mit dem blick eines prähistorikers, der zeitalter und weltenorte überschaut und verbindet, durchwandert andré schinkel in seinen gedichten epochen und landschaften des planeten und der menschheit. oft kann man dem terror des privaten und der provinz nur kreativ und geistig entkommen, selbst wenn man dabei in eine jenseitige schattenwelt unter der nachtsonne fliehen muß. die zeile »Wir sind Rosenkäfer im Wind der Verdammnis« wird wiederholt. wie schon im erzählband »Das Licht auf der Mauer« von 2015 erscheint der mensch insgesamt häufig als geworfenes wesen.
beschränkungen der gegenwart, die immer von gestern ist und in der viele, die der illusion folgen, ihr mehr oder minder virtuoses getriebensein entspreche ihrem eigenen willen, verheißungen und zwängen ihrer außenwelt hinterherjagen, im kopf überschreitend, erkundet er urwelten der jetztzeit. manche fragen, weshalb er kein praktizierender wissenschaftler geworden sei. ich vermute, auch um nicht durch theoriebetrieb und praxiszwang seine geistige unabhängigkeit und literarische kreativität einzubüßen.
kommt er an endmoränen vorüber, sieht er nicht bloß vergangene gletscher, mammutherden und steinzeitliche jäger, sondern auch die eiskörper und höhlenmenschen der zukunft. »die Mammutsteppe / Im neuen Jahrtausend, bis / An den Rand gefüllt: // Mit den Vögeln der Abkunft, / Schmetterlingen der Unzeit.«, heißts in »Schwarzland«. erodieren aufklärung und humanismus, die religiöse und geistige gletscher abgeschmolzen und ausgewaschen haben, nun selber, während das projekt moderne noch längst nicht vollendet ist, und in manchen gegenden kaum angekommen? oder waren oder sind die dichter und künstler der moderne, oder postmoderne, die in manchem der späteren antike ähnelt, die höhlenmaler und urschamanen einer hypermoderne? klaus mann nannte kafkas »Amerika«-romanfragment »Der Verschollene« »hypermodern«.
joseph brodsky, der an einer stelle erklärte: »Der Mensch ist schlimmer als sein Aas.«, schrieb: »Sei kein Idiot! Sei das, was die andern nie waren, nie im Leben. / Geh nicht aus dem Zimmer! Gib dich einzig den Möbeln / hin, verschmelz mit den Tapeten. Sperr dich ein, / verbarrikadier dich zum Schluß / mit dem Schrank gegen Chronos, Kosmos, Eros, Rasse und Virus.« und »Eine Drehung des Schlüssels, / und du findest dich dort wieder, wo es keinen / und niemand gibt: wie vor tausend Jahren / oder einiges früher: in der Epoche der Vereisung, / vor der Evolution. Der usurpierte Raum / verzichtet niemals auf seine / Unbewohnbarkeit, erinnert / den maßlos gewordenen Affen / an das altherkömmliche, voreiszeitliche Recht / der Leere auf Wohnraum. Die Abwesenheit / ist letztlich nur die Privatadresse des Nichts, / das im Endergebnis, als richtiger Bourgeois, / kurz bevor der Vorhang fällt, den Feldsteinen / und Graumoosen Tapeten vorzieht. / Je detaillierter ihre Dschungel, desto unglücklicher der Affe.«
ganz so radikal und abgewandt, das heißt heimatlos und verzweifelt, denkt und lebt andré schinkel denn doch nicht. manche der gedichte, die refugien gegen zumutungen des gegenwärtigen und künftigen sein können, haben eine befreiende leichtigkeit, vor allem sprachlich. es gibt sehr sinnliche texte, etwa »Die Dünung des Leibs«: »Raubvogelgleich schwirrt der Leibkolibri / Durch die Gesträuche der Gierde.« zugleich wirken private konflikte und seelische verwundungen in diese texte hinein. die fotografie am ende des buches zeigt ihn nachdenklich und traurig. mitunter muß man kulturgeschichte freilich ausblenden, damit man unbefangen schreiben kann.
anhand der tintenfische, die wie urwesen aussehen und ihre farbe wechseln, so bei der balz, der »Sepia«-gedichte, in denen von der »Hochsee der Träume« die rede ist, beschreibt und reflektiert er das liebesverlangen, das menschliches und animalisches vereint, »Ihr flackerndes Steigen ins Licht andrer Tage, wenn / Unser Leuchten schon lange dem Verglimmen sich neigt«, aber auch machtausübungen unter liebenden und liebesverletzten. bei hugo ball leben tintenfische in »Satanopolis«. sepien sind kopffüßer, während beim menschen der kopf, womöglich die nachfolgeform einer haftknolle, durch sein denken halt gibt.
