Nachschlagenswert und darüber hinaus

 

In Anbetracht der vielen Experten – dazu mit Doktoren- und Professoren-Titeln versehen –, der speziell eingerichteten Urzidil-Tagungen zur Hebung seines Schaffens ins allgemeine Bewusstsein, ferner angesichts einer Urzidil-Gesellschaft und eines -Museums, der Forscher von Johannes Urzidil in ganz Europa sowie der diversen Sekundärliteratur über den Prager Schriftsteller, kann einem bange werden etwas zu diesem bedeutenden Mann und dessen grossem Werk noch zu sagen, bin ich nur eine subjektive Individualstimme von vielen und weder Bohemistin (auch beherrsche ich nicht die tschechische Sprache) noch bin ich Germanistin, keine Kunsthistorikerin, noch weniger eine Politologin oder andere Sachkennerin des literarischen Werkes beziehungsweise der Person Johannes Urzidil.

Gesagt wurde und wird immer wieder, zudem zahlreich, was einen guten oder grossen Schriftsteller ausmacht und bei allen möglichen Ausführungen und Erläuterungen, die ich erfahre, erkenne ich Elemente, denen ich ohne zu zögern stattgeben würde. Eine umfangreiche Synthese aller zum Thema mir begegneten pointierten Aussagen würden den Rahmen sprengen, sie wäre überdies ein zufällig geordnetes Gefüge, und bin ich auch nicht auf eine solche analytische Zusammenfassung aus, denn warum soll ich in anderen Worten dasselbe wiedergeben, was schon andere ausführlich und allzu differenziert ausgedrückt haben. In Bezug zu Johannes Urzidil finde ich in der Auseinandersetzung mit den Kriterien, welche als literarisch hochwertig gelten, freilich immer wieder Eigenschaften, die auf ihn zutreffen, wenn ich das Wenige, was ich von Urzidil gelesen habe darauf untersuche. Schon durch dieses sehr vereinfachte Verfahren gelange ich zum Schluss, dass Johannes Urzidil ein grosser Schriftsteller gewesen ist.

Auch Susan Sontag, die ich momentan zufällig lese, hat sich auseinandergesetzt, was in ihren Augen einen guten Schreibenden ausmacht. Nehmen wir diese Begegnung als beliebige Grundlage für die Reflexion mit Johannes Urzidil. Sontag notierte Folgendes: „Als Schriftsteller muss man vier Personen sein: 1) der Verrückte, Besessene, 2) der Schwachsinnige, 3) der Stilist, 4) der Kritiker. 1 sorgt für das Material, 2 lässt es heraus, 3 ist der Geschmack, 4 die Intelligenz. Ein grosser Schriftsteller hat alle vier in sich, aber man kann auch ein grosser Schriftsteller sein, wenn man nur 1 und 2 hat, sie sind am wichtigsten.“

Zweifelsohne war Urzidil ein Autor, der viele Ideen hatte und sie in seinem umfangreichen Werk hinterliess. Nicht nur aus dem Grunde, weil er quantitativ viele Bücher und Texte verfasste, sondern beinhaltete jede Geschichte mehr Ideen als nur die Geschichte selbst, allein vermeintliche Nebenerscheinungen konnten durch einen Nebensatz erahnen lassen, dass Urzidils Schöpferkraft sehr gross war. Keine Frage, dass jemand, der den Schritt zum Schreiben und Publizieren gemacht hatte, auch davon besessen oder zumindest überzeugt gewesen sein muss. Dass er ein Stilist war, steht ausser Frage. Im Prinzip könnte man jedes seiner Werke an einer beliebigen Stelle aufschlagen, wenige Sätze lesen, und es würde einem bewusst werden, dass es sich hier um etwas Wertvolles handeln muss, in einer Handschrift und Stilistik verfasst, die meisterhaft sind. Ähnlich, wenn man lediglich wenige Sekunden Musiktakte hören muss, um zu erkennen, ob hinter den gespielten Noten ein grosser Interpret steht oder bloss ein solider von vielen. Vergleicht man zudem eine andere beliebige Seite eines Schreibenden von jetzt, wird der Unterschied noch frappanter und grösser, auch wenn zugegebenermassen solche allgemeinen Äusserungen heikel sind. Nicht etwa, weil Urzidil zu den gegenwärtigen Publikationen altmodisch erscheint; vielmehr ist es dieser besondere und grosse wie grosszügige Gestus, der durch die Worte Urzidils und deren Anordnung alsbald anklingt und eine bleibende Wirkung hinterlässt.

