GRAND CANYON LETTER

Bright Angel Creek, 16.September 1970

 

Der Entschluß, drei Tage länger im Grand Canyon zu bleiben, fiel mir nicht schwer. Ich bin weiß Gott kein Naturanbeter, vermag al­so nicht allzulange andächtig vor einem der vielen Altäre des Erdschöpfers – wer auch immer das sei – stehenzubleiben. Aber der Grand Canyon übertrifft alles, was ich mir nur je im Geiste vor­stellen konnte, er ist das Non plus ultra meiner Amerika-Reise,

und ich weiß, daß ich nicht übertreibe, wenn ich sage: Er ist viel­leicht das Beste, was Amerika überhaupt zu bieten hat! Glaubt mir, ganze Schauer der Erregung liefen mir den Rücken herunter, als ich die ersten Meter des Bright Angel Trails hinter mir hatte. Ich konnte erst gar nicht glauben, was ich sah. Und was ich sah, das war Natur und Unnatur zugleich – das war zugleich schön, groß, mächtig – bizarr, trostlos, wüst. Die Fotos lügen, die Kamera ist einfach machtlos, sich ein Bild vom Canyon zu machen. Die wahren Fotos werde ich vergeßlicher Mensch unvergeßlich in meinem Gehirn aufblättern. Ich sage sowas selten: Aber wer über den Grand Canyon reden will, der muß dagewesen sein – und zwar: er muß bis ganz unten hin, bis zum Colorado River gewandert sein, andauernd von der Vorstellung getäuscht, hinter der nächsten Felsecke müsse der Colorado endlich auftauchen. Und er muß die 7 Meilen hinauf ge­keucht haben, geschwitzt, gedurstet, geflucht. Fata Morgana: die nächste Felszinne ist die Spitze. Du glaubst es geschafft zu ha­ben und bist plötzlich in den Indian Gardens: vor dir ein neuer Grand Canyon, und das wiederholt sich. Auf dem engen Pfad, auf den zahllosen Serpentinen begegnen sich die Menschen mit einem Hi!, Halloh! oder Howdoyee! – Ich begegnete einem 81 Jahre alten Mann, er ist den ganzen Tag unterwegs. – Am Bright Angel Creek, in der alleruntersten Schlucht – verfluchte Moskitos! -, komme ich zum Nachdenken und Schrei­ben über das, was ich in den zwei kurzen Wochen meines Trips bis­her gesehen und erlebt habe.

Ich startete in New York City: Ich schleppte meinen Rucksack zu einem der Locker des Port Authority Bus Terminals und ging dann den Broadway hinunter. Leicht, sich vor­zustellen, wie unsicher ich mich nun fühlte, ja regelrechte Angst davor hatte, angesprochen zu werden – zum ersten Mal würde ich ge­zwungen sein, englisch zu sprechen. Allein in einer glitzernden, brennenden Steinwüste; in der Dunkelheit leuchtete links und rechts von mir Wall Street Lametta. Typen von Menschen, wie ich sie erst jetzt, wo ich allein war, richtig beobachten und bemerken konnte.

In Amerika scheint es nur zwei stabile Gesellschaftsklassen zu geben: die Reichen und die Armen – und von beiden scheint die der Armen die stabilere zu sein. Eine dritte Klasse hat gerade soviel Geld, daß sie ihre laufenden Schulden tilgen kann, ohne dabei zu verhungern; sie pendelt zwischen den beiden stabilen Klassen hin und her. – Ich wurde sehr schnell angesprochen: Do you have change? Do vou have change?, Two pennies only – please!, Do vou have a cigarette?, Would you pay a meal for me? – and so on. Ich war deprimiert und sah, daß ich hier aus lauter Mitleid selbst arm würde und stellte mir vor, wie ich nachher selber am Straßenrand lauern würde: Do you have change? So habe ich mir ein stereotypes Sorry angewöhnt.

Die Maschinerie, das System dieses Landes, ist das Gesetz des Dschungels. Oder eines Karpfenteichs. Wer ist der größte Fisch?

