet gelassen doch genau / mit meinen verschwenderischen / übergriffen sanfter streichelattacken«. in »tag des kusses«, einem gedicht, das etwas augenzwinkernd ironisches hat, heißts: »spontan schaffe sicher ich eine libelle / am bauch küssend zu packen«. libellen, die auch rückwärts fliegen können, lieben sich fliegend. jeder in seinem element. durch die sumpfwälder des karbon, der kohlezeit, flogen riesenlibellen mit 30 bis 60 zentimetern länge und 70 bis 75 zentimetern flügelspannweite. forscher vermuten sogar bis zu einem meter lange urlibellen, für die es aber noch keine archäologischen belege gibt. die größte heutige libelle ist 19 zentimeter lang. die mitteleuropäische große königslibelle mit grünblauem körper und goldgelben flügeln hat 8 zentimeter länge und 11 zentimeter spannweite.
im gedicht »plan« heißt es: »wird der garten / ein stück himmel.« französisch planter, verwandt mit deutsch plan und pflanze, bedeutet (be)pflanzen. das »Alte Testament« beschreibt das paradies als einen garten. der »Talmud« erklärt: »Die Welt ist der sechzigste Teil des (Paradies-)gartens, der Garten der sechzigste Teil des (Gartens) Eden«. im »Koran« und arabisch sind garten oder baumgarten synonyme für paradies. michel serres schrieb in »Die fünf Sinne / Eine Philosophie der Gemenge und Gemische«: »Der alte Rat: „Bestelle deinen Garten“, diese alte Weisheit, bedeutet in Wirklichkeit: „Du wirst leben wie ein Gott“.«
»portrait« spielt mit sprachklang: »nicht mit schlüsseln klimpert sie nicht / mit geldstücke nein nicht / mit armbändern diesen bettelarmbändern / schon gar nicht mit ihren wimpern denn / wimpernklimpern ist nicht ihr ding / hingegen mit gedanken gelegentlich / mit ihrem klimperherzen klimpert sie / fröhlich stets aufs harmonische klimpern / bedacht // mit kindern sagt sie sei leicht zu klimpern / ihre träume reine klimperparadiese / klimpernd sei dort alles bis die ohren sausen / pianissimo alles ineinander klimpert ein aus / mit was sie am liebsten klimpere fragte ich / mit allen sinnen meinte sie an mir vorbeiklimpernd / mit allem ernst«. das lautnachahmende wort klimpern ist verwandt mit klampfe, klampfern, klampern = ein metallisches geräusch verursachen, klempern = klingen, klimpern, hämmern, klopfen, und klempnern, also klempnerarbeiten verrichten, bei denen das vom werkzeug berührte metall klingt.
in »röntgenaufnahme« versetzt die autorin menschliche körper anhand der formen und strukturen eines röntgenbildes zurück in biologische ursprünge vor dem landgang der lebewesen: »könnten wir uns jetzt zu einem / gruppenfoto begeben und ein / röntgenbild schiessen / in unserer brust zeigte sich / ein spreizendes geäst / feierlich und wir würden / mit einem schlag zu korallen // der bunt gedeckte tisch / auf einmal ein bootswrack / wir wären vom meer umgeben / statt worten perlen stiegen auf / wenn wir zart atmeten / aus den poren um uns / die stille der tiefe ein teil von uns / würde unsichtbar werden // überall tangwald in der küche / statt speiseresten wirbelndes / plankton das wohnzimmer / mit algen überzogen // unsere herzkranzgefässe und wir / als gruppe aus freunden / bildeten ein ganzes korallenriff / in jeder koralle wäre ein / zuckender kleiner fisch auf besuch / unser herz«.
das gedicht »iras 16293-2422« verbindet makrokosmos und mikrokosmos, stern und ich, indem es einen stern poetisiert: »da ist ein junger stern / am himmel von einer / zuckerhaltigen gaswolke umgeben / bei diesem gedanken steigt / mein blutzuckerspiegel / auf meiner zunge fernfiebrige / geschmacksknospen im tanz / mit der süsse sie gaukelt / harmonie vor und ich weiss / wenn leben entsteht / ist auch zucker im spiel«. das wort »nebelmelker« in »der himmel zeuge« erinnert an hans arps »Wolkenpumpe«.