Umso erstaunlicher und traurig, dass so viele, auch in meinem Autorenkollegenkreis, den Namen Urzidil nur schwach oder gar nicht (mehr) in ihrem Bewusstsein haben, denn allemal kann man von diesem Meister als Schreibender, nicht nur aus handwerklicher Sicht, viel lernen. Es gibt heutzutage in meiner ganz subjektiven und mit Sicherheit auch nicht vollständigen Übersicht allzu viele Romane und Erzählungen die sich gut und flüssig lesen, frei von Verschachtelungen, dafür angereichert mit eingängigem Humor sind, dazu mit selbstbewusstem Innerlichem verflochten, auch von der Aufmachung oder von der Thematik her immer wieder originell, doch an was mir als Schreibende, und daher stets auch auf der Suche nach der literarischen Inspiration oder gar einem Vorbild, immer wieder mangelt, ist ein aufrichtiger und bewohnter Schreibender, dem ich mich von der ersten Sekunde an gerne anvertraue, dessen Duktus ich ohne zu zögern annehme und mich darauf einlasse, mich von ihm und seiner Authentizität, seiner Ehrlichkeit und Grösse führen, verführen lassen möchte.

Dieser Umstand zwingt mich zwangsläufig immer wieder in Antiquariate, wo ich Autoren wie Urzidil wiederholt begegnen kann und die ich in einer kommerziell funktionierenden Buchhandlung, und die angesichts der Marktwirtschaft dementsprechend arbeitet und somit tendiert, fehlen. Mein – selbst schon älterer – Antiquar nickte anerkennend, als ich nach Büchern von Johannes Urzidil fragte, denn zugegebenermassen besass ich nur ein kleines Bändchen. Zudem meinte er, dass in seiner Schulzeit Urzidils Werk im Deutschunterricht auf dem Pflichtenheft stand. Diese Zeiten sind wohl endgültig vorbei, hatte ich in meiner schulischen Bildung (Jahrgang 1971) den Namen Johannes Urzidil mit grösster Wahrscheinlichkeit kein einziges Mal vernommen. Die Bestrebungen, den deutsch-böhmischen Schriftsteller, Kulturhistoriker und Journalisten Urzidil wieder ins allgemeine Bewusstsein zu bringen, sind daher allemal berechtigt.

Offensichtlich ist, dass Urzidil ein hervorragender Schriftsteller und Kenner seines Fachs war. Er beherrschte die verschiedenen literarischen Formen und konnte die unterschiedlichsten Genres in einem Werk geschmackvoll miteinander verweben, ohne dabei je auf den Kritiker, der sich gewissermassen dem Werk aus einer entfernten und anderen Perspektive nähert, zu verzichten. Dieser zeigt sich mitunter auch darin, dass die Spannung, selbst wenn vermeintlich nichts erzählt wird, stets aufrecht erhalten bleibt. So liest man ein paar Seiten lang eine in sich ruhende und stimmige Erzählung, als man mit einem Male einer grossen Wahrheit, Klugheit, manchmal auch Weisheit, begegnet, die man zuvor nicht erwartet hatte und die so präzise und unverfälscht daherkommt, dass es einem die Sprache verschlägt und man den Satz gleich nochmals nachliest oder das eigene Denken seinen Lauf nimmt.

Möglich, dass ein sehr moderner Autor an manchen Stellen die Nase rümpft angesichts wiederkehrender moralischer Aussagen oder, da manche Zeile eines pathetischen Tons daherkommt, eines anachronistisch anmutenden, manchmal epilogischen Aufbaus, doch ist die gewählte Form meiner Meinung nach grundsätzlich zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen und frage ich mich im gleichen Zuge, was an moralischen Aussagen falsch sein sollte, wenn sie sich im Text gut einfügen lassen, oder andersherum, warum bloss in der heutigen Zeit dieses Thema derart verpönt ist. Natürlich sind wir in der Aufklärung, der Demokratie, der Zeit von lauter Individualisten angekommen, doch ebenso ist es eine Zeit der grossen Verwirrungen, der immer wiederkehrenden selben falschen Fährten ohne Einsichten, einer Zeit lauter verlorenen, streunenden und nach allen Seiten abgelenkten Wesen, die sich teilweise oder oft nur vermeintlich selbst verwirklichen und unablässig nach Halt suchen. Jetzt habe ich mich unfreiwillig selbst in eine moralische Sackgasse begeben, andererseits wird eben das Thema Moral vom Thema Moral gespeist. Da ist es einfacher es als Gegenstand a priori zu tabuisieren. Jedenfalls habe ich nichts zu bemängeln, wenn in einer Erzählung das Moralische mitschwingt und kleine Brücken geschlagen werden zu Grössen eines Homers, eines Goethes, eines Flauberts oder eines Leonardo da Vinci. Nichtsdestoweniger kommen viele Texte so authentisch und direkt aus des Autors Hand herüber, dass ich bisweilen Fiktion vom biographischen Einfluss unschwer ausmachen kann.