Alles ist so schrecklich anonym, bei aller äußerlichen Herzlichkeit. Den guten alten Europäer trifft zunächst einmal der Schlag, weil er mit der anscheinend angeborenen Freundlichkeit der so liebenswürdigen Amerikaner nicht Schritt halten kann. Aber es ist ja vieles nur Schall und Rauch; es steckt oft nicht viel dahinter. Im Herzen regiert der Dollar die Freundlichkeit und den Umgang mit Menschen – das gilt jedenfalls für den öffentlichen Bereich. Ich dachte zuerst: Toll! Das sind Menschen, ganz anders, viel besser als in Europa, die haben alle so einen leichten Stich ins Grüne – die können leben! Pustekuchen – sie können nicht leben. Und wenn sie leben wollen, können sie es nicht, ohne ihr Herz nicht mit einer Dollarnote vakuumverpackt zu haben. So bin ich traurig über dieses in jeder Hinsicht arme Land, ich habe nun mehr Verständnis für unsere Zustände in West­deutschland. (Oder sind wir als kolonialer Außen­posten Amerikas nur eine Variation der gleichen Probleme?)

Ich glaube, die crux Amerikas ist es, daß es noch nicht den Sturmwind der Geschichte gespürt hat wie Europa. Es fehlt die gewachsene Geschichte, wohin man auch blickt. Amerika ist explodiert – und der Vulkan weiß nicht, wie er weiterexplodieren soll… Old Faithful – blubb blubb! Nehmen wir die Bewegung des Sozialismus. Amerika lebt ohne dieses Wort. Noch! Aber das Wort wird kommen, und es wird schrecklich werden, schrecklicher, als es schon ist. Der Vulkan könnte implodieren. Über hundert Millionen Vereinsmit­glieder der Great Silent Majority, Träumer vom Planeten Indivi­dualia, Gläubige vor dem Standbild der drei chinesischen Affen – Anpassung, Anpassung über alles, auf daß das System keine (asia­tische) Grippe bekomme – Betrunkene der Freiheit; und zugleich brutale Realisten im unermüdlichen Zwickmühle-Spielen, Millionen Gläubige vor dem Altar der eigenen Selbstüberschätzung: Jeder ist sein eigener Schiedsrichter. Amerika Arbiter mundi – großer Gott! Meint Wall Street etwa, der dritte Weltkrieg sei auch noch ein Geschäft? – muß umdenken! Es geht zu weit, wenn man in lauter Selbstglorifizierung, in der Selbstan­betung des erlösenden Individualismus, die Menschenwürde mit Füßen tritt. Die Menschenwürde scheint hier wie auf einer Auktion für Dollars verkloppt zu werden, wie rostige Schlüssel. Wer die Dollars nicht hat, kann sich keine Menschenwürde kaufen und darf sich mit dem Recht darauf zufriedengeben (Bettlektüre: Decla­ration of Independence). Manchmal verteilt dann der Staat ein bißchen Menschenwürde, bleibt aber Eigentümer bis zur vollständi­gen Bezahlung, für den Preis zum Beispiel, das Recht auf Menschenwürde auch in Asien zu erkämpfen. Panem et circenses. Aber nur soviel panem, daß die Reichen nicht sehen müssen, wie arm ihre ‚Mitmenschen’, oder ‚Mitbürger’ sind. Sowenig panem, daß die Armen die Schuldner ihrer eigenen Menschenwürde bleiben. Ich habe mit solchen armen Menschen am Union Square in San Francisco, in New York City, Chicago und in den Greyhound-Bussen gesprochen. Sie finden keine Arbeit; und wenn sie Geld vom Staat erhalten, dürfen sie vielfach nicht arbeiten, sonst kriegen sie kein Geld mehr – Spirale der Unvernunft! Aber weder staatliches Geld noch mickriges Einkommen (wenn überhaupt) reichen in vielen Fällen hin, ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Das ist doch purer Zynismus!

Wie kann der Indochina-Krieger – our boys! – sich heute noch ein­bilden, er kämpfe für Demokratie, Gerechtigkeit, Wohlstand, Gott und Zivilisation? Dies Land ist krank. Viele Jugendliche wissen es – die anderen verdrängen das Bewußtsein, daß irgendetwas nicht (mehr?) stimmt. – In Deutschland ist das doch auch so, ließe sich einwenden. Nein, so ist es nicht. Es mag vielleicht etwas sarkastisch klingen, aber neben jeden Glaspalast einer westdeutschen Versicherung stellt der Staat, stellt die Gesellschaft Wohnungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Die Extreme fehlen – das System des totalen Karpfenteichs ist nicht existent. Aber hier in Amerika ist das Revier der Karpfen unendlich groß.

