Ich sehe den Baum, seiner Blätter beraubt,
In den Lüften sich wiegen, ein gestreckter Kranz
Aus wehenden Ästen, und denke, die Erde
Dreht sich für den Moment eines Blicks um
Die Achse, die durch das Tal dieses Landstrichs
Fährt wie ein Propeller. Der Kauz ruft, die
Spechte in Habacht, und der Kernbeißer
Knackt in der Hasel eine stille Reminiszenz.
Ich sehe den Schatten im Park, an den
Stecklingen entlang, die einen, ja, Hügel aus
Rosen errichten, einen Kenotaph aus Duft
Und raschelndem Schrecken zugleich. So viele
Blätter zu lesen, um Glück zu verschicken
Und Liebe – das zwiespältige Raunen der Dinge
Im Kreis der zart-geflochtenen Adern, dies
Sehnen – nach Gier und: der Ruhe des Blicks.
Das Rauschen der Blätter wie Gold – im
Leid dieser Jahre, da das Schweigen nurmehr
Der Fluß bricht, das Streichen und Bergen
Des Parks an den Fenstern. Siehe, hier ist er
Gepflanzt und soll deinen Namen aufsagen,
Solange Novemberlicht über der Saale ist; und
Seine Spiele treiben – zu leuchten und zu
Berichten von dir. Unter die Gabel des Ginkgo
Sind wir gekommen, um dich zu sehen …
Der Kauz ruft, der Kernbeißer knackt, still in
Der Hasel, für dich eine falbe Reminiszenz,
Die Spechte und Drosseln zucken im Schlaf,
Der Ginkgo berichtet, sagt deinen Namen
Zu uns. Der Fluß bricht sein Schweigen für
Uns. Ich sehe den Baum. Wir sehen den Baum.
Er legt dir ein Blatt auf den blinkenden Stein.
***
Bodenkunde, Gedichte von André Schinkel, Mitteldeutscher Verlag Halle 2017
In seinen neuen Gedichten, die den Nachfolger seines 2007er Bandes Löwenpanneau bilden, sieht man André Schinkel mit der Vertiefung seiner poetischen Sichten befasst. Die Texte von Bodenkunde entstanden in einer bewegten Phase des Autors und sprechen über den Zweifel an der und die Hoffnung auf die Liebe, sie reden in Amouren und Rondellen über die Schönheit und den Schrecken der Welt, ihrer Gegenwart als zu entdeckendes Paradies, berichten von inneren wie äußeren Reisen, Gestirnen, vom Licht und der Sehnsucht. Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.