Inzwischen gehen die gelehrten Religionsdeuter davon aus, dass es rund 33.000 rechtlich eigenständige christliche Religionsgemeinschaften oder Kirchen gibt.
Friedrich Wilhelm Graf, Götter Global (2014)
Mitte des 14. Jahrhunderts schrieb Giovanni Boccaccio seine stilprägende Novellensammlung „Das Dekameron“, ein von charmantem Witz und Realismus geprägtes Meisterwerk der Renaissance. Darin enthalten ist eine kurze prosaische Erzählung, die gut 400 Jahre später Lessing zu seinem berühmten Drama „Nathan der Weise“ inspirierte und in der deutschen Aufklärung geradezu zum Paradebeispiel für gelebte religiöse Toleranz und Aufgeschlossenheit wurde: die Ringparabel.
Das, was Boccaccio im spätmittelalterlichen Florenz zu Papier brachte, war damals nicht weniger als heute alles andere als opportun, stellte er sich doch tatsächlich die ungeheuerliche Frage, welche der drei abrahamitischen Religionen der Vorrang gebührt. In katholischen Ohren muss das wie blanke Blasphemie geklungen haben. Sein Verfasser: ein Sünder, Ketzer, eindeutiger Kandidat für Dantes Purgatorium. Den Mördern des Messias den Vorrang einräumen? Oder gar den gottlosen Schlächtern aus den Wüsten Arabiens? Und doch – Boccaccio nahm sich ganz unverfroren die Freiheit, an exponierter Stelle, in der dritten Geschichte des ersten Tags, ein Plädoyer für die Toleranz der verschiedenen monotheistischen Religionen untereinander zu halten, die wir heute so schmerzlich vermissen:
„Jedes der Völker glaubt seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es sie befolge. Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die Frage noch unentschieden.“
Unentschieden bis heute. Weil nicht zu entscheiden. Sagt eine Minderheit, die sich selbst als religiös tolerant und aufgeklärt empfindet. Die überwiegende Mehrzahl der rund 4 Milliarden Vertreter der drei monotheistischen Weltreligionen aber, und zumindest darin sind sie sich völlig einig, widerspricht der Ansicht mit größtmöglicher Entschiedenheit. Denn auch heute noch hält sie einzig das für wahr, woran jeweils sie glaubt. Es gibt für sie nur eine Wahrheit: die eigene. Alles andere als die eigene Sicht der Dinge ist Häresie. Blasphemie. Frevel. Götzenkult. Und wie mit dem zu verfahren ist, der nicht dem rechten Pfad des Glaubens folgen will, ist dann letztlich immer nur eine Frage der jeweiligen Stimmungslage und Machtverhältnisse. Da reicht die Bandbreite von gütiger Gleichgültigkeit bis hin zu blutrünstiger Rache. Immer schon, seit Jahr und Tag.
Christentum. Judentum. Islam. Zu Boccaccios Zeiten war die Welt, zumindest was die Religionen betraf, noch halbwegs in Ordnung. Sicherlich, es gab auch damals schon Sunniten, Schiiten und Charidschiten, Katholiken, Orthodoxe und Kopten. Und auch im Judentum lagen sich diverse divergierende Strömungen bisweilen in den Haaren. Aber alles in allem war es doch eine durchaus überschaubare Situation mit recht klaren Fronten und Abgrenzungen. Geradezu paradiesische Zustände im Gegensatz zu heute. Insbesondere, was das Christentum betrifft:
„Inzwischen gehen die gelehrten Religionsdeuter davon aus, dass es nun rund 33.000 rechtlich eigenständige christliche Religionsgemeinschaften oder Kirchen gibt.“
Dreiunddreißigtausend. Das, was Friedrich Wilhelm Graf hier beschreibt, ist nichts weniger als die vollständige Fraktalisierung des Christentums in eine unüberschaubar gewordene Anzahl von „Christentümern“. 33.000 christliche Religionsgemeinschaften, von denen im Zweifelsfall jedes einzelne Kirchenvolk „seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben“ glaubt, damit es von allen befolgt wird.
