Japan in einer dystopischen Gegenwart?

 

Wer den Waschzettel mit den markanten Informationen über die beiden Bände des 2005 in Japan erschienenen utopischen Romans gelesen hat, ist zunächst sehr verblüfft. Hunderttausende von Obdachlosen, die Straßen und Parks der japanischen Großstädte zu Beginn des 21. Jahrhunderts bevölkern? Eine verheerende Wirtschaftskrise, die den einst reichen Inselstaat beutelt? Ein Staatsapparat, der wie gelähmt auf den Überfall eines angeblichen Invasionskorps aus Nordkorea mit rund 500 Bewaffneten reagiert? Es sind Fragen, die schon im Prolog 1, dessen Handlung am 14. Dezember Jahr 2010 in Kawasaki spielt und die Überschrift „Der Junge mit dem Bumerang“ trägt, einer wachsenden Neugier weichen. Da taucht ein gewisser Nobue auf, der im Personenregister des Romans als Mitglied der Ishihara-Gruppe fungiert, einer Gruppe,die aus Mördern, professionellen Terroristen, Schmugglern, Attentätern und Satanisten besteht. Eine illustre Ansammlung von Abenteurern, jederzeit bereit, den maroden Staat zu stürzen, mit dem hochdotierten Dichter Ishihara an der Spitze, einem guten Freund von Nobue. Wer nun erwartet, dass der Erzähler seine Leser mit klischeehaften Schauergeschichten überhäuft, irrt sich. Er wird kenntnisreich in das Obdachlosenmilieu im Ryokko-Park eingeweiht, erfährt, dass das Betreuungspersonal aus dem Gangstermilieu stammt, ist überrascht von der Mischung aus Zuvorkommenheit und Brutalität. Er wird sogar aus dem Blickwinkel von Nobue in die desaströse Weltpolitik eingeweiht, wobei er zu einem vorläufigen Ergebnis gelangt. Nobue entwickelt nicht nur eine solide sozialpolitische Analyse eines gelähmten Staates, sondern er mischt auch im verbrecherischen Untergrund von Kawasaki mit.