Man könnte heulen, wenn man Amerika sieht: So viele Möglichkeiten, Bodenschätze, Intelligenz und guter Wille – und soviel Ungerech­tigkeit, gottgesegnete Ungerechtigkeit. Es ist genug für alle da – aber dieser Satz klingt hier schon kommunistisch.

Ich sah das Lincoln Center und die Metropolitan Opera – wer kann die Karten bezahlen? Was muß Chagall für ein kleinkarierter Vorarbeiter des Dollarsys­tems sein – dieser elende Anpasser! Gemälde für die Pariser Oper (schon schlimm genug!) und nun noch für das Lincoln Center, neben dem die Armen stehen: Do you have change? Wenn ich nicht prinzi­piell gegen Krieg wäre: Nur ein Bürgerkrieg kann hier schnell hel­fen – oder doch nicht? Wall Street könnte das größte Geschäft seiner Geschichte machen.

Gott! Was sind die getretenen Schwarzen manierlich! So manierlich, daß Sunil, der allmächtige Prometheus von Manhattan, es sich leisten kann, ein paar riots als spannendes living theater zu verkraften. (By the way: Auch manche Schwarze sind natürlich keine weißen Scha­fe. Einer sah mein peace symbol, krallte beide Hände zur Faust zusammen, brüllte „Black Power!“ und bat um ein paar Zigaretten: „Black Power – righthere, rightnow!“)

New York City: Homos an den Ecken. Peep shows. Die Extreme: Verklemmtheit bis zum Exzeß (kommerziell ausgenutzt) neben öffentlichem Sexismus. (Von Spannung, ja Verklemmung, Nicht-Wissen-Wie, Überbe­wertung und Unterbewertung des Sexuellen sind auch wir in Europa nicht frei. Zum Glück, sonst wäre ja die Liebe am besten etabliert in einem Hot-dog-Stand.)

In San Francisco kam ein Mädchen auf mich zu: „Do you have change?“ – „Sorry.“ – „Willst du mit mir schlafen? Fünf Dollar.“

Zeitgespenster kommen und gehen. Heute verteilen wir – BIG! SALE – die freie Liebe, morgen gehen wir mit Schleier. Müssen wir bei dem imperialistisch funktionierenden Dollarsystem bleiben, oder sollten wir uns den Luxus leisten, ein paar Gehirnzellen in Gang zu setzen? – Wall Street sorgt allerorten für das Opium, damit die Zellen nicht zu arbeiten brauchen und gar nicht erst können (es genügt ja, ein advertisement zu verstehen). Gehirnzellen haben einen negativen Marktwert. BIG! SALE für die Schuhsohlen, die die Menschenwürde treten.

Die Franzosen haben den besten Scherz der Weltgeschichte gestiftet (Bernard Shaw sagte es ganz richtig), als sie der Neuen Welt (so ­called) die Statue of Liberty schenkten. Großartig! Aus Stein und Stahl! Gleich am Eingang zur Neuen Welt. – Wie schön! Die Souvenirläden haben täglich ihren BIG! SALE für lauter kleine Freiheits­statuen, damit jeder Tourist, jeder Einwanderer gleich weiß: In unserem Lande kann die Freiheit, bei gutem Wetter für 3.50 $ (Circle Line) besichtigt werden. BITTE NTCHT BERÜHREN. – Wer spendet end­lich eine Statue of Liberty für den Hafen von Rotterdam? Ich vergaß: Wall Street hat den Grundstein schon gelegt. Und der wird Zinsen tragen.

