Wer seinen Plot mit Rocklyrik und Satzfetzen aus Telephongesprächen der späten 1990er Jahre einleitet, dann ein Sieben-Tage-Programm für seine unterschiedlichen „Tatorte“ entwirft, um anschließend seinem Leser etwas über „halbgare Buddhisten“ und einen „fehlenden Waffenschein“ vorzuschwafeln, mehr noch: bei seiner hundertjährigen dementen Mutter sich den täglichen Pflegedienst mit bzzzt-Geräuschen des Sessels zu versüßen, der ist … Sie sagen es: ziemlich meschugge. Doch der Mann ist sechzig, er hat eben seine Mutter beerdigen lassen, hat mit seinem besten Freund Lennox, ziemlich turbulente Jahre verbracht, sieht ihn jetzt nach vierzig Jahren wieder, geht mit ihm auf eine verrückte Reise, auf der die beiden in Hotels von Robos bedient werden und in irgendwelchen Nightbars ihre Zeit verbringen. Er muss nun „seinem“ Lennox Geschichten erzählen, denn schließlich ist er Schriftsteller, wenn auch einer, der nichts mehr auf die Reihe bringt. Kein Wunder, sein abgebrochnes Kunstgeschichtsstudium brachte ihm die Erkenntnis ein, dass die Kunst tot ist, nämlich seit 2007, als er im Amsterdamer Rijks-Museum den mit Diamanten besetzten Schädel von Damien Hirst gesehen hatte, einen „Platinschädel, übersät mit mehr als achttausend kleinen Diamanten“, der den bizarren Titel „For the Love of God“ trägt. Seit diesem Augenblick war der Zauber der Kunstwerke für ihn verflogen. Und was nun? Zurück in die verzauberte Jugendzeit, die von der Freude an der Arbeit in einem Archiv, an der Rekonstruktion von Mordfällen mit Hilfe von pensionierten Polizisten und an dem lustvollen Anblick von halbnackten Mädchen in Studentenwohnheimen erfüllt ist und … ziemlich geil macht. Besonders wenn sein Kumpel De Meester eine Gratisvorstellung vom Ficken an einem Fenster gegenüber vom Amsterdamer Zentralarchiv gibt, und alle von ihm benachrichtigten Kumpels in Ekstase versetzt werden. Also alles ziemlich verquatscht? Wenn es nicht diesen schnoddrigen Erzählstil gäbe, diese coolen Rückblenden, das ständige Einblenden von irgendwelchen Episoden, die den Erzählfluss vorantreiben und den Leser in Spannung halten, ihn in eine ständige Wartehaltung versetzen mit Fragen wie: Was macht der Rezeptionsrobo mit der Service-Robotronin? Wie kann das selbstfahrende Auto, das Lennox für den Ich-Erzähler installiert hat, seine Gedanken lesen, mit ihm stundenlang durch eine vertraut-unbekannte Landschaft fahren, alle seine Fragen beantworten, ihm sogar auf ironische Weise die „Welt interpretieren“? Der Ich-Erzähler schlüpft auf diese Weise so geschickt in die Rolle des Lesers, dass dieser, angetrieben von seiner Neugier auf die Funktionsweise realer und imaginärer Technologien, mit seinem Text einen spannungsgeladenen Dialog führt.
Auffällig ist, dass der Autor sich auch der Verfahrensweisen des Thrillers bedient, um zusätzliche Spannung zu erzeugen. So wird ein Kloster als Ort eines verdeckten Drogenhandels und einer inszenierten Entführung benutzt, an der auch andere ehemalige Kumpels des Ich-Erzählers beteiligt sind. Überhaupt erweist sich van Essens Strategie der Verschiebung von Orten und der Dyslozierung von Handlung in den abschließenden Kapiteln als spannungsaufladend. Während er in einem selbstfahrenden Auto mit einem unsichtbaren Roboter über die letzten Jahre seiner Mutter im Pflegeheim berichtet, immer wieder angetrieben von den neugierigen Fragen seines imaginären Chauffeurs, jagt er durch geheimnisvolle Landschaften, begegnet irgendwelchen Gestalten, die keinerlei Kontakt mit ihm aufnehmen. Und der Ich-Erzähler? Ganz am Schluss seiner Erzählhandlung schlüpft er in eine Wir-Rolle, die nun seine alten Freunden übernehmen sollen. Doch wie so oft in bizarren Handlungssträngen, wehrt sich einer von ihnen gegen diese gewaltsame Übernahme. Ganz schön abgefuckt oder doch nur „verquatscht“?
Rob van Essen, 1963 in Amstelveen , Niederlande geb., benutzt in seinem mit unterschiedlichen Genres operierenden Roman gängige Cliches, mithilfe derer der Ich-Erzähler sich so geschickt zwischen den die einzelnen Handlungssträngen bewegt, ohne dass beim Rezipienten das lästige Gefühl des Déjà-vu aufkommt. Vielmehr treibt ihn der Ich-Erzähler sowohl durch vertraute Handlungsräume in und um Amsterdam herum als auch in die flimmernde Ungewissheit imaginärer Räume. Mehr noch: dieser Erzähler macht ihn mit den Mühen der lästigen Altenpflege auf eine ironisch erfrischende Weise vertraut, reflektiert seine Haltung gegenüber einer demografischen Situation, die vor allem in westeuropäischen Ländern immer bedrohlicher wird. Diese Komponenten und die Einsicht der niederländischen Juroren, dass der vorliegende Roman sich sowohl postmoderner Erzählweisen bedient als auch dringende demografische Probleme auf ironische und dann und wann auch sarkastische Weise thematisiert, haben sicherlich zu seinem Erfolg in den Niederlanden beigetragen. Ob „Der gute Sohn“ sich nun auch auf dem hektischen deutschsprachigen Büchermarkt durchsetzen wird, hängt in diesen pandemischen Zeiten wie immer auch von zufälligen Faktoren ab.