die texte sprechen zur anwesenden oder abwesenden liebe, das heißt zu frauen, die in sachsen als schöne mädchen auf den bäumen wachsen sollen, oder zum weiblichen an sich, das für ihn ein wichtiger ansprechpartner ist. in »Du bist eine Lilie« schreibt er: »Ich lieb den Gedanken, / Daß du mich so liebst / Als gäbs keine Schranken / Im Sehnsuchts-Betrieb.« doch auch der sehnsuchtsbetrieb hat seine lebensrealen zwänge. im »Hohelied« heißt die erwählte braut »Lilie unter Dornen«. venus verwandelte junge mädchen in lilien. insbesondere die weiße lilie gilt als liebessymbol. das altertum verband die lilie mit liebe, ehe, fruchtbarkeit und geburt, das christentum mit der jungfrau maria und christus sowie unschuld, reinheit, gnade, auserwähltheit, unantastbarkeit und erlösung. die griechen der antike sahen in weißen lilien auch symbole für tod, unsterblichkeit und auferstehung und legten sie auf gräber. ebenso sind sie christlich grabschmuck. bei jakob böhme heißt die zeit vor dem weltende lilienzeit und die lilie ist symbol der wiedergeburt im heiligen geist. später symbolisierten weiße lilien die romantik. im gedicht klingen jedoch ebenso feuerfarbene lilien an: »Du bist eine Lilie / Aus Lodern und Schnee.« die rote lilie kann sünde bedeuten, die gelbe eitelkeit.
andré schinkel fühlt sich eher heidnischen welten und figuren nahe. in der frauenfigur im gedicht »An eine Ungenannte«, von der es heißt, daß sie »die Leib-Katarakte, / Nachts, in den Wüsten der Hirne« besingt, verbinden sich magierin, prophetin, geliebte, außenseiterin und opfergabe. beim ersten lesen dachte ich an medea oder kassandra. »Die Ungenannte« war, oder ist, auch eine bezeichnung für hexen, spinnen und krankheiten, »Der Ungenannte« hingegen für gott, sünder und henker. beides ersetzte tabuworte. die sprache lebt nicht zuletzt von ambivalenzen. mitunter sind gegensätze noch in einem wort vereint, wie im lateinischen sacer, das heilig und verflucht bedeutet.
seit jahren fallen das große formbewußtsein, die handwerkliche strenge und die genauigkeit der lyrik von andré schinkel auf. der reim in manchen gedichten gibt offenbar noch, oder wieder, halt, und ist zugleich eine herausforderung. er sagte einmal, pindar habe ihn beeinflußt. ich hätte eher horaz vermutet. aber er meint mit pindar wohl etwas ähnliches wie johannes bobrowski, der klopstock seinen stilistischen lehrmeister nannte. der band vereint verschiedene lyrische formen, von sonetten bis zu prosagedichten. der leser findet stilles innehalten und exzessives erleben, poetische und derbe sprache. letztere folgt einer plebejischen tradition. neben der literatur fordert ihn auch das leben dazu heraus. bei den derberen passagen, das mit derb verwandte schwedische djärv bedeutet kühn, wagemutig, verwegen, denke ich, neben horaz, an andere dichter kunstvoller derbheit, catull, martial, françois villon, bertolt brecht, peter rühmkorf, karl mickel. beim formulieren des kontrasts zwischen profanem und grausamem alltag und mythischer vorzeit, die distanz gewinnen läßt, sowie im tonfall spürt man zudem einflüsse gottfried benns.
der leser entdeckt bei andré schinkel einen kreisenden blick, der auch landschaften der eigenen herkunft betrachtet, so eine tagebau-landschaft bei bitterfeld in »Schwarzland«: »Das staubige Schilf knackt, in / Den brackigen Tümpeln aus Teer.« der stillgestellten dialektik und gebremsten entwicklung folgten die stillgelegten betriebe. er beschreibt eine von bergbau und industrie zerwühlte und beschädigte, kulturgeschichtlich aber reiche heimat. im gedicht »April«, also über einen monat, in dem sich wetter wenden, heißt es: »Schwärend / der reaktionäre Rauch der Verächter / über den entsetzt schweigenden Feldern. / Leere Herzen reden pulsierende Blitze / in leere Augen hinüber ‒ das Grölen / veralteter Tage fällt kalt und schneidend / rhetorisch auf uns zurück.« albert ehrenstein, der europa »Barbaropa« nannte, schrieb 1929, auf heinrich heines gedicht von der lorelei zurückgreifend, geradezu prophetisch: »Nur das arme Stimmvieh / Weiß nicht, was soll es bedeuten. / Daß es so dämlich ist. / Es nahn der Zwangsarbeit faschistische Zeiten.« und »Bald gibt es auf Erden nur / Die alleinseligmachende Bombenkultur.« der rechtsradikale anschlag auf die synagoge in halle im oktober 2019 war keine hundert meter von der wohnung andré schinkels entfernt.
