Zum 160. Geburtstag betrachtet Ulrich Bergmann die noch immer weithin als schlichte Heimatdichterin verkannte Schriftstellerin Clara Viebig.
Die Erzählung „Maria und Josef“, 1899 entstanden, ist ein eindringliches Stück Literatur, eine dramatische Kurznovelle mit einer unerhörten Begebenheit: Josef erschlägt seine ältere Schwester Maria, weil sie seiner Verheiratung mit der Magd Käthe im Wege steht. Die Eltern sind schon gestorben, die beiden Geschwister, seit ihrer Kindheit eng verbunden, betreiben in harter Arbeit den Bauernhof. Josef, der auf die Dreißig zugeht, will Kettche (Käthe), die junge Magd. Aber er kann Maria nicht auszahlen. So kommt es unter sengender Sonne bei der Arbeit auf dem Feld zu der schrecklichen Tat.
Die Handlung ist eingebettet in die gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse, wie sie noch zum Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Lande bestanden. Moralischer Druck in Verbindung mit tief gelebter Religiosität und soziale Kontrolle kommen noch hinzu.
Die meisterhafte Kurznovelle wird in klaren, unmittelbar aufeinander folgenden dramatischen Szenen erzählt: Zu Beginn erfährt Josef von der Magd, dass seine Schwester sie aufgefordert habe, den Hof zu verlassen. Maria hat ihr Schläge angedroht, wenn sie nicht gehorcht. Josef stellt in der zweiten Szene seine Schwester zur Rede. Maria bleibt stur, sie will die Magd vom Hof jagen. Sie erinnert Josef daran, dass sie ihn aufgezogen hat wie Vater und Mutter, die früh gestorben waren. In Marias Lebensplan kommt keine Heirat vor, auch keine eigene. Und sie weiß, dass ihr Bruder sie nicht auszahlen kann. Sie trägt die Unveränderlichkeit ihres Schicksals und verlangt Gleiches vom Bruder.
Die handelnden Personen reden moselfränkisch. Dieser naturalistische Aspekt expliziert trefflich die Macht der Gefühle. Der derbe, klare Dialekt passt gut zur expressiv erzählten existentiellen Handlung und zur Landschaft, die in expressionistischer Manier dargestellt wird: die Farben in der doppelten Hitze eines frühen Frühlingstages, die Berge, die dem Drama zusehen wie auch der Himmel, in dem Gott wohnt. Unterm Himmel die Treibhaushitze, die heiße Sonne überm trockenen Acker, der Durst hat wie Josef, der die Magd zur Frau will. Die Treibhaushitze steckt in seiner Brust. Ein Gewitter zieht sich darin zusammen, im Kopf jagt ihn der Gedanke, die Schwester zu beseitigen, um den Weg für sein Kettche freizumachen.
In der dritten Szene geht er mit Maria auf den Acker, um Saatkartoffeln in den trockenen Boden zu pflanzen. Zwei Kühe ziehen den Karren mit den Saatkartoffeln aufs Feld. Josef schirrt den Pflug an, der die schattenlose Erde aufreißt. Hinter ihm legt Maria, eine ausgemergelte Frau, die Stücke der Kartoffeln in die Furche.
Sie begegnen dem Vater der Magd, einem heruntergekommenen Schäfer, den Maria verhöhnt, um Josef auch die soziale Unsinnigkeit seiner Heiratsabsicht zu zeigen.
„Über den Acker weg geht ein jähes Leuchten, rot, gelb und blau, wie von brennendem Schwefel. Ein Schlag trifft ihn vor den Kopf wie ein Beilhieb – geblendet, taumelnd, betäubt schließt er die Augen – krach, zugleich ein Donner, ein Schlag, kurz und furchtbar, der die Erde zu spalten scheint, den Acker mittendurch reißt …“ Ein sublim surreales Bild. Eine Situation der Wende, in biblischer Anspielung aufgeladen. Wie ein Blitz fährt die Wut in Josefs Seele und der aufgestaute Trieb schlägt wieder heraus aus ihm und trifft die Schwester tödlich. Der Sterbenden spricht er auf hochdeutsch das Gebet vor, „… Herr erbarme dich meiner! Ich bitte dich demütig um Vergebung meiner Sünden – um ein gnädiges Gericht – …“ Josef bringt die Tote im Karren heim. „Der Himmel hat sich aufgetan, Ströme von Wasser stürzen nieder und ersäufen das Land.-“ Ein biblisches Unwetter kommentiert wieder das Geschehen. Der Durst der Erde ist gestillt. Eine andere Saat wird aufgehen. Nicht die Liebe.
Josef begegnet erneut dem Schäfer – „… das Lachen des Blöden hallte ihm nach.“ Noch einmal hört der Leser hier das Echo der sozialen Absurdität im Hinblick auf die Magd, die er heiraten wollte.
Der Mörder bereut seine Tat. Er betet zur Jungfrau Maria: „… Herz Mariä, mit dem Schwert der Schmerzen durchbohrt, erbarm dich meiner! Maria! Maria!“ In diesem Gebet scheinen die beiden Marias miteinander zu verschmelzen, die verlorene Schwester, die unverlierbare Jungfrau. Die designierte Braut stößt er von sich, er hat auch sie verloren. „Ech giehn bei’t Gericht! … Ech – ech haon se erschlaon!“
Das ist sehr stimmig gemacht, wie die hochdeutsche Sprache der Religion zugeordnet wird, eine unirdische Sprache, die Sprache der Moral, wie auch bei Gericht, das für Josef weit vor der Zeit zu seinem Jüngsten Gericht wird. Sein Leben ist zerstört, er hat sich selbst verdammt mit seiner Tat. So sieht er sich selbst. Aber es bleibt das Fragen nach den Mittätern übrig: Die sozialen Strukturen, die Armut der Verhältnisse, wo Liebe und Nächstenliebe sich kaum erfüllen können. Und die Religion, die nur tröstet, nichts ändert, die Kirche schon gar nicht, die Verbündete der bestehenden Verhältnisse. Das entschuldigt den Täter nicht.
Clara Viebigs dramatische Erzählung zeigt, in welcher engen Welt die Figuren leben – wie Gefangene in einem Treibhaus unerfüllter Triebe. Der Himmel wölbt sich mitleidlos über der Not. Der Acker, auf dem sie leben müssen, verwandelt sich nicht in ein Paradies.
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Naturgewalten, von Clara Viebig. Geschichten aus der Eifel. Rhein-Mosel-Verlag 2011.
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