das buch ist mit dem einband eines orangenen bildes samt orangenem lesebändchen von mariola lisiak sehr schön gestaltet. vielleicht hängt die wahl der farbe auch mit den verkleinerungsformen in den texten zusammen, die mit abstufungen und feinheiten spielen lassen und im polnischen, doch auch im schweizerischen, vorgeprägt sind, da sie dort häufiger vorkommen. ponisch mandarynka für mandarine bedeutet mandarinchen. ursprung könnte das wort mandara auf mauritius sein, wo mandarinen angebaut werden. mandarine und apfelsine stammen ursprünglich aus südostasien. der orangengarten neben der kathedrale, der früheren maurischen moschee, von córdoba ist über 1000 jahre alt. renaissance und barock verbanden orangen mit den goldenen äpfeln der hesperiden, womit wir erneut im paradies wären.
das gedicht »die tatsache genügte vollkommen / zu meinem vergnügen« beschreibt eine fiktive, oder tagtraumhafte, begegnung mit paul klee: »paul klee sass im publikum / er war da als ich über paul klee / sprach als ich klee zitierte hörte / er als ich erzählte wie klee / teil meiner gedichte wurde«. 2010 erschien von joanna lisiak beim »Littera Autoren Verlag« zürich ein gedichtband unterm titel »Klee composé / Lyrik mit Paul Klee«, in dem sie mit worten, wortkreationen, werktiteln und sätzen von paul klee eigene gedichte komponierte. dabei verwendete sie texte klees aus büchern, katalogen, tagebüchern und seiner lehrtätigkeit am »Bauhaus«, wo er glasmalerei, buchbinderei, schmiedekunst und formgestaltung unterrichtete. auf passagen aus klees briefen und gedichten verzichtete sie. beim buchtitel ist wohl auch mitzudenken, daß klee, sohn eines musiklehrers und einer sängerin, der seit seinem siebenten lebensjahr geige spielte, musikalische prinzipien auf farben, formen und strukturen seiner bilder übertrug, in deren titeln häufig musikalische motive anklingen, also synästhetisch arbeitete.
die montage profitiert stets von der qualität des montierten. und da ist man bei klee in guten händen. im vorwort zu diesem band heißt es: »Ganz im Sinne des Künstlers kann das Unausgesprochene in den Gedichten manchmal mehrstimmig anklingen, das Unbewusste präsent sein. Wie auch bei Klees Arbeiten entziehen sich die Texte einer einfachen Deutung, bergen zugleich poetische wie abstrakte Elemente in sich und schliessen Ironisches, Humor nicht aus.«
klees fähigkeit, das spielerische und poetische mit gestalterischem und geistigem zu verbinden, entspricht genau den intentionen von joanna lisiak. ein buchtitel bei klee lautet »Das bildnerische Denken«. sie erreicht ihre größte originalität meist dort, wo sie bei oder nach einem assoziativen flug der kreativität, der intuitiv ideen und einfällen folgt, metaphern und gedanken sprachlich verknappt und konzentriert, also beide gehirnhälften intensiv kooperieren. »will fliegen wie der junge fuchs / voll von schwungkräften / die über die schwerkraft / triumphieren«, ist sicher eine selbstanspielung. polnisch lisica heißt füchsin. man findet in ihren texten öfter eine heitere selbstironie. auch die passage »schmeckt ein ästhetisches / manifest fraglich doch sie / ist weiblich schöpferisch / wesentlich ist ihr voller / langer augenaufschlag / nach innen« bezieht sie wohl selbstironisch auf sich.