wir finden heute vieles wieder, das zunehmend erschreckend an die zeit zwischen erstem und zweitem weltkrieg erinnert und dem all jene gern folgen, die sich vorteile davon erhoffen oder destruktive gefühle abreagieren wollen: die gering entwickelte fähigkeit zum eigenständigen und unabhängigen denken, ideelle orientierungslosigkeit, die neigung zu stereotypen weltbildern, die kritiklose übernahme kollektiver vorurteile, mangelnde konfliktkompetenz gegenüber ungewohntem, permanente projektionen, das sündenbockprinzip, die vermeintliche stärkung gestörter identitäten durch feindbilder, die kompensation von demütigungen, minderwertigkeitskomplexen und der eigenen ich-schwäche durch grobe urteile über andere, eine kleinbürgerliche wagenburgmentalität, die alles fremde für bedrohlich und minderwertig halten läßt, die ablehnung, abwertung und verachtung anderer kulturen, religionen und lebensweisen, nationalismus, völkische grenzziehungen, rassistische ressentiments, den glauben an eine erblich bedingte eigene überlegenheit, verhaltenslehren der kälte, sehnsüchte nach autoritärer herrschaft und ordnung, die schnelle und teils fanatische befürwortung von zwangsmaßnahmen und bestrafungen, die kriminalisierung humanen handelns, die zunahme eines egoistisches verhaltens, das kaum noch rücksichten nimmt, eine fortschreitende enthemmung der gewalt, mordaufrufe und morddrohungen, anschläge gegen minderheiten, politische morde. und jedes vorurteil und feindbild fördert andere vorurteile und feindbilder, deren strukturen immer gleich bleiben, während die opfergruppen, auf die man sie überträgt, leicht austauschbar sind und daher wechseln.
wenn die heutige dummheit vor allem eine dummheit des privaten ist, die sich durch medien und meuten vervielfacht, so hat sie doch gesellschaftliche ursachen. wo permanent egoismus gepredigt wird, muß man sich über extreme egoisten nicht wundern. weil es an substantieller systemkritik fehlt, macht die grobe systemkritik karriere. wo das eintreten für soziale gerechtigkeit als naiv gilt, denken tatsächlich jene naiv, die glauben, das mißachten sozialer rechte räche sich nicht. wenn täuschung und betrug, öffentlich und privat, allgemein üblich werden, wählen die menschen zuletzt diejenigen, die am konsequentesten lügen.
andré schinkel kritisierte wiederholt das »Wolfsgesetz«, das unter menschen herrscht, und die wölfische gesellschaft. ich frage mich, ob die sympathie mancher für den wolf nicht auch mit dessen räuberischem charakter zusammenhängt. wölfe waren oft mit jägerundkriegerkulten verbunden. die »Ilias« vergleicht die kämpfenden krieger vor troja mit wölfen. bis heute heißen jagdhunde meute. es ist gut möglich, daß sich die frühen menschen die hordenjagd von der rudeljagd der wölfe abgeschaut haben. die meutebildung bei menschen wäre dann eine nachfolgeform davon. teilweise wurden aus jägerundkriegergemeinschaften später räuber und plünderer, ebenso wie umgekehrt raubrittern adlige folgten und invasoren unternehmer. womöglich wird man eines tages an ortseingängen deutscher städte schilder mit der aufschrift: »Mut zum Wolf!« aufstellen, auf denen rotkäppchen abgebildet ist, das den wolf umarmt und küßt.
im gedicht »Handstand. Für Uwe Pfeifer«, den maler aus halle an der saale, von 2016 kann der leser eine metaphorik entdecken, die magischem oder phantastischem realismus nahekommt: »An die chthonischen Dinge gebannt, bleibt uns nur zu / Schauen, wie ihre Auren und Leiber entfliehn: zart / In unsere Träume geschient, die Füße zu uns gereckt; // Die Hände, den Kopf schon in den gesperberten Wolken / Andrer Gestirne, und seien’s die kleinsten der Monde, / Wo man den Glanz, die Schönheit von Engeln noch schätzt.« und »Wann hat einer einen Engel schon auf dem Kopf wandeln / Sehn … es reden nur die ältesten Legenden davon«.
