Empfundene/erfundene Welten

Und tief unten im Wasser, im Schlamm und Schlick sind die Gegenstände der erzählten Geschichten verborgen.

Norbert Scheuer

Die Einwohner lieben die farbige Heiterkeit, und das vom Wasser widergespiegelte Licht verleiht ihr das Geleucht eines traumhaften Südens, lese ich in Eugen Gottlob Winklers Erzählung Die Insel, während die Gedanken, wen wundert’s, weiterhin bei der vor weniger als einer Stunde beendeten Lektüre von Norbert Scheuers – das Leporello von Angst, Betrug, Chaos, Desillusion, Gier, Intrige, Liebe, Sehnsucht, Treulosigkeit, Verlust, Verrat, Verstrickung, Zermürbung auffaltenden – Roman Am Grund des Universums verharren wollen: Nicht nur die düsteren Farben des gewaltigen Bildes vom See, der einer wüsten Landschaft glich, überschwemmen den großhirnrindigen Teil der Windungen bis in die entlegensten Furchen und Gräben.

Am schlammig-sumpfigen Ufer sehe ich, wie kann das sein?, den Dichter T. S. Eliot stehn, verwundbarfuß, graue Hosenbeine hochgehempelt, Flüstertüte in der einen, Blätter von The Waste Land in der andren Hand; unklar bloß wahrzunehmende Wortfetzen – a / heap / of / broken / images / where / the / sun / beats / and / the dead / tree / gives / no / shelter – werden vom böigen Wind in alle fünf Himmelsrichtungen verweht.

In diesen M∙i∙n∙u∙t∙e∙n, in denen ich mich nach nichts mehr sehne, als einfach bloß innezuhalten, werden, unverlangt, aus sich heraus, einander überlagernde Zeilen wie So tritt die andere Welt in Erscheinung: in einer Nonne, die mit weißem Gesicht unter den Uferweiden die Stundengebete liest, im Turmgeläut oder im Chorgesang; am innigsten aber, wenn im Frühsommer an Fronleichnam die farbenprächtige Prozession zu Schiff auf dem See einherzieht als jugendlich verklärter Blick eines offenbar frohgemuten Erzählers in Winklers Geschichte und jäh erinnerte Verse wie der Tod ist ein kleiner Zinnsoldat / den jeder von uns in der Tasche seines schwarzen Anzugs trägt / in alle Himmelsrichtungen waren Altäre aufgebaut / Blütenteppiche aus Lupinen und Ginsterblüten / der Pastor durfte über die Blütenteppiche gehen / und zwei Kinder mit der Haushälterin / die Musikkapelle spielte an jedem Altar / dasselbe traurige Lied / spuckte Tropfen von den Rändern der Posaune / vom Wind in alle Himmelsrichtungen über Felder getragen von einer trübsinnig klingenden, ›Erhabenes‹ als traurig empfindenden lyrischen Knabenstimme in Norbert Scheuers Gedicht Fronleichnam ins Bewußtsein katapultiert.[1] Sekunden später sitz ich am Schreibtisch im Lyrikzimmer, fahr den Rechner hoch, beginne Wörter aufs virtuelle Papier zu schlagen, kann nicht umhin zu denken: Aller Anfang ist schwer (Ovid) / Aller Anfang ist heiter (Goethe) / Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne (Hermann Hesse).

Vor ein paar Tagen, denke ich weiter, lese ich in Postcards : Life cripples us up in different ways but it gets everybody. It gets everybody is how I look at it. Gets you again and again and one day it wins.[2] An jenem eher kühlen, weich bemölkten Vormittag wird während des a∙u∙s∙g∙e∙d∙e∙h∙n∙t∙e∙n Frühstücks zu fünft über Geschichten gesprochen, die Norbert Scheuer im Lauf der Jahre erfunden, niedergeschrieben und in Romanform veröffentlicht hat; es ist, wie so oft, wenn wir beisammensitzen, ein flottes Hin und Her frech formulierter Reflexionen, die mich unvermittelt zum Kugelschreiber greifen lassen, um den einen oder anderen Gedankenfetzen im zufällig neben mir auf der Eckbank liegenden Notizbuch stichwortartig festzuhalten, bevor ich mit dem Lesen des am Abend zuvor begonnenen Romans Am Grund des Universums fortfahre.

Nach der rauschhaften Lektüre der ersten siebzig Seiten – die wässerne Klarheit der Ausdrucksweise, die mit flatternden Schmetterlingen, glitzernden Wellen, fliegenden Fischen beseelten, verdichteten Sätze, die Riesensprünge nach China und Griechenland b∙e∙g∙e∙i∙s∙t∙e∙r∙n mich, und ich denke, ja, Urftland ist nicht bloß Baumland, Urftland ist auch: Traumland[3] – schnellen die Gedanken, nachdem sich Winklers Zeilen und Scheuers Verse (wie die Nebelschwaden, die in den Sorgenstunden der vergangenen Tage sehstundenlang den Blick in den Garten versehrten) wohin auch immer verzogen haben, um zehn Jahre zurück. Ich lege das Buch auf die Sessellehne, schließe die Augen – und:

Alles, was je gewesen ist,

treibt jetzt mit uns auf dem Fluss zum Rauschen hinunter

Beschreibt ein Beschreibender durch seine Beschreibung nicht mehr sich selbst als das, was er beschreibt?

Thomas Stölzel

2009 lese ich den Roman Überm Rauschen. Ein düste­r-melancholisch tönendes, in der abgründigen Tiefenstruktur ganz stilles, von religiös gefärbten, magisch vibrierenden Naturfäden durchwirktes Buch, denke ich und erinnere mich an Thomas Stölzels Notizbücher eines Menschenforschers, in denen ich auf Emil Cioran stoße, der zu François Bondy sagt: Ich glaube, man erkennt bei jedem Schriftsteller, ob es Tag- oder Nachtgedanken sind, die sich seiner bemächtigen. (Ist das so?)