DISCOVER AMERICA steht auf jedem Greyhound-Bus. Accepted. Grey­hound ist für mich – ich gebe es gern zu – eine großartige Sache, relativ bequem, schnell, laufend Anschluß. – Da wird viel Geld gemacht. Und nicht nur mit den Bussen. Wohl vielmehr noch mit den BUS TERMINALS: Ein Post Coach Inn hier, eins da. Cafeteria: Ein Hohn, was man hierzulande Cafeteria nennt, ein Hohn. Abfütterung wie beim Kommiß – ist das ein Teil des so sagenhaften American way of life? Hinter jeder Preisangabe steht unsichtbar „very expensive“ oder „Sie zahlen eigentlich zuviel, aber schließ­lich verteidigen wir in Indochina die Demokratie.“ Ja, die Demokra­tie ist teuer. So teuer, daß nur eine Minderheit sie genießen kann. THANK YOU FOR GOING GREYHOUND tönt der Lautsprecher allemal. MAY I HAVE YOUR ATTENTION PLEASE. Für was? Für den Wucher? („Bevor ich mein stolzes Greyhound-Unternehmen aufgebaut habe, war ich Schuhputzer in der Wall Street“.)

Der Bus fuhr nach Buffalo. Nachts. Inzwischen habe ich den Bogen raus, wie man auf zwei Sitzen liegend gut schlafen kann. Manchmal hatte ich Pech und böse Sitznachbarn quetschten mich derart, daß ich schließlich nur noch ein Abziehbildchen am Busfenster war. Oder 2-Zentner-Menschen: Natürlich haßt man sie, wenn sie einem den Schlaf rauben. – Ich ging auf die kanadische Seite, sah die Niagara Falls. – Wieder in Buffalo, lernte ich Neyris kennen, eine wallisische Studentin. Zum ersten Mal wurde mein Englisch auf eine ernsthaftere Probe gestellt, als nur zu sagen „I want to have a ticket to Buffalo.“

Abends nach Chicago – endlich einmal eine akzeptable Skyscraper­Architektur und gute (d. h. teure) Geschäfte, Blumen in den Straßen, keine pollution wie in Manhattan. Strand am Lake Michigan, direkt vor der skyline. Ich ging schwim­men und begann, Huxleys BRAVE NEW WORLD zu lesen, ein Buch, das mich in jeder Hinsicht ge­fesselt hat. Es hat die Depressionen über Amerika, die sich noch häufen sollten, vorweggenommen.

Die 36 Stunden nach Livingston, Montana, waren eine Qual. Dort oben im Norden waren übrigens wenige Touristen, aber dafür wimmelt es hier oder in San Francisco nur so davon. In Livingston führ kein Bus in den Yellowstone Park. Nur eine Sightseeing-Tour für 80 Dollar war zu haben. Ich sparte die 80 Dollar und schloß mich einer sich spontan bildenden Gruppe an: Zwei Kanadierinnen (Susanne und Anne), zwei Ungarn (Joseph und Julia), ein Japaner (Yugro) und ein Grieche (Pandos). Da der Grieche und die Ungarn in Westdeutschland studierten, konnten sie sich nur in deutscher Sprache verständlich machen. Der Übersetzer in beide Richtungen war ich. Ich lernte bald Umgangsenglisch, relativ viel, und jetzt bin ich in einem Stadium, wo ich mehr Vokabeln wissen will und mehr Grammatik, um bessere, schwierigere Sätze bilden zu können, um mehr zu verstehen und zu reden. Ich redete von da an täglich viel Englisch, aber es ist noch anstrengend für mich. – Unsere Gruppe mietete ein Auto, und zwei Tage lang sahen wir den wirklich bewundernswerten Park (aber was ist er schon ge­gen den Grand Canyon!) und übernachteten im „Old Faithful Inn“ Das war endlich eine Nacht im Bett. Ich habe glänzend geschlafen. Ich werde langsam müde. So ein Trip mit wenig Geld ist anstren­gend, weil in sehr kurzer Zeit allzu viele Eindrücke aufeinan­derfolgen, weil ich in einem fremden (WIE FREMDEN!) Land bin, in dem noch nicht einmal Deutsch gesprochen wird. Weil ich nie gut schlafen kann und weil ich nichts Rechtes zu essen habe. Ja, ich werde müde. Die Eindrücke in Somerset kommen ja noch obendrauf. Und immer wieder neue Menschen verkraften. Das ist schön und gut, aber anstrengend. Ich sehne mich nach Ruhe zurück, nach Mozart, nach Arbeit, nach irgendeiner Aufgabe – und nach ————————–

SSSCCCHHHLLLAAAFFF!