Das gäbe der Ringparabel nicht nur mathematisch gesehen eine mithin exponentielle Dimension, das wirft auch eine geradezu satirisch anmutende, grundsätzliche Frage auf: Wovon reden wir hier eigentlich, wenn wir von ‚christlich’ reden? Haben alle 33.000 tatsächlich eine gemeinsame oder zumindest konsensfähige Vorstellung davon? Sind sich alle darin einig, was eine Kultur zu einer ‚christlichen’ Kultur macht und welche Werte ‚christliche’ Werte sind? Und was ist mit dem endzeitlichen Schreckensszenario, das derzeit auf sächsischen Montagsdemonstrationen und diversen Wahlveranstaltungen deutschlandweit radikal-nationalistisch als „muslimischer Migrationstsunami“ apostrophiert wird, dem unweigerlich der Untergang unserer abendländischen Kultur und christlichen Werte folgen wird – Werte, von denen keiner so recht weiß, um welche es sich eigentlich handelt?
‚Bibeltreue’ vielleicht, wie sie evangelikale Christen gerne predigen und damit nichts anderes meinen als ihr wortgetreues, streng konservatives Verständnis der Bibel? Oder die Werte, die die Bergpredigt uns lehrt? Ist es allein der Glaube an Gott, aus dem sich alle anderen Werte ableiten? Sind es eher allgemeine Tugenden? Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe? Sind die christlichen Werte also womöglich gar nicht originär christlich? Das würde zumindest die Ansicht des muslimischen CDU-Politiker Bülent Arslan nahelegen: „Wenn man sich die Werte ansieht, die im CDU-Grundsatzprogramm enthalten sind, dann sind das alles Werte, die man als aufgeklärter Muslim auch im Islam wieder finden kann: Gerechtigkeit, Freiheit, die Bedeutung der Familie.“ Christliche Werte in Übereinstimmung mit islamischen Werten? Der Koran also doch nicht menschenfeindlich? Was wohl Frau Steinbach entsetzt dazu twittern würde? Und was Ted Cruz, der Liebling derEvangelikalenund letzte Ausfahrt des republikanischen Establishments vor Donald Trump? Oder die erzkonservative, altkonfessionelle lutherische Bekenntniskirche, der auch die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder angehört? Gibt es denn nicht wenigstens so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner, einen verbindlichen Kanon christlicher Werte unter Kopten, griechisch-/bulgarisch-/serbisch-/russisch-Orthodoxen, Syrisch-Katholischen, Maroniten, Thomaschristen, Evangelikalen, Kreationisten, Neo-Baptisten, Pfingstlern, Katholiken, Alt-Katholiken, Reformierten und Protestanten?
Nein. Gibt es nicht. Zumindest keinen mit Werten, die für sich allein beanspruchen können, als rein ‚christlich’ zu gelten. Gerade, wenn man weiß, dass der Islam, zumindest in seiner mekkanischen Phase, so Hamed Abdel-Samad, ganz ausdrücklich „das friedliche Zusammensein mit Andersgläubigen“ betont. Ja, es kommt noch schlimmer, ist doch der Islam uns historisch gesehen deutlich näher, als so manchem lieb sein dürfte: Der Koran ist, nach Christoph Luxenberg, vermutlich ein dem Syro-Aramäischen entlehnter Begriff, ‚qiryan’. Es bezeichnete, so Abdel-Samad, „das Liturgiebuch …, das die syrischen Christen in der Kirche für ihre Gebete in Mohammeds Zeit benutzten“. Und weiter vermutet Luxenberg in seiner korankritischen Analyse, dass eben dieser Koran sogar „christliche Ursprünge hat“, die „sich aber im Laufe der Zeit entwickelt und verselbständigt“ haben. So gesehen ist es kaum verwunderlich, dass die heilige Schrift des Islam Jesus, so Navid Kermani, „das Wort Gottes“ nennt. Und nur ihn. Nicht aber Mohammed. Auch steht seine jungfräuliche Geburt, die unbefleckte Empfängnis Marias, für den Moslem außer Frage. Issa ben Maryam, Jesus, Sohn der Maria, ist nicht, wie der letzte aller Propheten, gezeugt, sondern allein das Ergebnis eines schöpferischen Akts. Ein Imperativ Gottes: Sei! Der Sufismus schließlich, die spirituell-mystische Strömung innerhalb des Islam, geht sogar noch einen radikalen Schritt weiter. Für sie ist Jesus Mensch, „der zum ‚ruhullah’ wurde, zum ‚Geist Gottes’, wohingegen Mohammed ‚rasulullah’ blieb: ‚Gesandter Gottes’, also von Gott unterschieden“.
