Absurde Alltagsphantastik

Die Verknüpfung von Twitter und Leben erinnert an das Pathos künstlerischer Avantgarden, die stets die Verbindung von Leben und Kunst als das Aufrichtige und Wahre proklamierten.

Elias Kreuzmair

Viele der hier rund 500 vorliegenden Gedankenstriche mögen dem KUNO-Leser bekannt vorkommen. Die Redaktion verlieh Joanna Lisiak für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Es sind – nach ihrer Ansage – keine Aphorismen, keine Zitate, keine philosophischen Sprüche oder Lebensweisheiten. Es vielmehr sind Notate, Beobachtungen, Anregungen, poetische Erfahrungen, Fragestellungen, die weder belehren noch kommentieren wollen, sondern lediglich hinweisen darauf, was möglicherweise weniger offensichtlich ist oder was sein könnte. Die Stärken von Lisiaks Texten liegen in ihrer Dichte und Prägnanz, sie bündelt ihre Prosazeilen, um dann Schritt für Schritt die Aussagen zu entfalten. Es sind Momentaufnahmen, die poetische Gültigkeit beanspruchen können, da sie das Allgemeine und die Dauer festhalten. Dabei ist sich Lisiak der Fragilität solcher Verschriftlichung durchaus bewußt. Twitteratur, im besten Sinne!

Dieses neue Schreiben, Lesen und Publizieren wirkt befreiend, zugänglich und verbindend, mit einem Wort: lebendig… Das Netz ist, anders als ein Buch oder Sterbebett, kein passender Ort für letzte Worte, es ist der Raum für ständig zu aktualisierende Statusmeldungen.

Christiane Frohmann

Vieles mag dem KUNO-Leser auch aus anderen Zusammenhängen bekannt erscheinen – denn so manches ist direkt aus dem Leben gegriffen, einer zwischenmenschlichen Szene, einem alltäglichen Bild entnommen. In ihren Miniaturen bringt Joanna Lisiak ihre Umwelt mit den brennenden Fragen unserer Gegenwart zusammen. Doch das Altbekannte wird gelegentlich entkernt, kurzerhand anders angeleuchtet, in eine ungewohnte Richtung gerückt. So entstehen subtile Nuancen des Gewohnten. Etwas Unsichtbares kann verstärkt oder aus seinem Kontext ins Abstrakte gehoben werden. Eine gedankliche Analyse auf einmal Flügel bekommen. Wir  betrachten Twitteratur als eine sprachliche Verdichtung der Realität, es gibt eine neue literarische Form, die die Gegenwart in Worte fassen kann. Diese Twitteratur lebt von Lisiaks prägnantem Sinn für Detailbeschreibungen und Satzkonstruktionen, die auf eine besondere Beobachtungsgabe schließen lassen.

 

 

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Gedankenstriche von Joanna Lisiak, 2018

Umschlag: Äquivalente; Rosa Fluss, beide 2017, von Mariola Lisiak

Weiterführend →

Holger Benkel würdigte diesen Band mit einem Rezensionsessay. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay. Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. Der „sinn der wendungen“ regte Holger Benkel zu einem weiteren Rezensionsessay an.

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