Salt Lake City: Temple Square. Great Salt Lake, in dem ich schwamm! Der Salzsee ist ansonsten wie SLC ziemlich uninteressant. Eine schö­ne, fast europäische Stadt – aber inzwischen mache ich mir nicht mehr viel aus Städten. Nun noch New Orleans und Florida, und dann habe ich fürs erste GENUG. Genug des Sehenswerten, Neuen, Interessanten. Genug des Deprimierenden. Genug vom Dollarsystem. – Ich traf in SLC zwei Schweizer, verabschiedete mich nun von den Ungarn und den Kanadierinnen. Ich könnte Stories erzählen von jedem, den ich traf. Da reiste zum Beispiel Neyris, eine englische Touristin, von Bett zu Bett, schlief mit jedem und finanzierte so ihre Fahrt.

Ich habe ausnahmslos deutschfreundliche Leute getroffen – das mag daran liegen, daß ich meistens nur mit Jugendlichen zu­sammentraf, welche die alten Klischees beiseite geschoben hatten, teils selbst in Deutschland waren und von Amerika zuweilen genug hatten. Immer wieder wurde ich gefragt : Wie ist die SPD? Wer ist Brandt wirklich? Wie sind eure sozialen und politischen Verhältnisse? Wie studierst du? – Obwohl ich viel an Westdeutschlands Verhältnissen zu kritisieren habe und grundlegende Veränderungen für notwendig halte – ich kam mir hier vor, als sei ich Reisender aus Schlaraf­fenland. Ich wurde mit Fragen bombardiert, hörte, wie man hier studiert, was man zahlt, wie man lebt etc. Manche Amerikaner klagten über den Freundschaftsbegriff. Hier gibt es einen Verschleiß an Freunden, es ist unglaublich. Anhänglichkeit, nach der sich hier viele sehnen, wird kleingeschrieben. Man lebt hier mit Menschen oft so zusammen, als rauche man sie als Zigaretten.  Mir geht es augenblicklich genauso. Es macht mich müde, langsam langweilt es mich sogar. Zu viel. Zu schnell. Der Kontakt ist gut, nicht immer nur oberflächlich – und trotzdem ober­flächlich, weil kurz. Das Know how des Sichkennenlernens ist hier ei­gentlich überflüssig – vielleicht ist das nicht so gut, es geht zu einfach. Meine Tagesbekanntschaften waren sehr aufschlußreich, ich lernte viel und konnte selbst einiges mitteilen. – Seit SLC lerne ich seltsamerweise nur noch Amerikaner kennen, obwohl es hier geradezu von deutschen Touristen wimmelt.

Ich sah Nevada Desert. Dann San Francisco. Sofort nach Sausalito: Dollar-System. Marke „Sou­venir“ oder „Knips knips“. Viel moderne fashion, reiche Leute, Fe­rienhippies. Schöne Häuser. Interessant eigentlich nur, daß Sausa­lito in Amerika liegt. Sonst nichts. – San Francisco ist eine groß­artige Stadt – bis auf seine Armut. Cable Car. Chinatown (dort schlug ich mir endlich einmal den Bauch voll) – aber Chinatown war im Grunde enttäuschend; nicht viel anders, nur größer als in NYC. – Zwei andere Schweizer getroffen. In den Städten lernst du keine Menschen kennen, auch in den größeren Bus Terminals bist du allein. Ich dachte mir, so schön S.F. ist, aber eine Übernachtung genügt. Und was für eine Übernachtung! Für 2.50 Dollar ins „Baldwin House“ – tol­ler Eingang. Ich dachte schon, das ist viel günstiger als YMCA. Ich öffne die Tür meines Zimmers. Alles dun­kel, ich konnte erst nichts sehen, taste in die Gegend, wo eine Lampe hängen müßte, erwische einen Draht, dann eine Birne, die ich rein­schraubte. Die armselige Funzel erhellte den Raum. Ich sah mit obszönen Bildern und Sätzen beschmierte Wände. Schmutz, wo man nur hinsah und hintrat – die Schuhe zog ich mir erst im Bett aus. Das Fenster: Die Scheiben braungelb vor Schmutz, zersprungen. Ich drücke das Fenster hoch und sehe auf den Innenhof. Auf einem Zwischendach lag meterhoch der Abfall und stank. Dunkel alles. Das Spülbecken eine Kloake. Der Wasserhahn brachte es lediglich zum Tropfen. Ich wollte mich auf den Bettrand setzen, bemerkte, das Bett war ungemacht. Schmutzige, gelbgewordene besudelte Wäsche, seit Wochen oder Monaten nicht ausgewechselt. Eine Kommode, leere Dosen, Asche, Papier, Abfall überall. Ich zog die Wäsche vom Bett, nahm meine Decke und ruhte mich aus. ­Ich hatte gezahlt, die Katze im Sack gekauft, hatte Angst zu re­klamieren, zumal ich noch nicht gut genug Englisch sprach. Dann überlegte ich mir, ob ich zur Polizei gehen sollte – aber die kennt ja bestimmt diese Zustände im Herzen des schönen S.F. Ich blieb, hatte wenigs­tens einen guten Schlaf, nachdem ich von Fisherman’s Wharf zurück­kam.