»kristallisation« ist auch eine hommage für klee selbst: »engel übervoll frisst mir / unwirklich aus der hand / gibt mir mein eigenes / bild zum lachen / wir wandern auf sternen / gebaut auf sand wo / hängende früchte und / pathetisches keimen auf / einem bilderbogen zum / strauss zu binden möglich / wir sitzen gelassen auf / einem blühenden baum / ich behaupte sein schüler / zu sein hätte einen guten / klang es glüht nach als er / mich am ende küsst mit / seines mundes kuss«.
um klees worte und sätze miteinander zu verbinden, ist die montagetechnik nicht allein eine möglichkeit zum poetischen spiel, sondern notwendig. die gedichte in »Klee composé« sind bewußt gebaut und scheinen sich dennoch, durch die intuition, die darin wirkt, mitunter der automatischen schreibweise der surrealisten zu nähern. an einer stelle erscheint der »mond / mit sonnenschirm«. »was alles wächst und ist« folgt wahrnehmungsweisen von künstlern der zwanziger jahre des zwanzigsten jahrhunderts: »in der zwitschermaschine / eine vorführung des wunders / ein engel vom stern noch / weiblich mit flügelblick pflegt / die empfindung beim spiel / einer lyristin zweige im herbst / mit gelben vögeln mit dem ei / ein lächelndes tierchen an der / pfote saugt auf einer welle / ein modehut wie eine seerose / gibt mir pianissimo sein händchen / zwei unter dem schirm ein / abgekürztes hörnendes tier und / fabelhafter nachwuchs winken / vogel-flugzeuge einsamen / dem hafen entlang beflaggte / stadt entfettet etwas schwerhörig / auf grün bemanteltes selbfünft / regen besprengt zeigt mir die zunge / es glüht vor lauter liebe so / möcht ich auch«. klee meinte sein bild »Zwitschermaschine«, das mechanische vögel zeigt, die beim betätigen einer handkurbel singen, und nach dem musikstücke verschiedener komponisten entstanden, spielerisch, phantasievoll und ironisch. auch seine gedichte, bei denen man eine nähe zu hans arp, hugo ball, joachim ringelnatz oder christian morgenstern bemerkt, sind öfter sprachundklangspielerisch. hugo ball sprach vom »Buchstabenbaum«, von dem die poetischen evas und adams essen. manchmal fliegen die früchte der kreativität freilich durch die luft und man muß sie auffangen.
in früheren jahrhunderten waren künstliche vögel populär, die sich bewegen, singen oder krähen und teils sogar berauschende düfte verströmen konnten. während der renaissance gab es in italien künstliche pfaue, die das rad schlugen und wohlriechendes räucherwerk im schnabel trugen. ernst jandl soll sich wenige monate vor seinem tod, schon schwer krank, eine chinesische hahnenuhr gekauft haben, die zu jeder vollen stunde einen hahnenschrei ertönen läßt. so konnte er jede stunde seines ihm noch verbleibenden lebens als neuen tag erleben. am straßburger münster befindet sich bis heute ein aus eisen geschmiedeter 117 zentimeter hoher hahn an einer astronomischen uhr, die von 1352 bis 1354 gebaut wurde. das war noch eine imposante haltbarkeitsdauer. dieser hahn kann mit den flügeln schlagen, seinen hals strecken, den schnabel öffnen und mittels kleiner orgelpfeifen töne erzeugen.
meist eulengestaltige vogelgefäße, das heißt fayencegoldodersilbereulen, die man heute in museen findet, entstanden seit dem 16. jahrhundert in deutschland, der schweiz, belgien und italien. solche gefäße besaßen teilweise ein laufwerk, das sie auf dem tisch umherfahren ließ. vor wem das weingefüllte behältnis stehen blieb, der mußte es austrinken. andere eulengefäße schossen pfeile oder gewehre ab oder verspritzten strahlenförmig flüssigkeit. die sexuelle symbolik ist hier unverkennbar. außerdem gab es silberne glöckchen und eingebaute flöten an und in metalleulen. ähnliche gefäße wurden auch in form von adler, greif, hahn, basilisk, pfau, ente, pelikan oder krähe hergestellt. alldas könnte klee zu seiner »Zwitschermaschine« angeregt haben. egon friedell schrieb in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit«, novalis sei der einzige natürlich singende vogel unter den deutschen romantikern gewesen, während die andern alle virtuose spieldosen waren. ich würde da zumindest noch e.t.a. hoffmann und wilhelm hauff ausnehmen.