Überraschend ist dann der Sprung in den Prolog 2. Es ist der 21. März 2010. Wir befinden uns in der Hauptstadt von Nordkorea, Pjöngjang, also mitten im Zentrum des  Terrorregimes von Kim Jong-Il. Ihm treu ergebene, hochspezialisierte Genossen planen einen Überfall auf Japan, getarnt als „Rebellenarmee, die keine ist“, wie einer der Anführer, Kim Chang-bok, betont. Ziel dieses Überfalls ist die Hafenstadt Fukuoki, eine Millionenstadt, die schon einmal im 13. Jahrhundert von mongolischen Aggressoren besetzt wurde. Ein ist ein unschlagbarer Plan, „weil es sich nicht um einen Angriff der Volksarmee handelt“, wie Kim Chand-bok stolz verkündet, sondern eben nur „ein terroristischer Anschlag meuternder Teile der Armee“. Und da würde auch der amerikanische Bündnispartner von Japan nicht eingreifen. Deshalb laufen die militärischen Vorbereitungen ganz nach Plan, ohne dass die japanische Küstenwache und die Radarüberwachung eingreifen. Kein Wunder, denn die nordkoreanische Vorhut, die glorreichen Neun schippern am 1. April 2011 in einem gewöhnlichen Fischkutter ihrem Ziel entgegen. Hinter ihnen folgen in zeitlichen Abständen Dutzende anderer Kutter, vier Sondereinheiten mit rund 500 „Rebellen“. Alles verläuft beinahe reibungslos, zwei neugierige Fischer werden ohne Vorwarnung getötet. Schon am 3. April stehen die „Rebellen“ in den Diensträumen verblüffter japanischer Staatsbeamter, die erste Anweisungen von den nordkoreanischen Anführern auf Japanisch erhalten. Ein Tag vorher hat ihre Vorhut, bestehend aus einem halben Dutzend hochgerüsteter „Terroristen“, bereits ein ganzes Stadion besetzt. In der Phase Two 2 kommt es zur Blockade aller wichtigen Verwaltungsgebäude, die von nachrückenden „Terroristen“ bewacht werden. Von den japanischen Selbstverteidigungskräften keine Spur, die Polizei schaut wie gelähmt zu, die zum Rapport befohlene politische Führung ist machtlos, als es zu ersten Folterungen kommt. Schon am 6. April 2011 haben die Koryos, wie sie von den gedemütigten Japanern genannt werden, die staatlichen Fernsehagenturen übernommen und senden auf Japanisch ihre Propagandanachrichten. Die ersten Meldungen aus der Hauptstadt Tokyo, die noch nicht vom Feind besetzt ist, künden von der Blockade der Häfen, um die Landung der offiziellen nordkoreanischen Soldaten zu verhindern. Doch die Vergnügungsviertel von Fukuoka scheinen von der drohenden Invasion unbeeindruckt zu sein, obwohl er zu vereinzelten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Koryos kommt. Am 8. April 2011 heißt es: die Entdeckung der Dekadenz. Aber hat nicht der moralische Verfall, mehr noch: der staatliche Zerfall bereits begonnen? Im Prinzip ja, wenn es nicht die Untergrundbewegung Ishihara gäbe! Sie sitzt in einem künstlichen Urwald in der Nähe von Fukuoka und lauscht den Ausführungen des Sprengstoffexperten Takeguchi und des Bombenbauern Fukuda. Sie übertreffen sich gegenseitig bei den Vorbereitungen zur Sprengung eines Hotels, in dem die Koryos übernachten. Noch perfider sind die Pläne von Shinohara, Taten und Hino, die sich alle drei auf Züchtung von extrem giftigen Skorpionen, Walzenspinnen und anderen Spinnenarten spezialisiert haben. Sie wollen Tausende dieser Insekten, die in speziellen Behältern aufbewahren, nach der Sprengung freisetzen.

Sechs Tage später ist der endgültige Untergang Japans verhindert worden. Das nordkoreanische Expeditionskorps ist vernichtet, der Anschlag auf das Hotel perfekt ausgeführt, die Invasion der 120 000 Soldaten verhindert, weil die chinesische Regierung mit einem U-Boot-Angriff auf die nordkoreanischen Häfen gedroht hat. Ende gut, alles gut? Nicht ganz, denn diese raffiniert konstruierte Satire entwickelt auf verschiedenen Erzählebenen eine Story, in der auf der Grundlage der gegenwärtigen heiklen politischen Situation im Fernen Osten, noch vor den Atombomben- und Raketendrohungen des Kim Jong-Il gegen Japan und die USA, ein dichtes Szenario abgewickelt wird. Das Rezept lautet: Man nehme ein wirtschaftlich, politisch und moralisch brüchiges demokratisches Gebilde, ein zwielichtiges Terrorregime, das seinen Nachbarstaat in den Abgrund zwingen will, wenn es nicht eine effektive Untergrundbewegung mit ausgewählten Psychopathen und Sprengstoff-Spezialisten gäbe, die das geliebte Vaterland vor dem Untergang bewahren. Und die Umsetzung? Perfekte Darstellung des fiktiven Ablaufs, verblüffende Detailschilderungen, handwerkliche und sprachlich-stilistische Komposition (ein hohes Lob für die Übersetzerin Ursula Gräfe!) auf brillantem Niveau, ein Lesevergnügen, in dem sich Horrorvisionen und süffisantes Lächeln mischen, eine polit-militärische Satire von allerbester Qualität.

 

 

***

In Liebe, dein Vaterland von Ryû Murakami

Band I: Die Invasion. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Wien (Septime-Verlag). 456 S., 26.- €. ISBN 978-3-902711-76-2.

Band II: Der Untergang. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 500 S., 26.- €. ISBN 978-3-902711-80-9.