Bedarf also bereits die Signatur ‚christlich’ einer kritischen Bestandsaufnahme, so ist das bei der Zuschreibung „christliches Abendland“ vollends der Fall. Denn was genau ist damit gemeint, wo doch unsere christliche Historie und Kultur selbst noch bis ins frühe Mittelalter eine in weiten Teilen morgenländische war? Die Heimat der biblischen Überlieferung: Ur. Harran. Ägypten. Kanaan. Babylon. Judäa. Samaria. Augustinus, Sohn einer Berberin. Die ökumenischen Konzile der Alten Kirche, bis zum letzten 787 in Nicäa, fanden ausnahmslos in Kleinasien statt. Lange, bevor Rom zum unangefochtenen geistigen Zentrum des Christentums wurde, waren Alexandria, Antiochia und Konstantinopel der Ewigen Stadt darin mindestens ebenbürtig. Armenien, 301 das erste Land, welches das Christentum zur Staatsreligion machte. Und heute noch gibt es von Äthiopien über Syrien bis zum Irak eine durchgehende christliche Tradition, die deutlich älter ist als die Mitteleuropas.
Aufklärung und das Primat der Vernunft – ein abendländisches Phänomen? Auch solch eine populäre Lesart, die leider nicht ganz zutreffend ist. Bassam Tibi weist nicht ohne Grund darauf hin, dass zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert, beginnend mit Avicenna (Ibn Sina), geradezu ein „islamischer Rationalismus“ geherrscht hat, der mit Averroes (Ibn Ruschd) in al-Andalus seine Blüte fand. Eben dieser Ibn Ruschd ist der wesentliche Vermittler der aristotelischen Philosophie, ohne ihn wäre die gesamte Scholastik von Albertus Magnus über Thomas von Aquin bis hin zu Wilhelm von Ockham und, in ihrer geisteshistorischen Konsequenz, auch die Aufklärung kaum denkbar. Diese geistige Blüte des Islam fand ihr jähes Ende erst „in der Eroberung und Plünderung der Metropole Bagdad durch die Mongolen 1258“ (Ulrich Rebstock).
‚Sagen’ und ‚Meinen’ sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Darauf hat der englische Sprachphilosoph H.P. Grice aufmerksam gemacht. Wenn 33.000 Religionsgemeinschaften ‚christlich’ und ‚christliche Werte’ sagen, meinen sie noch lange nicht dasselbe. Und wenn auf den diversen Montagsdemonstrationen und in allabendlichen Talk-Shows xenophobe, ewiggleiche Blut und Boden geschwängerte Stereotypen skandiert werden und damit theatralisch der Untergang unserer ‚christlichen’ Kultur und Werte beschworen wird – was meinen diese selbsternannten Apologeten des Abendlands dann wohl damit?
Die Bedeutung eines Wortes ist keine simple lexikalische Kategorie, sie ist „sein Gebrauch in der Sprache“ (L. Wittgenstein). Jede Gruppierung konstituiert so ihren eigenen Soziolekt. Auch diese. Und diese sogar ganz gezielt und intentional. Insbesondere bei solchen abendländischen Kernbegriffen. Dabei geht sie in ihrem ganz und gar nicht herrschaftsfreien Diskurs im Sinne unserer unheiligen propagandistischen Tradition noch einen perfiden Schritt weiter: Sie versucht über den redundanten und penetranten Gebrauch dieser Begrifflichkeiten den von ihnen definierten, streng konservativ konnotierten Bedeutungsgehalt als für alle verbindlich zu erklären. ‚Christlich’ wäre somit am Ende genau das, was Pegida und AfD damit meinen.
Nur konsequent, dass die Damen Petry, von Storch, Schröder und Steinbach in diesem sprachlichen Kontext ihr wertkonservatives Frauenbild zur verbindlichen deutschen Heilsperspektive zu verklären versuchen. Und in ihrem Übereifer nicht wahrnehmen, dass sie damit dem Frauenbild eines moderat konservativen Islam weit näher stehen als dem der aufgeklärten, emanzipierten Gesellschaft des Westens. Aber das ist wieder ein anderes Thema…
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2020
Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.