Hotspottourismus

Man kannte den von Herrn Nipp so benannten Hotspottourismus, der sich auf die großen Sehenswürdigkeiten beschränkt, die man auf jeden Fall gesehen haben muss, bisher vor allem aus den wirklich großen Städten und berühmten Museen. Nach dem Motto „Europa in 10 Tagen“ werden ganze Gruppen Asiaten von einem Ort zum nächsten geflogen. Es geht letztlich um die einmalige Gelegenheit die „Musts“ dieser Welt in möglichst kurzer Zeit zu sehen und vor allem mit dem eigenen Konterfei zu fotografieren. Der Tourist setzt sich damit mitten in die Weltgeschichte. Die Idee des Reisens wird ausgeschaltet. Hier werden die TV – Vorstellungen in die Realität transskribiert. So kann eine Besichtigungstour durch den Louvre durchaus mal 30 Minuten dauern. Man hetzt bis zur Mona Lisa und wartet dort in der Schlange, bis man endlich selber einen flüchtigen Blick auf diese Ikone der Renaissance werfen kann. Der Rest ist zu vernachlässigen. Aber „Ich war im Louvre“. Wen interessieren schon die anderen Werke von irgendwelchen nur halbberühmten Dilettanten, nur Leonardo zählt. Schließlich möchte man ja nicht zu spät zum organisierten Mittagessen auf dem Eiffelturm kommen. Von Genuss kann keine Rede sein, wer schon einmal über Stress geklagt hat, der weiß nicht, was diese Menschen mitmachen. Der Triumphbogen erscheint wohl auch wichtig, allerdings nur durch die Scheiben des Busses, mit dem man die restlichen Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt unterstützt durch dauerplappernde Kopfhörer abklappert. Man stelle sich den Programmpunkt „Montag: Rom“ vor.

Inzwischen setzt sich dieser Gedanke ganz ähnlich auch in den alpinen Regionen durch. Nicht die Chinesen oder Japaner allerdings sind hier die Vorreiter dieser neuen Tourismusbewegung. Vor allem Cabrio- und Motorradfahrer stellen hier die Avantgarde. Meist Herrschaften ab 50, die ihr besonderes Gefühl scheinjugendlicher Freiheit genießen wollen. Man hat in den letzten Jahren genug verdient, die Frau ist ausgewechselt, die Kinder aus dem Haus, der Hund tot. Das ist wahre Freiheit. Endlich leistet der werte Herr sich das, was er immer haben wollte. Als Sozius sitzt eine blondbezopfte junge Dame neben oder hinter ihm, vielleicht steuert sie auch ihr eigenes zweirädriges Gefährt. Einige Herren haben sich den Helm direkt mit Kamera bestücken lassen und können direkt aus der Fahrt knipsen, das spart Zeit. Andere bevorzugen einen mindestens 1500 Euro teuren Fotoapparat von Canon oder Nikon. Die ganz luxuriösen Millionäre lieben doch eher das Understatement und nutzen eine unauffällige Leica. Dann halten sie für 30 Sekunden an markanten Punkten, lassen den Motor laufen, springen heraus (während sich die Beifahrerin im Rückspiegel die Augenbrauen zurechtzupft) und knipsen ihre zehn Schnellschüsse. Nicht Qualität zählt, sondern die Masse. Wie viele bekannte Aussichtspunkte kann man in acht Stunden schaffen? Schon ist auch dieser Ort für das Archiv gebannt. Die Tourismusindustrie hat sich schnell auf diese neue Art des Urlaubs eingestellt. Neben den äußerst effektiven Routenplanern mit Hinweisen auf lohnende oder kultige Restaurants, wurden inzwischen an diesen Hotspots Kürzesthalteplätze eingerichtet. Dort darf kein Fahrzeug länger als zwei Minuten stehen, sonst gibt es eine deftige Strafe. Die Zeit reicht auch. Desweiteren sieht der erstaunte Wanderer an gewissen Stellen plötzlich Aussichtsplattformen aus dem Boden schießen, die das optimale Foto ermöglichen. Ja, dort findet man professionelle „Können Sie mal ein Foto von mir machen“ – Hilfsdienste, die gegen ein erstaunlich hohes Trinkgeld gerne helfen. Beim Carersee hat man sogar mitten in die Pampa ein Modegeschäft gebaut. Leider fällt hier der Wasserspiegel offensichtlich seit Jahren in eklatantem Ausmaß. Möglicherweise sind die hier bewegten Gelder eine Fehlinvestition.

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Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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