haltung, die vom kopf ausgeht

 

martin dragosits, 1965 in wien geboren und ansonsten software-entwickler, projektmanager, teamleiter und berater im it-bereich, schreibt eine nüchterne, analytische, mitunter sarkastische gedankenlyrik. seine gedichte sind lesbar vom kopf gelenkt. ebenso sachlich ist das cover-motiv des gedichtbands »Weisse Kreide«, die fotografie eines genügsam eingerichteten und spärlich erleuchteten raums. die texte zeigen haltungen, wie in »Am Ball bleiben«: »Wenn Sprache / Wirklichkeit schafft / in die Räume geht / körperbetont // Falten in die Zeit versenkt // parallele Welten aufeinander setzt // dann ihr Dichter / sprecht bitte / laut und vor allem konsequent«. er selbst tut dies in seiner lyrik, die auch über komplizierte, ja absurde zusammenhänge bedacht und einleuchtend spricht. die postmoderne beliebigkeit und indifferenz könnte durch die corona-krise etwas zurückgedrängt worden sein. toleranz und relativismus sollten jedoch erhalten bleiben.

er betrachtet die wirklichkeit skeptisch. im gedicht »Erde ‒ Mond und zurück« heißt es: »Was habt ihr über / Münchhausen gelacht / als wenn es nicht / selbstverständlich ist / auf Kanonenkugeln / eine lange Nase zu machen / Wölfe und Kirchtürme / im Hintergrund // Wie könnt ihr glauben / dass der Mond / nicht zu erreichen ist / im Heißluftballon / einfach so / wo doch das Wünschen / als Prinzip der Lüge / in uns allen steckt«. im wünschen klingt das märchen vom froschkönig an, das mit »In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat« beginnt. man könnte sagen, das wünschen sei eine form der kompensation und illusion. einen ballonflug zum mond samt mondlandung beschrieb edgar allan poe. von der deutschen post erschien 2020 eine münchhausen-briefmarke, wohl nicht ohne ironie. der illusionist don quijote wird in spanien wie ein nationalheiliger verehrt, und touristisch vermarktet. wir sollten ihn uns als einen glücklichen menschen vorstellen. denn was macht glücklicher als hoffnung, wenn man die täuschung nicht bemerkt. oder weiß er insgeheim, daß er in einer traumwelt lebt, die nicht die wirkliche ist?

in »Übereinkunft« beschreibt martin dragosits verhaltensmuster, bei denen jeder das macht, was sowieso geschieht: »Sogar die Funktionäre // in den Parteien, die Vertreter und Sekretäre für / Propaganda und Sekretion, der Finanzminister, / der Regierungschef und das Staatsoberhaupt, / sie alle sind unpolitisch, lächeln unverbindlich, / fast unbeschwert und im Ansatz glücklich.« so wird suggeriert, die herrschende politik, die freilich gegenüber andern gesellschaftlichen kräften, industrieverbänden, finanzunternehmen, denkfabriken, lobbyisten, medien, an einfluß verloren hat, sei zwingend notwendig wie nach einem naturgesetz. man tut einem lyriker indes nicht unbedingt etwas gutes, wenn man ihn politisch nennt, weil das leicht vorurteile stimuliert, er sei parteiisch und befangen. die wirkung muß immer durch die gedichte selbst entstehen, und nicht durch etikettenhafte benennungen.

manche der texte gewinnen möglicherweise durch den vortrag beim lesen noch, da sie operativ und dialogisch wirken. in »Ergo sum« regt der autor an, über die wirkung von gedichten nachzudenken, indem er sie untertreibt. »Ich bin ein Gedicht, das nichts / will, gar nichts, überhaupt / nichts, nicht einmal nichts, weder / hier noch dort. Ich bin // ohne Besitzer, gehöre niemandem, / keinem Zuhörer, Leser, Vortragenden. / keinem Chirurgen, Schaffner, / Wegbegleiter. Ich hüpfe über // alle Stränge, Hindernisse, / Kuchenstücke, stopfe Löcher und / feuchte Schuhe, Nur wenn man / mich zwingt. Ich wurde gedichtet, // auf den Boden geworfen, zwischen / Hagel und Sonnenschein, Eiszeit / und Freiheit, ohne Frage oder / Abonnentenschein. So wie ich bin.« die unabhängigkeit gegenüber profanen zwecken machen lyrik autonom und geben ihr räume zur vertiefung und verdichtung.

in »Nahverhältnis« liest man: »Mein Wille hat / entschieden / ob frei oder unfrei / einen Bleistift / in die Hand zu nehmen // Laut neuerer Hirnforschung / Stand: Zu Beginn / des 21. Jahrhunderts / fiel / die Entscheidung / während mein Cortex / Für und Wider / noch prüfte // Sozusagen / eine Reise / bis die Entscheidung / ankommt / die uns trifft«. dies spielt auf neuere erkenntnisse der gehirnfoschung an, die besagen, daß der mensch gar nicht so frei ist, wie er glaubt, sondern vielmehr von genetisch bedingten anlagen und instinkten, bis hin zu zwängen, und zumal unbewußten, abhängig denkt, fühlt und handelt, die objektiv vorgeprägten mustern folgen. wer menschen mit wachem blick sieht und etwa ihren egoismus und opportunismus erkennt, und die verbindung von beidem im gruppenzwang, wußte das längst. wir sollten die warnungen davor ernstnehmen, wenngleich manche wissenschaftlichen theorien mythen ähneln, und zugleich die subjektiven freiräume nutzen und erweitern, doch auch gefahren erkennen. in Ringelspiel« heißts: »Wir werden geboren / springen auf fahrende Züge / und bewegen uns im Gleichgewicht / so lange es geht«. wie soetwas enden kann, wissen wir inzwischen.

 

 

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Weisse Kreide, Gedichte von Martin Dragosits. Edition art science, St. Wolfgang, 2017

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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Rezensionsessays finden Sie hier. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, Haimo Hieronymus, Uwe Albert, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Joachim Paul, Peter Engstler, Jürgen Diehl, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sabine Kunz und Joanna Lisiak.