Newspeak heißt die sprachpolitisch umgestaltete Sprache in George Orwells Roman 1984. Durch Sprachplanung sollen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt und damit die Freiheit des Denkens aufgehoben werden.
Seit Farm der Tiere und 1984 steht der Name des 1950 verstorbenen Orwell sinnbildlich für Repression und totale Überwachung. Von 1984 entlehnte Begriffe wie „Gedankenpolizei“, „Wahrheitsministerium“ und „Großer Bruder“ sind ins Vokabular der politischen Sprache eingegangen. „Neuspréch ist eine Sprache, die von Kunst befallen, infiziert ist. Sprechen mit Kunst – als Kunst.“, so Oliver Ross und Simon Starke, die Kuratoren der hier thematisierten Ausstellung. Wir sehen in dieser Aufbereitung Werke, in denen Sprache und Kunst einander wechselseitig durchdringen, quer durch die Sparten, von Malerei, zur Zeichnung, zur Performance, zur Installation und selbstverständlich zum Künstlerbuch. Objektive Typografie und funktionale Schriftgestaltung sind nicht unbedingt dasselbe. Es ist spannend zu sehen wie Künstlerbücher und Bücher über Kunst ihren Status noch aushandeln. Zur Erinnerung: Künstlerbücher sind keine Skizzenbücher, es handelt sich hier meist um Zeichnungen in der gleichen Verfahrensweise wie die autonomen Blätter.
Newspeak wird im übertragenen Sinne als Bezeichnung für Sprachformen oder sprachliche Mittel gebraucht, die durch Sprachplanung bewusst verändert werden, um Tatsachen zu verbergen und die Ziele oder Ideologien der Anwender zu verschleiern.
Die Künstler dieser Ausstellung arbeiten mit dem Motiv der Übertragung. Die wuchernde Bildsprache entspricht den wuchernden Bildphantasien. Text und Bild gehen eine Symbiose ein. Visuelle Gestaltung ist nicht einfach ein Gestalten von Gegebenem, sondern ein Hervorgestalten von Gesuchtem. Dabei folgen diese Künstler Aussage des russischen Avantgardisten El Lissitzky, der die bildnerischen Mittel analog dazu einsetzen wollte, wie die menschliche Stimme spricht: zugewandt, mit Nachdruck oder fordernd. Die Arbeiten zeigen, daß es mit der Eindeutigkeit der Worte so ganz weit nicht her ist. Neuspréch greift einen zentralen Begriff aus George Orwells Roman 1984 neu akzentuiert und mit Blick auf das Widerständige im Kontext bildender Kunst auf. Das Projekt umfasst zwölf künstlerische Positionen, ergänzt und im Dialog mit einer Auswahl von Arbeiten aus den Sammlungen des Zentrums für Künstlerpublikationen. Den Weg der Abstraktion der durchlebten Realität zu einer nur ihm eigenen poetischen Bildsprache, das Spielen mit Worten und Begriffen, mit ungewöhnlichen Zusammenstellungen kann man hier ebenso studieren wie die Kompositionsformen, Themen, Motive, Techniken und Medien, denen sich die Künstler zugewandt haben. Die Künstler positionieren sich gegen Sprachverkümmerungen eines technologischen Vereinheitlichungszwangs, gegen Marketingsprech, Pegidasprech, Kunstbetriebssprech, Anti-Terrorsprech, Politsprech, gegen die ganze Bandbreite des Wir/Die-Sprech. Ein ambitioniertes Programm.
„Über Nationalismus“
In der NZZ plädiert der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler angesichts der Pandemie und ihrer Folgen Orwells „Über Nationalismus“ zu lesen, um sich gegen Übertreibungen und Hysterie zu wappnen, die oft aus Angst vor dem Uneindeutigen entstünden: „Orwell entwickelt einen unkonventionellen Nationalismus-Begriff; er spricht von Nationalismus in allen Fällen, in denen sich ein Kollektiv imaginiert, das relativ deutliche Zugehörigkeitskriterien formuliert und sich vermittels dieser nach außen abgrenzt. Genau das ist heute Identitätspolitik. Identitätspolitik, von rechts oder links, ist die Idiotenantwort auf die Störung einer eingebildeten Eindeutigkeit, das ausgrenzende Abstellen und Fixieren auf vermeintlich eindeutige, fixe Besonderheiten statt auf die Universalität des Menschseins. Orwell empfiehlt in seinem Essay: Selbstreflexion, Selbsthinterfragung, Selbstaufklärung. Also nicht das Abstreifen der Denkschwächen und Kurzschlüsse, das vermöge der Mensch nicht, aber Bewusstmachung der eigenen Befangenheiten und Irrationalitäten. Das ist etwas ganz anderes als die Bewusstmachung der möglichen ethischen Aufladungen jedes zu tuenden Schritts. Es setzt bei den eigenen Grenzen an, nicht bei denen der Welt. Es ist machbarer. Es ist Selbstaufklärung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.“
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Die Ausstellung Neuspréch im Bremer Zentrum für Künstlerpublikationen an der Weserburg wird kuratiert von den Künstlern Oliver Ross und Simon Starke, in Kooperation mit Bettina Brach vom Zentrum für Künstlerpublikationen. Noch bis zum 13.12.2020
Künstler der Ausstellung:
Armin Chodzinski (mit einem Vortragsraum und neuen Lehrfilmen)
Hans-Christian Dany (mit einer Vortrags-Einlassung zu NEUSPRÉCH)
reproducts (mit filmisch-hypnotisch-poetischen Farbtherapien)
Gunter Reski (mit einem halb geschriebenen, halb gemalten Wand-Journal)
Oliver Ross (mit einem Kunst-Beichtstuhl)
Ingrid Scherr und Peter Lynen (mit einer gemeinsamen Raum-Installation)
Aleen Solari (mit einer schlecht beleuchteten Wand-Boden-Situation)
Simon Starke (mit einer illustrationsbestückten Lehrtafelabfolge)
Andrea Tippel (mit ihrer tapezierten Andrealismus-Bibliothek)
Jan Voss (mit einer ortsbezogenen Ein- und Auslassung)
Annette Wehrmann (mit einem bisher unveröffentlichten Zeichnungskonvolut)
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421 – Bestellungen über: edition-das-labor@web.de