Ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Gedicht, das sich schreibt.
Ich schreibe, ich lese, und während ich lese, schreibe ich schon weiter. Ich fühle mich wie der Hase dem Igel in mir unterlegen, ich will aber kein Igel sein, kein Techniker von Permutationen meiner Poesie, ich schreibe wirklich immer weiter, schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche über den Schatten des Geschriebenen zu springen, erreiche ich nie die Geschwindigkeit im Lesen, werde ich mich nie einholen, auch nicht, wenn ich rückwärts lese. Ich käme nie an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich könnte mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich nur wollte, ich könnte der Schattenspringer werden und aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte springen, wenn ich nur wollte und wenn ich begriffe, dass ich das kann.
Lese ich, wenn ich schreibe? Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese.
Ich könnte mich, wie gesagt, überwinden, aber nie lesend, immer nur schreibend. Der absolute Leser, der a priori der beste Leser ist, muss nur wissen, dass er als Leser der absolute Autor ist. Er wird dann auch erfahren: Er ist der beste Autor, den er lesen kann. Dieser Leser, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der aufgeklärte Leser, der ideale Leser, wenn er beim Lesen erkennt, dass er das Buch, das er gerade liest, auch lesen könnte, wenn er es selber schriebe, und eigentlich müsste er es dann gar nicht mehr schreiben, sondern einfach nur leben. Er ist dann der Leser seines Lebens, dessen Autor er zugleich ist, der das Buch nicht braucht, der sich selbst zuklappen und wegwerfen kann wie ein Buch, das er schon kennt, dessen unbeschriebene Seiten in ihm selber sind und die man nur beschreiben muss um zu leben.
So kann ich am Ende sagen: Indem ich mich lese, hebe ich auf, was ich schrieb – und indem ich schreibe, hebe ich auf, was ich lese. Ich bin das Wort.
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Aus der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft Gedanken über das lyrische Schreiben.
Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung. Ein Rückblick auf die ersten 10 Jahre Dichtungsring findet sich hier. – Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Ein Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Bruno Kartheuser finden Sie hier.