Neue Subjektivität • Revisited

Wir waren kritisch, wir waren links, wir waren den Drogen zugeneigt, wir waren sexuell freier als die Elterngeneration, und die Lyriker unter uns praktizierten die Dichtung der Neuen Subjektivität… Während die Alternativliteratur in der Literaturgeschichte überhaupt keinen Platz hat, wird die Dichtung der Neuen Subjektivität immerhin erwähnt, aber immer abfällig als größtmögliche Niederung von Lyrik überhaupt …

Peter Salomon

„Unter den Talaren Muff von Tausend Jahren!“ riefen die Studenten 1968 auf Deutschlands Straßen. In Berlin, Frankfurt, München und vielen anderen Universitätsstädten der damaligen Bundesrepublik Bundesrepublik machten sie ihrem Unmut Luft. Mit Protestmärschen und Gleisblockaden demonstrierten sie gegen die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen im Deutschland der 1960er Jahre.

War die die sogenannte 1968er-Studentenrevolte die „Minderheit einer Minderheit“, so hat sie doch in die erste Hälfte der 1970er Jahre einen Eindruck hinterlassen. Die Minderheit von eben dieser Minderheit findet sich nicht zuletzt als Spurenelement in der Literatur und im Literaturbetrieb. Den Neckermann der Subkultur hat man Josef „Biby“ Wintjes genannt, er vertrieb die Zentralorgane des Undergrounds. Die Alternativpresse erlebt einen Boom, es gründen sich Mags wie Gasolin 23 oder Der fröhliche Tarzan . Im Januar 1970 erschein der erste offizielle Titel im Maro Verlag. „Und“ heißt die Publikation, sie erschein in einer 200er-Auflage. Autoren der ersten Ausgabe sind unter anderem Guntram Vesper und Heike Doutiné, später schreiben auch Jörg Fauser und F. C. Delius für „Und“. Mit dem Maro verbindet allem den Namen Charles Bukowski. Benno Käsmayr veröffentlicht 1974 dessen ersten Lyrikband auf Deutsch „Gedichte die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang“. In den Siebzigern gehört Maro neben Melzer, März und Kiepenheuer & Witsch zu den Verlagen, die den US-Underground in Deutschland fördern. Autorinnen und Autoren wie Anne Waldman, Al Masarik, Jack Kerouac, John Fante und La Loca veröffentlichen in den Folgejahren bei Maro. War das damals tatsächlich eine gravierende Umwälzung oder nur der übliche Aufstand der Jungen gegen die Alten beziehungsweise lediglich ein spontaner Aufbruch gegen den eingefahrenen Literatur-Betrieb?

Kann man sich, wie Hans Magnus Enzensberger meinte, in Bezug auf die siebziger Jahre „kurz fassen“ und nicht wirklich verlangen, dass man ihrer „mit Nachsicht gedächte“?

Die Herausgeber stellten diese Fragen diversen Gewährsmännern etliche Jahre nach den „Gegenbuchmessen“, etwa der Mainzer Minipressen-Messe (MMPM) und dem Kampf der „kleinen Bertelsmänner“ gegen das etablierte Verlagswesen noch einmal, wollen von den damaligen Protagonisten (über die Auswahl läßt sich trefflich streiten) der sogenannten „Gegenkultur“ wissen, wie sie jene Zeiten erlebt haben, welches für sie die bestimmenden Momente waren und was von all dem für sie bis heute nachwirkt. Dieser Band führt die Larmoyanz einer Jugend vor Augen, die maniakalisch bloß um sich selbst kreist und den eigenen Nabel für den der ganzen Welt hält. Er beschreibt eine sich im ungesunden Egoismus einrichtende Generation, die in der Konfrontation mit dem wirklichen Leben und der harten Politik einzig noch Gefühle der Leere und Ohnmacht zu offenbaren in der Lage ist. Die meisten Autoren der „neuen Innerlichkeit“ schwanken zwischen massloser Romantik und der Attitüde des Coolbleibens hin und her und sind tatsächlich zutiefst verunsichert. Bei aller Subjektivität der Ansichten gibt es bei den Autoren eine Übereinstimmung: Die Urzelle der Nonkonformistischen Literatur ist das INFO. Von 1969 bis 1990 gab Josef „Biby“ Wintjes erst monatlich, die längste Zeit dann jedoch zweimonatlich, die Zeitschrift Ulcus Molle Info heraus.

rhein// brachland mit raben bäume aus dem wasser/ ragen wir entwurzelte hasen schellen an den/fängen die mit brückenschwarzen schnäbeln/ hacken uns am ufer stapeln: lesbare skelette.

