Seit meiner frühesten Kindheit sammle ich Bilder: zuerst kleine, naiv kindlich-kitschige Heiligenbildchen oder solche mit hehrem, hohlem Pathos; dann die ersten Kalenderbilder mit Abbildungen der bekannten Werke von Cézanne, Degas, Monet, Manet, Gauguin, van Gogh u.a., die man abriß und als Zimmerschmuck an die Wand heftete; und wiederum später jene Werke meiner Malerfreunde, die diese mir schenkten oder die ich mit meinen geringen Mitteln im Laufe der Jahre erwerben konnte. Immer waren diese Bilder wichtig für mich, erfreuten sie mich, waren sie meine Begleiter, redeten sie zu mir in ihrer Bildersprache, die ich verstand, die mich aufforderte zum Dialog, die mich berührte und traf, auch in meinem innersten Schweigen. Die Bilder waren da, waren um mich; und das war gut so. Alle diese Bilder hatte ich ausgewählt, ich hatte sie zu meinen Lebensbegleitern gemacht.
Dann gab es da auch noch andere Bilder: jene aus den Zeitungen, aus den Illustrierten, aus dem Fernsehen; die medialen Bilder sozusagen. Die hatten nichts mit Kunst, die hatten nichts mit meinem Inneren zu tun. Man schlug die Zeitung oder Zeitschrift auf, drückte auf einen Knopf am Fernseher – und schon waren diese Bilder verfügbar. Genausoschnell konnte ich diese Bilderflut aber auch wieder auslöschen. Manche der Bilder blieben im Kopf; unangenehm manche davon, ja quälend sogar. Irgendetwas von industrieller Fertigung hatten diese Bilder an oder in sich. Nachrichtenindustrie, dachte ich. Nicht schön, nicht gut, wichtig vielleicht. Man müßte auch die Bilder im Kopf auslöschen können, ging mir durch den Sinn; denn viele von ihnen stören, verwunden, tun weh.
Wie ist das eigentlich mit diesen Erinnerungsbildern? Wo genau hängen die in den Innenräumen des eigenen Ichs? Im Gedächtnis, in der Seele, im Bewußtsein, im Unterbewußtsein? Und wie ist es mit den Traumbildern, die ich im Schlaf sehe? In meinen Angstträumen. Welche Sprache sprechen diese Bilder? Meine eigene; aus welcher Zeit? Ich erinnere mich – auch vorallem mit und in Bildern. Ich sehe die Gesichter und Gestalten meiner verstorbenen Eltern, Geschwister, Freunde und Bekannten vor mir – auch diese Bilder kann ich abrufen oder sie erscheinen mir von selber, am Tag oder in der Nacht – und ich erinnere mich an diese Menschen, höre sie mitunter sogar aus diesen Bildern heraus reden. Sie sind da, plötzlich wieder da, sind mir nahe, manchmal beklemmend nahe. Oder ich sehe eine Landschaft, in der ich einmal, manchmal schon vor ganz langer Zeit, entweder allein oder zum Beispiel mit diesen Menschen war. Ich sehe meine Eltern, vom Alter gebeugt, eingehängt ineinander, weit vor mir auf einem Weg an der Grenze im Böhmerwald an einem Winterabend gehen; oder in jenem Frühling mitten durch die ergrünenden Wiesen; jenen Weg, der am Graben und bei der kleinen Brücke dann auseinanderzweigt in einer Gabelung. Wie eine ausgesprochene Erkenntnis traf mich damals die Sprache dieses Bildes ganz klar. Es war nur Ahnung, Vision; aber das Leben machte daraus Wirklichkeit. Ich hatte die Sprache des Bildes vernommen und verstanden. Aus diesem Bild machte ich ein anderes Bild: eine Fotografie. Die beiden Menschen ließ ich weg, ich zeigte nur jenes Stück Weg, das als ein noch gemeinsames vor ihnen lag – in jenem Augenblick sowie in ihrem Leben. Ich zeigte den Graben, die Brücke, die Weggabelung, wo aus einem Weg zwei Wege werden. Die vernommene Sprache des geschauten Bildes jedoch nahm ich mit. Ich transponierte die Mitteilung dieses Bildes, die Ende des gemeinsamen Weges und Abschied bedeutete, in die von mir geschaffene Fotografie. Das Bild hängt in einer Postervergrößerung vor mir. Sein Titel heißt „Trennung“. Der Tod hat dieses Bild wahr gemacht. Diese Wahrheit lag aber schon damals in der Sprache des geschauten Bildes.
Was also ist es mit den Bildern und ihrem Sprechen von Personen, die es nicht mehr gibt, von Landschaften, von Ereignissen, die schon längst in die Vergangenheit, ja manchmal sogar ins Vergessen gefallen sind, und die plötzlich wieder auftauchen wie aus dem Nichts. Welche Sprache ist das, wo kommt sie her, wo ist sie verwahrt? Was ist das Ereignishafte, was ist die Zeit, was ist die Wahrheit in ihr? Sind wir in ihr oder ist sie in uns? Oder sind wir beide in einer anderen, größeren Einheit beheimatet? Gibt es hier ein Geheimnis? Welches? Und worin liegt es begründet? – „Die Sprache der Bilder sind wortlose Zeichen / gemalt in den Farben von Trauer und Tod …“, so schrieb ich später in einem Gedicht. Verstehe ich diese Sprache, die ich selber gesprochen, verstehe ich diese Zeichen, die ich selber gesetzt habe? Verstehe ich ihre Wahrheit? Kommt diese aus mir, oder woher sonst? Hat das Geschaute, hat das Bild seine eigene Wirklichkeit oder ist jene von der Bedeutung bestimmt, die wir ihr geben? Worin besteht die Wahrheit eines Bildes und seiner Sprache? Etwa in der Kunst oder im Medienbild oder in der Informatik. Was bedeuten Gedächtnis und Erinnerung; vor allem auch dann, wenn der Mensch stirbt; wenn, wie man sagt, das Leben in Bildern noch einmal an ihm vorüberzieht? Wann und wie verlöschen die Bilder, wann und wie hören sie auf zu sprechen? Bleibt etwas davon in der Welt oder geht es verloren? – „Wortlos“ habe ich die Sprache der Bilder genannt in meinen beiden Verszeilen. Ist das richtig, stimmt das: Gibt es eine wortlose Sprache? Ich denke ja. Nur das Sprechen benötigt die Wörter. Auch Stumme können sich ja mit Zeichen mitteilen und verständigen. Und Augen können sehr viel sagen. Nur der Tod kennt keine Sprache. Er löscht nur aus.
„Blau, das wir erträumen / an jenen Tagen / da wir sterben …“ – schrieb ich vor fast zwanzig Jahren zum Bild eines Malers (Staudacher), das heute und jetzt an der Wand vor mir, vor meiner Schreibmaschine hängt. Viel Blau ist da, auch Schwarz, ein wenig Weiß; ein Speer und Pfeile verwunden ein Tier, verwunden das Bild, verwunden auch mich. Warum „Blau“, denke ich. Und weiß es nicht. Habe ich die (Geheim)Sprache dieses Bildes schon richtig entschlüsselt? Oder bleibt das ein Geheimnis? Wer weiß.
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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.
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In diese Zusammenhang verweist KUNO auf das Projekt Bildnisse, das 1996 auf vordenker.de vorgestellt wurde. In veränderter Form fanden die Bildbeschreibungen eingang in das Projekt Wortspielhalle, das in der Edition Das Labor erschien. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Ein Porträt von A.J. Weigoni findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können nach und nach hier abgerufen werden.