im ägyptischen totenreich könnte man sich auf dem kopf stehende oder gehende verirrte engel vorstellen. außerdem dürften vom himmel fallende engel häufig kopfüber stürzen. und ist nicht alles, das real wird, letztlich ein stürzender engel? beim blick in den himmel wittert andré schinkel zudem meteoriten und asteroiden, die kommen, man weiß nur nicht, wann. wenn uns der himmel auf den kopf fällt, werden wir das leben kennen. der moment vom herabbrechen des himmels bis zum aufschlag kann der zeitraum der höchsten, oder tiefsten, erkenntnis sein, was unter anderem erklären würde, weshalb einsichten lebensreal meist wenig nutzen.
dichtung und kunst können selbst etwas zeitloses und überwirkliches und damit auch jenseitiges und unterweltliches haben. auf dem grabstein von paul klee steht eine passage aus einem seiner gedichte: »Diesseitig bin ich gar nicht faßbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug.«, am grab von kurt schwitters hingegen: »Man kann ja nie wissen.« durch ironie läßt sich das heilige bewahren, wo man es sonst nicht mehr wahrnimmt. philippe soupault amüsierte das begräbnis von francis picabia: »Warum / wolltest du daß man dich mit deinen vier Hunden begräbt / einer Zeitung / und deinem Hut / Du hast darum gebeten daß man auf dein Grab schreibt / Gute Reise / Man wird dich auch dort oben für einen Irren halten«. der himmel hat eine ziemliche fallhöhe, die klee und schwitters durch einfühlung ins menschliche und selbstironie abdämpfen konnten. picabia gelang dies mit seiner inszenierten seelenreise nicht. dabei hatte er selber einst geschrieben: »Beim Betrachten der Truthähne, Pfauen, Gänse, dem Rahm der Gesellschaft, steigt mir die Säure in den Magen.«
in edgar allan poes erzählung »Das Manuskript per Flaschenpost« versteckt sich die schiffbrüchige hauptfigur auf einem totenschiff, bis klar wird, die dort agierenden personen, alles ozeanische geisterfahrer, erkennen den lebenden nicht, das heißt haben keine ahnung von seiner anwesenheit, und er konstatieren muß: »Wir sind sicherlich dazu verdammt, immerfort vor den Pforten der Ewigkeit umherzukreuzen, ohne uns endgültig in die bodenlose Tiefe zu stürzen.« poe bezog diese konstellation, das ausweglose leben unter den totenseelen eines totenschiffes inmitten der tosenden weltmeere, auf die grundsituation des schriftstellers, oder überhaupt kreativer und gebildeter menschen: »Es ist meinerseits völlig töricht, mich zu verbergen, denn die Leute sehen nicht.« und »Es ist wahr, daß ich keine Gelegenheit finden mag, es der Welt zu übermitteln, aber ich werde nicht versäumen, den Versuch zu machen. Im letzten Augenblick werde ich die Aufzeichnungen in einer Flasche verschließen und diese ins Meer werfen.« die literarische flaschenpost poes kam ans ufer und wurde gefunden. denn wir können ihn ja lesen. diese hoffnung bleibt also.
beim betrachten des cover-motivs dachte ich zunächst an beeren, dann an bakterien. es zeigt jedoch blütenpollen unterm mikroskop, was mir den poetischen und geistigen blütenstaub der jenaer frühromantiker um novalis und friedrich schlegel ins gedächtnis ruft, der auch nach halle geweht wurde. andré schinkel selbst fühlt sich kulturell nach thüringen hingezogen. der titel »Bodenkunde« verweist, indem er archäologische, geologische, geographische und biologische motive assoziert, ebenfalls auf zeitundraumübergreifende zusammenhänge, die, neben menschlichen aktivitäten, das kleine wachstum der pflanzen ebenso umfassen wie große erdbewegungen.
im aufsatz »Über den Gegensinn der Urworte« wies sigmund freud darauf hin, daß boden im deutschen das oberste und unterste im haus bedeute, erdundfußboden sowie dachspeicher. der dachboden, der kornboden, heuboden, malzboden, nahm als vorrat auf, was der boden der erde gegeben hatte. lateinisch fundus = boden, grund(stück), landgut, autorität, maß und ziel, siehe zudem profundus tief, tiefliegend, bodenlos, unergründlich, unermeßlich, ist verwandt mit mittelirisch bunad = ursprung. irisch heißt die anderswelt, das keltische jenseits, unter anderem ort ohne grund.