Am nächsten Tag lief ich stundenlang durch die Stadt. Union Square: Dort war es fast so wie am Washington Square in NYC. Drei Berkeley­-Studenten spielten Flötentrios von Bach und Quantz – sie verdienten gut in kurzer Zeit, spielten aber auch wirklich ausgezeichnet. In den Straßen eine Geigerin. Ein Musikwagen mit einer eigentümli­chen Orgel – von Pferden gezogen – führ über die Straßenkreuzung. – Do you have change? – Ein Veteran an der Ecke, ohne Beine, verkaufte Bleistifte. Hippies. Reiche, vornehme Damen stolzierten vor den Ge­schäften. – Do you have a lunch for me? – Demonstrierende Inder schlugen auf kleine Trommeln und tanzten in gelben Kutten. BLACK POWER. Gedränge in den Straßen. Ein amerikanischer Soldat: Do you have change? – Sorry. – But, I defend our country. – Sorry. Gedränge. Rush hour. Excuse me… excuse me… excuse me… excuse me … Ich kanns nimmer hören, excuse me.

Ich werde angesprochen, die Church of Scientology will mich testen, umsonst. Ich machte mit: 400 Fragen in Englisch waren zu beantworten mit YES, NO oder MAY BE. Danach war ich wie gerädert. Ein junger Mann kam am Schluß mit der Auswertung meines Tests zu mir, hier der result (100 Punkte sind jeweils Maximum oder Minimum):

1. Ich weiß nicht, warum und wofür ich lebe: -80

2. Ich bin nicht glücklich und mein Lebensgefühl

    ist dementsprechend: -60

3. Ich BEGINNE, Dinge zu tun: +80

4. Ich führe Dinge aus: +80

5. Aber ich BEENDE die Dinge nicht: -20

6. Ich bin zu CRITICAL: -60

7. Ich habe gute Kontaktfähigkeit: +80

Natürlich sollte ich wegen Ziffer l, 2 und 6 Mitglied der Church of Sciento­logy werden. Aber ich wurde nicht. Vielmehr hielt ich den Test für schlecht, für eine abgekartete Sache, für höchst tendenziös, denn: Bei 1 schnitt ich deswegen ‚schlecht’ ab, weil ich offen zugab, nicht zu wissen, warum ich letztenendes lebe (weiß die Church of Scientology es?), und entsprechend antwortete ich auf ähnliche, versteckte Fragen. Ob ich mir aber selber Bestimmungen meines Lebens gebe, wurde nicht gefragt. – Bei Ziffer 2 schnitt ich ‚schlecht’ ab, weil ich auf verschiedene Fragen antwortete, daß ich nicht mit den sozialen oder politischen Verhältnissen oder mit dem, was ich bisher in meinem Leben erreichte, zufrieden bin. Bei Ziffer 3 frage ich mich, woher sie ihr Urteil nehmen. Und bei Ziffer 6 tritt die Tendenz dieser „Church“ offen zu Tage. – Auf meine Gegenvorstellun­gen erhielt ich stets ein liebes Lächeln. Lächeln, Lächeln. Soll ich lächelnd zusehen, wie die Schwarzen diskriminiert werden, wie die Ar­men noch mehr verarmen, wie die Konservativen ihren heiligen Krieg in Asien führen? Vielleicht ist dies sogar das Ziel dieser Church. Wie ich dieses werbende, falsche, vernunftwidrige Lächeln hasse! Warum nicht ein ernstes Gesicht, wenn ich ernst bin, ein trauriges, wenn ich traurig bin? Natürlich weiß ich, wieviel ein Lächeln helfen kann, auch wenn es unmotiviert ist, aber ich bin genauso gegen das Extrem, unmotiviert zu handeln, wie gegen das andere Extrem, stets nur moti­viert zu handeln. SMILING AMERICA!