Ich nahm mir für einige Tage frei und fuhr nach der Arbeit mit dem Zug in die Eifel. Seit Jahren war ich nicht mehr zu Hause gewesen, hatte nur wenig von meinem Bruder und den Schwestern gehört. Zuletzt war ich nicht einmal mehr zu Mutters Geburtstagen und an Weihnachten nach Hause gefahren. Alles, was ich über meine Familie erfuhr, stammte von gelegentlichen Telefonaten mit Alma oder von den Kassetten, die Hermann mir weiterhin regelmäßig schickte, deren Inhalt aber immer verworrener wurde.

In Überm Rauschen erzählt Leo Geschichten von zumeist traurig gestimmten, schwerblütig wirkenden (und einem dem ›Wahn‹ verfallenen) Men­schen, die, beispielsweise, beim Fischen in der glitschigen, glitzernden Wasserwelt das zu vergessen, verlernen, verdrän­gen suchen, was diejenigen, die die Schäflein bereits im trocknen zu haben glauben (man versteht, was ich meine), beispielsweise ›Realität‹ nennen:

Während ich meinen Köder wieder und wieder auswerfe, vergesse ich alles um mich herum; alles, was je gewesen ist, vergesse ich, und es gibt nur noch den Fisch. Manchmal glaube ich, ihn zu sehen, Wallungen des Wassers, die scharfe Kante einer dunklen Rückenflosse, die sich kurz herausschiebt und wieder abtaucht. Vielleicht ist alles nur ein Hirngespinst, denke ich.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, fragt Paul Watzlawick im gleichnamigen Buch – weiß man’s? –, while Karen Joy Fowler reminds me in her novel We Are All Completely Beside Ourselves that according to solipsism, reality exists only inside your own mind.

 

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Winterbienen im Urftland ∙ Empfundene / erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten – Pop Verlag, Reihe LESEZEICHEN Band 5 ∙ 128 Seiten ∙ Broschur ∙ 2019

Man sollte Werke nicht zwingend an autobiographisches Material rückkoppeln. „Von daheraus“ (Hub Stevens), goutiert KUNO diese buchübergreifende Korrespondenz als Dokument eines geglückten kritischen Regionalismus. Diese Werke vergleichend zu untersuchen, ist aus zahlreichen Gründen sehr naheliegend, daß es nicht weiter gerechtfertigt werden muss. Breuers Studie konzentriert sich weitestgehend auf Scheuers Werk. Im Fokus stehen Fragen, wie Scheuer als Repräsentant des poetischen Realismus wirkt und worin die jeweilige Modernität beim Umgang mit dem traditionsreichen Sujet der Imkerarbeit liegt. Es ergeben sich bei der Lektüre spannende Mesalliancen in Werken von Norbert Scheuer und Theo Breuer. Für den Leser ist leicht nachvollziehbar, daß Breuer seine eigenen Vorgaben und seinen Anspruch bei der Textherstellung auch tatsächlich eingelöst hat. Ein interessantes Variantenverzeichnis aus dem Hinterland, und wahrscheinlich die gelungenste seit dem unvergessenen Aufenthalt von Caroline Peters in dieser Region.


[1] Auf dem Gang von Raum zu Raum fällt mir Hartmut Wewetzers Zeitungsartikel ein (oder stelle ich mir das bloß vor?), in dem es unter anderem heißt, der amerikanische Philosoph Daniel Dennett halte das Bewußtsein für eine Illusion. Das menschliche Gehirn habe es erzeugt, um eine nutzerfreundliche Bedieneroberfläche zu haben. Das Bewußtsein sei aus seiner Sicht eine Trugwahrnehmung, entfernt vergleichbar einer optischen Täuschung – oder der Bildschirmoberfläche des PCs oder iPads: Wenn du wirklich wissen willst, was los ist, musst du hinter die Kulissen blicken. (»Aber«, frage ich die in Büchern von Benn und Krier blätternden Bensch und Kraus, mich im Lyrikzimmer umschauend: »Wo fangen die Kulissen an – und wo hören sie auf?« Auf eine Antwort kann ich lange warten. (Bei Truman Burbank waren’s – frage und schreibe: mehr als neunundzwanzig Jahre.)

[2] Postcards ist ein 1993 erschienener us-amerikanischer Roman von Annie Proulx. Darin werden ebenso Postkarten geschrieben (u. a. von einem für immer aus der Heimat geflohenen ›verlorenen Sohn‹) wie von Paul Arimonds ›verlorener‹ Mutter Lydia, die auf Nimmerwiedersehn aus Kall, Eifel verschwindet, in Am Grund des Universums.

[3] Urftland – schlicht und ergreifend: eine wunderbare Wortschöpfung; zudem mehrgründig mäandernde Erinnerungen an die Lektüre von Christian Krachts knorrigem Faserland, John Ronald ReuelTolkiens unter anderem im traumländischen Shire – Auenland – angesiedelten The Lord of the Rings (der nach 1069 Seiten mit einem locker-flockigen Well, I’m back zu Ende geht) sowie Thomas Pynchons virtuellrealistischem Vineland wachrufend. Und mit dem Namen des Flusses Urft fließen die Flußnamen in die Zeile wie einst die Tinte aus dem Füllhalter: Ahr, Brohlbach, Erft, Inde, Kyll, Olef, Our, Rur, Sauer, Wurm (und wie sie nicht alle heißen) – von Rhein und Mosel ganz zu schweigen …

 

 

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.