Barbara Maria Kloos

Gegen Ende der 1960er-Jahre wurde von Medien und Kommunarden unisono die sogenannte sexuelle Revolution ausgerufen, in deren Gefolge die seit jeher wohl mehr Liebesleid als Liebesfreud stiftenden Beziehungswirren nicht nur in den Kommunen und Wohngemeinschaften exzeptionell um sich griffen. Der literarische Erguß mündete in die sogenannte „Neue Innerlichkeit. Der interessanteste Autor ist die einzige Frau, die in diesem Band vertreten ist: Barbara Maria Kloos. Sie war von 1978 bis 1985 Mitbegründerin und Herausgeberin der Münchner Literaturzeitschrift federlese. 1988/90 war sie verantwortliche Literaturredakteurin bei der Zeitschrift litfass (Piper Verlag) und dem StadtMagazin München. Sie blickt auf den Abenteuerspielplatz jener Zeit zurück und sieht im gegenwärtigen Literaturbetrieb nur noch eine »pädagogische, kapitalismusaffine, staatlich subventionierte Kaderschmiede«.

Ich wollte die Lyrik erneuern, indem ich ihr alles Weihevolle nahm und sie hereinholte in mein tägliches Tun und in das bisweilen turbulente Geschehen um mich her. Sogar die Namen in den Gedichten waren die richtigen, meistens jedenfalls.

Jürgen Theobaldy

Wie es sich für die „Neue Subjektivität“ gehört, sollte es in den erbetenen Beiträgen um die persönliche Perspektive, also keine Beiträge über Dritte, sondern eine Darstellung des eigenen Tuns (natürlich mit Bezug auf diese „Dritten“): Warum, mit wem, zu welchem „Endzweck“, was daraus geworden ist usw. Also quasi lauter Einzel-Autobiographien, die die Zeit von Ende der 1960er bis Ende 1970 schwerpunktmäßig umfassen sollten. Und natürlich wie es danach weiterging“, etwa so: „Der Social-Beat hat tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten mit der Neuen Innerlichkeit der siebziger Jahre: viel psychischer Alltagsmüll und Beziehungsabfall werden hier wie dort recycelt, die Frustrationen über gesellschaftliche Missstände und die eigene Ohnmacht mit Biersaufen bekämpft – letzteres vor allem in den Texten der neuen Bewegung. Aber die Innerlichkeitswelle hat wenigstens noch echte Talente hervorgebracht, zum Beispiel Born und Theobaldy.“, konstatiert Axel Kutsch in einem Kollegengespräch.

Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.

Friedrich Hegel

Die Zersplitterung in K-Gruppen erzeugte eine neue Übersichtlichkeit, lesenswert in diesem Zusammenhang der Zeitzeuge Rolf Dieter Brinkmann. Das Ideal der frühen 1970er waren selbstständige und selbstbestimmte Subjekte als literatische Akteure, die neue Identitäten und Loyalitäten jenseits des überkommenen Literatur-Betriebs ergründen wollten. Dabei erwiesen sich alle neoliberalen und neomarxistischen Utopien als irreführend. Viele der skizzierten Annahmen und Überlegungen leuchten unmittelbar ein und decken sich bisweilen mit lebensweltlichen Beobachtungen und massenmedialen Darstellungen. Allerdings verfangen sich die Autoren dieser „kollektive Autobiographie“ in der subjektiven Ausschliesslichkeit ihrer Zeitdiagnose, die der Komplexität des Literatur-Betriebs entgegensteht. Hans Magnus Enzensberger, immer bei jeden neuen Welle als No. zwei zu Stelle, griff den Ausdruck 1980 auf, um einen Gedichtband entsprechend zu betiteln. Im letzten Gedicht des Bandes wird Hegels Gedanke aufgegriffen: Der Furie fällt dort an Historischem zu:

was zunächst unmerklich, / dann schnell, rasend schnell fällt […]; sie allein bleibt, ruhig, / die Furie des Verschwindens.

Diese Analyse gilt insbesondere für die erste Hälfte der 1970er Jahre, dann fegte Punk all dies hinweg, wie Peter Glaser in Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich schlußfolgert, dem folgte chronologisch eine rege Fanzine-Szene, wie sich in einem weiteren Kollegengespräch über den Otto-Versand der Subkultur erschließen läßt. Das Ulcus Molle-Info wurde eingestellt und der erste Blog ging kurz darauf online.

 

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Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie ›alternativer‹ Autoren aus den 1970ern und danach
Hrsg. von Peter Engel und Günther Emig. Mit Beiträgen von Manfred Ach, Wolfgang Bittner, Manfred Bosch, Michael Braun, Manfred Chobot, Daniel Dubbe, Heiner Egge, Peter Engel, Heiner Feldhoff, Ronald Glomb, Frank Göhre, Harald Gröhler, Friedemann Hahn, Manfred Hausin, Martin Jürgens, Benno Käsmayr, Michael Kellner, Barbara Maria Kloos, Fitzgerald Kusz, Helmut Loeven, Detlef Michelers, Alfred Miersch, Peter Salomon, Gerd Scherm, Christoph Schubert-Weller, Tiny Stricker, Ralf Thenior, Jürgen Theobaldy.

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.