Auf der Busfahrt nach San Diego lernte ich einen Franzosen kennen, später auch einen Tschechen – so waren meine Busfahrten aufgrund der interessanten Gespräche, nie langweilig. – San Diego ist schrecklich! Vielleicht nicht so schrecklich wie Los Angeles, das ich einfach auf meiner Reise ausließ, aber es ist eine abstoßende, billige, ordinäre Großstadt. Puffs. Kneipen. Go-go-girls etc. Oder Bank-Paläste, „Cafe­terias“ etc. – Reiche Villen, arme, lumpige Holzhäuser, direkt nebeneinander. Ein Park, eine Wüste. Ein trauriger, schmutziger (Kriegs)ha­fen. Viele Mexikaner.

Ich versuchte über die Grenze nach Mexico zu kommen. Ich wollte nur Tijuana sehen, da Mexico City mit 24 Dollar für mich diesmal zu teuer war. Der mexikanische Grenzbeamte, liederlich gekleidet, lässig dasitzend – in einem regelrech­ten Schuppen – musterte mich, als er meinen Ausweis kontrollierte. „You are German“, sagte er. – „Yes.“ Ich dachte, aha, ich komme gut über die Grenze, denn es hieß immer, Deutschland sei bei den Mexikanern sehr beliebt. „Go back to the border!“ Er fluchte und sagte, ich solle mir erst einmal die Haare schneiden lassen. Ich nehme an, der eigentliche Grund der Abweisung ist ein anderer: Der Rauschgiftschmuggel an der mexikanischen Grenze ist ungeheuer – irgendwie mußte ich mit meinen langen Haaren danach ausgesehen haben. – Zurück in San Diego, rempelten mich Marinesoldaten an: „Hast du da drugs in deiner Tasche?“ „Nein.“ „Cut your hair!“ Lumpiger Hippie du, dir werden sie’s bei der Army schon zeigen! – Die hatte ich schon hinter mir…

Ich ging in eine Cafeteria, wollte eine Tasse Kaffee trinken. Ich wurde nicht bedient. Ich wartete. Ich machte mich bemerkbar, ging an die Theke, aber ich wurde nicht bedient. Schließlich kam sie: He … ? Ich wünschte Kaffee. Sie notierte – aber statt Kaffee erhielt ich etwas später nur die Rechnung. Ich ging mit der Rech­nung zur Kasse, sagte, ich hätte keinen Kaffee bekommen. SMILING (Grinsen): Draußen stünde für Leute wie mich ein Automat. Also dann nach Flagstaff. Und von Flagstaff zum Grand Canyon.

In einer nicht enden wollenden Fahrt bergab, bergab, bergab – ich dachte schon, ich würde unten im Canyon landen – kam ich schließlich nach Grand Canyon Village. Ich stand am Rand der Schlucht und wußte: HIER BIN ICH UND HIER BLEIBE ICH. Hier treffe ich lauter Amerikaner, mit denen ich rede und rede und rede. Unglaublich, wie interessiert sie am alten (nun doch für sie wieder neuen) Europa sind. Eben kommt von nebenan einer zu mir und erkundigt sich, warum ich noch nicht zu ihnen gekommen bin. Ich ent­schuldigte mich damit, daß ich von all meinen Impressionen (er sieht mich schreiben) so müde sei, so müde von all den Menschen, die ich traf, daß ich mich hier etwas ausruhen wollte. Er verstand mich sehr gut – und dann führten wir ein langes Gespräch über Europa und die amerikanischen Probleme. Wirklich, sie suchen einen neuen Weg, sie sehen jetzt auf Europa. Ich meinte, findet einen noch viel besseren Weg! Sie sollen bei JEFFERSON noch einmal anfangen. We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal; that they are en­dowed, by their Creator, with certain unalienable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness…

Das stimmt mich glücklich, daß viele junge Amerikaner suchen – es ist die Hoffnung, daß Amerika sich eines Tages einbettet in eine bessere Geschich­te, als sie Europa hatte.