die farben der bilder klees sind oft mediterran, das heißt von den landschaften und kulturen der mittelmeerländer geprägt, und haben teils etwas orientalisches. er hat in ägypten und tunesien gemalt und gezeichnet. neben expressionismus, surrealismus, kubismus und konstruktivismus beeinflußte ihn auch der impressionismus, malerisch einer der höhepunkte der bildenden künste, vor allem paul cézanne, zumindest in der wahl der farben. für mich bilden europa und der orient kulturgeschichtlich ohnehin einen kulturraum. aber das wußte, während man es heute eher wieder vergißt, bereits goethe, siehe sein »Westöstlicher Diwan«.
in »ich hab’s gehört« aus »Klee composé« verbindet und verschmilzt joanna lisiak konkrete und abstrakte wahrnehmungen, farben und klänge, wobei das visuelle das akustische überwiegt. »ein zum virtuosen neigender / sieht mit seinen regnerischen / augen nichtkomponiertes mosaik / im raum bedrängt und bewegt / von der macht des strömenden / orange-blau zeitlich grün in grün / räumlich umdämpft baut er auf / dem farbklavier die schönheit / der variationen in aller stille geht / hoffnung durch ihn durch lehmgrün / rosa nach allen seiten hin sichtbar / sich entfaltend zarteste bestimmtheit / nuancen flackern zunächst / strenger dann freier bis heilsam«.
man spricht vom hellen klang einer stimme oder glocke oder eines instruments oder sagt, etwas halle nach. umgekehrt heißen grelle farben schreiend. hell beschreibt ursprünglich einen akustischen eindruck und wurde erst später aufs visuelle wahrnehmen übertragen. ich hab bei schrillen geräuschen grelle farben vor augen, vor allen gelbe. das wort gelb ist verwandt mit glut und glühen. »heller wirbelt der Hain«, schrieb ludwig christoph heinrich hölty, und meinte den vogelgesang. verwandte worte von hell sind deutsch gellen, schelle, schelten, hall, hallen, schall, das gall in nachtigall, althochdeutsch gihelli = harmonisch, unhelli = mißtönend, gellan = grell tönen, schreien, klingen, grellen = laut, vor zorn schreien, galan = singen, bezaubern, behexen, isländisch gala = krähen, gelta = bellen, altirisch kaileach = hahn, litauisch gulbe = schwan, russisch galka = dohle, griechisch chēlidṓn = schwalbe und armenisch całr = gelächter.
walter benjamin zitierte georg simmel: »Wer sieht, ohne zu hören, ist viel beunruhigter als wer hört ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitige Beziehung der Menschen in den Großstädten zeichnet sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität der Augen über die des Gehörs aus.« so können auch akustische eindrücke mit worten bezeichnet werden, die visuelle wahrnehmungen beschreiben. roland barthes erklärte: »In den Träumen wird das Gehör nie eingesetzt. Der Traum ist ein streng visuelles Phänomen, und das an das Ohr gerichtete wird mit dem Auge wahrgenommen: Es handelt sich sozusagen um akustische Bilder.« rückt uns der traum der großstadt also näher? wer aus dem traum erwachen will, muß freilich hören. verinnerlichte geräusche verlagert die erinnerung meist wieder nach außen, vor allem die negativ erlebten.
ich empfinde »links wenn sie träumt« als einen sehr persönlichen gedichtband von joanna lisiak, die sich vielem anderen anverwandeln kann und ihre blickwinkel und schreibweisen wechselt, weshalb man über ihre lyrik nicht summarisch schreiben sollte, weil jeder band anders ist. sie gehört zu den seefahrern der literatur, die stets zu neuen küsten aufbrechen. hier beschreibt sie spielerisch vor allem eigene lebenskreise, lebensformen und sehnsüchte. die reisegedichte des bandes leben von fotografischen oder filmischen momentaufnahmen und episoden sowie reflexionen über worte und zeichen anderer sprachen und kulturen. »spanisch« schildert die situation an einer verkehrsampel: »hoffe grün meint keck«. der grünfink gilt als keck und flink. in den grünphasen könnten also ampelfinken aufleuchten.
***
links wenn sie träumt, Gedichte von Joanna Lisiak. Edition 8, 2016
Weiterführend →
Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.