Der Rolls-Royce der Literaturkritik

„‚Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.‘ […] diese arithmetische Formel war so effektvoll wie unaufrichtig: Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, daß ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.“

Aus: Mein Leben, Stuttgart Deutsche Verlagsanstalt 1999

 

 

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Photo: Figurator

Heute wäre der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Die FAZ widmet diverse Seiten dem neben Alfred Kerr wohl prominentesten Literaturchef der Blattgeschichte. Sein Vorgänger im Amt im Haus war Karl Heinz Bohrer, von Reich-Ranicki gern als akademisch und publikumsfern berzeichnet, was dieser im Rückblick gespiegelt offenbar sehr gern zurückgibt: „Reich-Ranicki stand nicht unter dem Kommando einer Theorie, sondern der Anweisung des Lebens. Das prägte seine Sprache. Sie war nicht die eines Intellektuellen, sondern eines Volkspädagogen. … Sein lebenspraktischer Impuls, oft in die Irre führend, demonstriert aber eine imponierende Qualität: Courage. Er hatte keine Hemmungen, sich mit den einflussreichen Verteidigern Handkes anzulegen. Sich Feinde machen – wenn es dem literarischen Urteil galt – war ihm Herzenssache. Kein ihm lieberer Satz als Goethes ‚Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent‘.“ Ein Satz, in dem Marcel Reich-Ranicki im übrgen, wie der online nachgelieferten Frankfurter Anthologie zu entnehmen ist, den „Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt“ sieht.

Marcel Reich-Ranickis Literaturgeschichte kann man auch als eine Liebesgeschichte lesen, die Geschichte eines enthusiastischen und zornigen Liebhabers der deutschen Literatur. Zeit seines Lebens setzte sich der große Literaturkritiker leidenschaftlich für sie ein und scheute sich dabei nie, eine ganz eigenwillige Auswahl der bedeutendsten Autoren und ihrer Werke zu treffen. Denn „der Verzicht auf einen Kanon“, so seine Überzeugung, „würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten“. Nun erscheint die bisher umfassendste Sammlung der wichtigsten und besten Essays dieses passionierten Streiters. Sie vermittelt ein so begeisterndes wie provozierendes Bild jener deutschen Literaturgeschichte, in der Reich-Ranicki seine Heimat fand, von den Minneliedern im Mittelalter über Lessing, Goethe, Hölderlin, Heine, Fontane, Thomas Mann, Kafka, Brecht und Arnold Zweig bis hin zu den großen Schriftstellern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Günter Grass, Martin Walser, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek. Der Band, herausgegeben von Thomas Anz, einem langjährigen Begleiter Marcel Reich-Ranickis und versierten Kenner seines Werkes, weist neue, immer wieder überraschende Wege auf der Suche nach einer Literatur, die so intelligent, fesselnd und schön ist, dass man sie ein Leben lang lieben kann.

2005 modellierte der Bildhauer Wolfgang Eckert den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in dessen Wohnung. Bei der abgebildeten Porträtplastik handelt es sich um eine in Gips gegossene und farblich gestaltete Plastik. Die Aufnahme entstand im Atelier des Künstlers, in dessen Besitz sich die Plastik befindet. Eine weitere Version, die der Künstler Marcel-Reich-Ranicki als Leihgabe überließ, befindet sich in Schottland, bei den Nachkommen Ranickis. Einen Bronzeguss hiervon erwarb die Stadt Frankfurt am Main 2018.