Eben bekomme ich eine Taschenlampe gereicht – es wird schnell dunkel im Canyon.

Ich habe gut geschlafen, obwohl es in der Nacht ziemlich kalt wurde. Gestern abend saßen wir zu sechs (lauter Amerikaner) am Feuer – fast alle Jugendlichen, die ich treffe, sind Studenten, die mit dem Auto oder per Anhalter in der Ferienzeit durch ihr Land reisen. Meine rechte Hand zittert und mit links kann ich nicht schreiben, irgendein Insekt hat mich gestern nacht mordsmäßig in den Unterarm gestochen, so daß ich eine Riesenbeule habe.

Wir saßen am Feuer, unterhielten uns, es war warm, gemütlich – auf einmal kreisten mehrere Zigaretten – ich rauchte zum ersten Mal Hasch – verdammte Moskitos! – der joint stimmte mich nicht viel glücklicher, als ich schon war. Einige wurden langsam happy, zufrieden, ruhig oder redselig. Ich glaube, Hasch lohnt nicht – ich kann nicht verstehen, warum sich so viele Jugendliche von diesem teuren Zeug so abhängig machen. Wir diskutierten darüber. „In Amerika ist es so leicht, Probleme zu bekommen.“ – Ich frage, ob Hasch da hilft. „Sometimes.“ Sie haschten regelmäßig, lehnten aber LSD und schär­fere Drogen als physisch und psychisch zu gefährlich ab. – Wir sprachen über die freie Liebe. Sie waren gegen das Kommunen-Leben und meinten, daß Sex eine ganz persönliche, private Angelegenheit sei. Sie fragten: Was denkst du über den Vietnam-Krieg? Indochina-Krieg, sagte ich. Ist Muskie gut für uns? (NEIN!) Alle geben Ted Kennedy eine Chance. Für alle war Bob die große Hoffnung, Jack war es, der die liberale Bewegung erstmals nach dem Krieg in die Ad­ministration führte und unter der Weltjugend eine liberale Bewegung entfachte. – Wer ist Willy Brandt? Ein zweiter Kiesinger? (NEIN!) Ein anderer fand den treaty Bonn-Moskau gut – keiner hat die Befürchtung, daß Deutschland wieder einen Krieg vom Zaune brechen würde, sie rechnen Westdeutschland zu den friedlichsten Nationen. Aber sie haben Angst, Amerika könnte Hitlers Nachfolge antreten (und das auf noch raffiniertere Weise). (JA, ich habe Angst: das SYSTEM befindet sich hier in der eigenen Zwickmühle – rund 200 oligarchische Familien oder: Wall Street, das ist die eigentliche Regierung der USA, der Dollar ihr Gott – viele beten, wenn sie vor dem Kreuz knien, in Wahrheit ein Dollarzeichen an.

Die Atmosphäre – ich spüre sie hier erstmals unter den amerikanischen Jugendlichen, trotz vacations, trotz Grand Canyon und Hasch – ist wie unter Ratten, die das sinkende Schiff verlassen wollen: Angst vor der politischen Zukunft. Verdrängungsversuche ver­geblich. Angst oder zumindest Sorge. POISON IVY will take over the planete! Poison Ivy schaut verächtlich und erwartungsvoll auf die Krone der Schöpfung. Ich sehe mich schon als Fossil im Glaskasten in einem Mu­seum der späteren Poison-ivy-Zivilisation. Die Erde, ein ganzer, ein einziger Grand Canyon. Und am Schluß allen organischen Seins lösen sich Gott und die Idee des Menschen in Wohlgefallen auf. E = mc2 ohne homo sapiens sapiens.

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Eine Würdigung von Ulrich Bergmann finden Sie hier.