neben den mythen und der sprache bietet die natur einen rückzugsraum. andré schinkel weiß, ahnt und fragt, was in und aus dem boden wächst und welche wesen darauf leben. wenn es in der neueren deutschsprachigen lyrik vielfach biologische motive gibt, so könnte das eine reaktion auf die dominanz der technologien und das fortschreiten des klimawandels, und damit der naturverdrängungundzerstörung, sein. was vergeht, soll wenigstens in worten bewahrt bleiben. das erinnert an die ausgestopften ausgestorbenen vögel in museen. in »Bodenkunde« erscheinen über 50 tierarten, die hälfte davon vogelarten. im nachwort zum lyrikband »Löwenpanneau« von 2007 erklärte andré schinkel: »Der Künstler will Fleisch und Luftwesen zugleich sein.«, also auch auffliegen können, zumindest geistig, seelisch und literarisch.
der leser findet löwe, hirsch, wildschwein, wolf, hund, katze, pferd, stier, schaf, kaninchen, maus, falke, bussard, nachtigall, lerche, amsel, star, meise, rotkehlchen, grasmücke, weidenlaubsänger, sperling, buchfink, taube, schwan, storch, gans, kranich, reiher, kormoran, rabe, elster, eichelhäher, eule, kolibri, totenkopffalter, seefalter, rosenkäfer, bombardierkäfer, schwanzlurch, unke, tintenfisch, forelle, barsch, rotfeder, keilfleckbarbe, koralle, auster und molluske, daneben phantasiewesen wie minotaurus, greif, blutschink und harpyie, die beides sein kann, real und mythisch. der vorspruch zum band, »Hic sunt leones et dracones«, der auf mittelalterlichen weltkarten die terra incognita, das unbekannte, unerforschte, fremde, gefährliche land bezeichnet, bezieht sich wohl auch auf die länder gegenwärtiger löwen und drachen, oder schlangen, was in der antike fast dasselbe war. dennoch wollen wir die positiven bedeutungen der schlange als symbol der klugheit bei friedrich nietzsche nicht vergessen.
ähnlich wie bei seamus heaney erscheint bei andré schinkel die amsel öfter, der, neben krähen, sperlingen und tauben, visuell und akustisch vertrauteste vogel hiesiger städtebewohner, unter anderem als sänger einer variantenreichen, also kreativen, harmonie. eine über den weg fliegende amsel war deutsch ein glückszeichen. auch wer amseln im winter fütterte, sollte glück haben. weil sie auf der erde nistet, gehörte die amsel zur griechischen erdgöttin gaia, laut hesiod die erste göttin, die dem urchaos entsprang, was ebenfalls zum buchtitel »Bodenkunde« paßt.
um 1800 war die amsel, die man die einsame nannte, noch ein scheuer waldvogel, der verborgen auf waldlichtungen lebte. erst seit knapp 200 jahren dringen amseln in bewohnte gebiete vor. heute leben sie, typische kulturfolger, ganz selbstverständlich in städten und haben menschen gegenüber ihre scheu verloren. männliche amseln ahmen sogar klingeltöne nach. man kann nur einen meter entfernt an einer amsel vorbeigehn, die auf einem zaun oder einer hecke sitzt, ohne daß sie auffliegt. wenn man jedoch vor ihr stehen bleibt, fliegt sie davon. die veränderung im vertrauten bewegungsablauf eines ungeflügelten zweibeinigen stadtbewohners wird als zeichen der gefahr wahrgenommen. georg trakl, der im gesang der amsel vor allem eine klage hörte, schrieb: »wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft, / Dieses ist dein Untergang.«, albert ehrenstein: »Fortflog melodischer Schatten der Amsel, / Süß umnachteter Ton, / Schwarzer Vogel Musik.«, else lasker-schüler »Fielen die Amseln wie Trauerrosen / Hoch vom blauen Gebüsch«. so sind auch im motiv der amsel sehnsucht und angst verbunden, und damit weite und enge, weshalb sehnsucht und weite immer erneut die ängste und die enge überwinden müssen.
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Bodenkunde, Gedichte von André Schinkel, Mitteldeutscher Verlag Halle 2017
In seinen neuen Gedichten, die den Nachfolger seines 2007er Bandes Löwenpanneau bilden, sieht man André Schinkel mit der Vertiefung seiner poetischen Sichten befasst. Die Texte von Bodenkunde entstanden in einer bewegten Phase des Autors und sprechen über den Zweifel an der und die Hoffnung auf die Liebe, sie reden in Amouren und Rondellen über die Schönheit und den Schrecken der Welt, ihrer Gegenwart als zu entdeckendes Paradies, berichten von inneren wie äußeren Reisen, Gestirnen, vom Licht und der Sehnsucht. Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
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