Rockstar 5.0

Mannheim, Altstadt. Der Rickenbacker hängt vor den Knien, im Hintergrund wird angezählt. Erste Schlüpfer, mit Scheiße gefüllt, segeln gen Bühne, landen sattsam auf den Verstärkern, Dünnes spritzt seitwärts. Die Boys sind begeistert. Als Intro gibt es »Johnny wills wissen«, eine Musik gewordene Abhandlung über den Gitarristen, der vor allem von den Damen über 60 für sein puttenhaftes Antlitz verehrt wird. Sie nennen ihn »Porzellan-Andy«, nichtsahnend, dass die vornehme Blässe vor allem durch die tägliche Verklebung DIN A4 großer Fentanyl-Pflaster gefördert wird. Andy erzählt von seinen Pigmentstörungen, seiner Sonnenallergie und seinem Engagement für genderkonforme Sprache, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Er kann es kaum noch ertragen, das politisch korrekte Gewäsch, die hundertvierte Form menschlicher Verpuppung, nach metro- und sapiosexuell jetzt noch heteroflexible, Cis-Woman, Dosh-Man, Lapsus-Oversex und hinter jedem zweitem Wort Sternchen*/Slash und acht alternative Endungen.

»Da wird wieder Östrogen ins semantische Grundwasser gekippt«, jammert Andy, aber er kommt nicht weit. Die Audienz stimmt einen Choral an und bezeichnet ihn mehrstimmig-einstimmig als Nazi, na klar, verdientermaßen. Er sprach zwar nur von seinem Sprachverdruss, aber in Wirklichkeit war er ganz vorne mit dabei, als Mengele in einem seiner Lieblingslager mit Lötkolben und Schweißbrenner nach der Wahrheit gesucht hat. Aber wen kümmerts. Die Boys rocken los, und, genau wie früher, sogleich werden allerorten Hörstürze und Trommelfellfrakturen beklagt. Recht so, wer Zwietracht sät, soll Zorn ernten. Unsere halbwüchsigen Gehilfen kommen von hinten zum Bühnenrand und raffen einen Schlauch in die Höhe, nehmen Maß, zielen auf die erste Reihe. Diese gibt sich unbeeindruckt, posiert neckisch kokett mit geschürzten Lippen. Wider Erwarten kommt kein Stroh-Rum, sondern ein Schwall Fäkales durch die Öffnung, sorgt für spitze Freudenschreie und steilen Follower-Zuwachs bei Selfie-Liebhabern und Influencern der braunen Szene. Durchfall und geronnenes Fett vom letzten Thanksgiving-Truthahn schießt mit 10 Bar gen Publikum, alle Welt jubiliert. Die Band stimmt derweil das zweite Stück an, es heißt »Franky hats nicht drauf« und handelt von Franky, dem Sänger, und seiner erfolglosen Kandidatur für die Jusos bei der letzten Bundestagswahl. Das Jammern ist groß, aber auch dieser Tag geht mal zu Ende.

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Rockstar 5.0 von Philipp Schiemann. Killroy Media, 2020

Angelehnt an den Roman „Über Kunst“ beschreibt „Rockstar 5.0“ den bis ins Groteske gesteigerten Touralltag einer Punkrockband im Deutschland des Jahres 2019. „Die in diesem Text enthaltene Gesellschaftskritik“, so Schiemann, „hat mir viel Spaß gemacht und war längst fällig“. In tagebuchartigen Skizzen persifliert der Autor das prekäre Dasein einer altbackenen Rockband während ihrer Deutschlandtour im Jahr 2018. Eine ätzende Satire, die sich gegen den aktuellen Zeitgeist Deutschlands und seine mehr oder weniger populären Protagonisten richtet und nicht davor zurückschreckt, die Dinge beim Namen zu nennen. In einer Zeit, die unentschlossen zwischen sprachlicher Verrohung und Tabuisierung schwankt, die in allen Lagern mit Trittbrettfahrern und Pappkameraden glänzt, ein längst fälliges Statement ohne Rücksicht auf Verluste.

KUNO empfiehlt in diesem Zusammenhang auch I’m a poet. CD1 Philipp Schiemann, Live in Deutschland. CD2 San Fransisco Anthology, 10 Bay Area Poets. Killroy Media, 2000

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1991 legen der Sprechsteller A. J. Weigoni und der Musiker und Komponist Frank Michaelis die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips beim Dortmunder Independent-Label Constrictor auf dem neuen Medium der Compact Disc (kurz CD, englisch für kompakte Scheibe) vor.