Vor nicht allzu langer Zeit war Herr Nipp in Dortmund gewesen, ein Bekannter von früher (Diese Bezeichnung fragt geradezu nach einer näheren Beleuchtung und Hinterfragung. Siehe hierzu: * am Ende des Textes) hatte ihn eingeladen, zu einer Ausstellungseröffnung zu kommen. Im dortigen Kunstverein hatten einige recht junge Künstler und zwei ältere den Ausstellungsvorraum okkupiert und ihr eigenes Ding gemacht, mit viel Spaß und Hingabe. Frecherweise hatten die Leute vom Salon Atelier weitere Künstler hierzu eingeladen – aus der Sauerländer Provinz.
Alles war mit blauem Licht ausgeleuchtet, eine Situation, die nicht allzu lange auszuhalten ist. Der Eingangsbereich verstellt durch eine Holzkonstruktion, die schon sehr an Schwitters Merzbau erinnerte. Drinnen fanden sich einige nette, verrückte und vor allem richtig gute Arbeiten, experimentelles Zeugs und eine interaktive Rauminstallation eines alten Bekannten (siehe *). Der wiederum hatte einfach einen alten runden Wohnzimmertisch aus den frühen fünfziger Jahren dort aufgestellt, rundherum einige alte Schulstühle. Auf dem Tisch stand eine Plastikkiste mit Buntstiften, ein Stapel mit Tuschezeichnungen. Als Erläuterung fand sich folgender Text:
„Kannst DU – ja DU – dich noch erinnern? Damals, wenn es bei Oma oder Opa, bei Onkel oder Tante, beim heimlichen Geliebten der Mama, des Papas, der dann auch einfach Onkel oder Tante genannt wurde, je nachdem, welches Geschlecht er oder sie hatte. Damals also hat man dir immer ein Malbuch in die Hand gedrückt und ein paar alte, abgekaute Stifte. Dann musstest DU dich brav ins Wohnzimmer setzen und die Bilder ausmalen. Schön ordentlich, das war wichtig – es sollte ja lange dauern und ordentlich werden. (Auf die Idee mit dem Fernseher und dem Videorekorder sind die erst später gekommen, als sie bemerkt haben, dass sie dann noch länger Zeit für sich haben, ohne dass du aufmuckst.)
Siehst DU, genauso ist es jetzt auch. Ausstellungseröffnungen öden dich an, du bist aber trotzdem mitgekommen, weil dein Liebster, deine Liebste so unbedingt dorthin musste. Mal ehrlich, schon die meisten Reden sind ein Graus, das kann sich doch wirklich niemand mit Freude anhören und geklatscht wird entweder nur aus Höflichkeit und weil der eitle Gockel von Redner sonst persönlich verletzt wäre oder weil die Zuhörer glücklich diese langweiligen und meist völlig überflüssigen Worte überstanden zu haben (entschuldige diesen langen Satz, er war allerdings unabdingbar wichtig, damit du verstehst, wie diese Reden funktionieren).
Außerdem ist die moderne Kunst entweder langweilig oder völlig unverständlich, das hat nun einmal nichts mit deiner Realität zu tun. Jedes und ich meine das genau so, jedes X-Box – Spiel ist da um Lichtjahre (und meine dies als Längenangabe, nicht als Zeit, weil die Zeit ein Jahr ist, ob Lichtjahr, Sabbatjahr oder nicht) interessanter. Was interessiert dich schon, welche Positionierung der Künstler zur Gesellschaft einnimmt oder behauptet einzunehmen. Mal ehrlich, seit wann kann irgendjemandem ein Künstler in irgendeiner Form Lebenshilfe gewähren? Die Künstler reden sich ein, sie hätten eine Bedeutung, das allerdings stimmt nicht – definitiv.
Kunst ist ein geschlossenes System und wer keine Ahnung davon hat, der wird auch keine bekommen. Basta.
Hier am Tisch aber darfst DU dir ein Bild aussuchen, welches dir gefällt. Wenn dir keines gefällt, so wähle eines, welches halbwegs passabel ist. Weiterhin darfst DU wie früher dieses Bild mit Buntstiften ausmalen, DU wirst nicht gezwungen, kriegst die Zeit trotzdem schnell rum und dein Begleiter (egal ob männlich oder weiblich) wird sich wundern, wie sehr DU dich von der Kunst fesseln lassen kannst. Damit hast DU sicherlich einige Punkte ergattert. Wer weiß, vielleicht nutzt das zu späterer Stunde noch irgendwem? Kunst soll schließlich sexy machen…
Wenn du fertig bist, kannst DU das Bild selber signieren und weiterhin vom anwesenden Künstler signieren lassen. Spät abends kannst du deiner Begleitung ganz nebenbei ein Original des von ihm oder ihr verehrten Künstlers [das bin ich – Anmerkung des Verfassers] schenken.
Das ist vielleicht deine erste künstlerische Kooperation – jetzt bist du selber ein Künstler – endlich. Joseph Beuys hatte doch recht.“ Gez. der Künstler
Tatsächlich saßen im Kreis immer einige Leute, die genüsslich ihr Bier tranken und zufrieden Bildchen ausmalten. Manchmal halfen sie sich auch gegenseitig und gaben sich hilfreiche Tipps zu Farbzusammenstellungen oder Bilderweiterungen. Einige von ihnen ließen sich die Arbeit auch tatsächlich signieren. Die meisten allerdings signierten einfach nur selber und hatten erkannt, dass sie wirklich tolle Künstler geworden waren. Sicherlich haben einige von ihnen direkt am nächsten Tag ein eigenes Atelier angemietet. Wie Herrn Nipp an einem der nächsten Tage berichtet wurde, hatte der Künstler auf diese Weise neben einigen unliebsamen Möbelstücken auch seine mittelmäßigen Zeichnungen endlich unters Volk gebracht.
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Weiterführend →
Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421
* Die Bezeichnung „Bekannter von früher“ ist immer wieder in verschiedenen Situationen zu gebrauchen. Allzu glatt erscheint sie als Ausrede, wenn abends mal wieder zu viel Alkohol konsumiert wurde und der trinkend Feiernde erst früh morgens nach Hause kommt, dabei dann auch noch feststellen muss, dass es diverse Gedächtnislücken gibt. Geradezu toll kann man sie gebrauchen, wenn man zwischendurch mal fremdgehen will, dann hat der Gehende zufällig eine alte Bekannte beim Einkaufen getroffen und sich endlich mal wieder eingehend ausgetauscht, was dabei ausgetauscht wurde, muss nicht unbedingt dem Partner auf die Nase gebunden werden. Alte Bekannte trifft man auch schon mal auf sogenannten Ehemaligenpartys, meist will man mit den meisten von diesen aber gar nicht so viel zu tun haben. Die sind einfach auch Falten werfend älter geworden und haben ihren damals schon widerlichen Mundgeruch auch noch exzessiv ausgebaut – mit einer Note ins Eitrige. Meistens aber trifft der werte Leser ganz unvermittelt solche „alten Bekannten“ jedoch tatsächlich in allen möglichen und unmöglichen Situationen und sei es bei irgendeiner Bergwanderung durch die südlichen Steilhänge des holländischen Hochgebirges. Dann grüßt man freudig, tauscht Kontaktdaten aus und gibt sich vielleicht einige Tipps. Soweit allerdings dem Schreiber bekannt ist, hat es bisher noch keine Unternehmung gegeben, eine wissenschaftlich soziologische Untersuchung zu diesem Phänomen zu machen – als Langzeitstudie.