Wie anfangs eingeleitet, widerstrebt es mir eine Arbeit über Urzidil zu schreiben, unter anderem, da dies schon mehrfach getan wurde. Auch habe ich nach meiner literarischen Auseinandersetzung mit Paul Klee, in dessen Wortkosmos ich seinerzeit tauchte und darin arbeitete, einen anderen Anspruch an mich selbst, und eine Erfahrung wie die mit Klee ist in selbem Masse nicht wiederholbar, weil sie für mich zweifelsohne einen einmaligen Charakter hat. Ausserdem funktioniert eine analytische Untersuchung auf beide Seiten: zunächst wird dem Eigentlichen aufgespürt, doch als Nebeneffekt offenbart es auch den Analysten als solchen, und dies würde die Übung endgültig und unnötig verwässern, um nicht zu sagen verfehlen.

Kurz und knapp formuliert, kann zusammenfassend noch erwähnt werden, dass es Behagen und Freude bereitet jemanden zu lesen, der sein Handwerk allemal und virtuos beherrscht, der in der Lage ist wirklich gute Sätze zu formulieren, welche gefüllt sind mit erspriesslichem Inhalt, die getragen werden von einer zugrunde liegenden Glaubwürdigkeit, angereichert mit einer Menge von schönen Bildern und klugem Gedankengut, das im Leser zuweilen auf ganz subtile Weise etwas ganz anderes – jenes sog. Zwischen-den-Zeilen, das Darüberhinaus (?) – auszulösen vermag. Um es nun nicht bei allgemeinen Aussagen zu belassen, möchte ich sie nachstehend untermauern mit ein paar wenigen Beispielen aus Urzidils Erzählprosa. Freilich ist auch diese Auswahl rein zufällig, zudem nicht allzu umfassend, sollte jedoch auch lediglich einen minimalen Einblick in sein Schaffen gewähren und einen ersten Eindruck hinterlassen für den, der Johannes Urzidil im Original-Ton erst kennenlernen möchte:

In „Die Herzogin von Albanera“ kann man folgende beiden Sätze nachlesen, die mich aufhorchen liessen: „Wir alle leben ja, möchte ich sagen, vorerst als Modelle lieferbarer Wirklichkeiten, obschon nicht jeder das Glück hat sich dessen bewusst zu sein.“ Oder weiter: „Krieg kann den Frieden verhindern, aber kein Friede den Krieg. Was sollte man sonst beginnen, um die Leere der Stunden und die lange unendliche Zeit auszufüllen?“ In dieser Erzählung ermächtigt Urzidil einen Passanten zu folgendem Gedankengang: „…Was Sie da vorbringen, das gilt nur für wenige Grosse. Bin ich einer? Sind Sie einer? Verzeihung, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, vielleicht sind Sie einer. Ich habe zuviel Selbstachtung, um mich für einen zu halten. Aber ein Mensch glaubt ja schon Ansprüche zu haben, bloss weil er geboren wurde. Das ist der alte Streit mit Gott, verstehen Sie? Aber, mein Herr: ich bin sündig. Ich heisse Fürth. Ich habe einen verlotterten Wuschelkopf, weil ich vor lauter Verzweiflung über meine Niedrigkeit nicht dazu komme, mir die Haare schneiden zu lassen. Es ist wahr, ich bin Ihnen auf die Füsse getreten. Das könnte ein Beruf sein. Und noch dazu in vertrackter Weise. Davon könnte man beinahe leben. Auch vom Gegenteil. Zum Beispiel habe ich eine Zeitlang alte Bilder restauriert. Aber das ist ja alles eitel, flach und schal und unerspriesslich. Die Menschheit geht doch zugrunde. Je zahlreicher sie wird, desto weniger bleibt von ihr übrig. Und Sie haben nichts im Kopf als Ihre Füsse! Wenn ich sage Füsse, so meine ich das symbolisch. Pars pro toto, der blosse Teil fürs Ganze…“

In „Die Rippe der Grossmutter“ vermag uns Urzidil erst durch pragmatischen, beinah naiven Zugang des Erzählers immer weiter in eine Ästhetik hineinzuführen, die zudem tief philosophisch ist: „So viel hatte ich inzwischen gelernt, dass ich wusste, es sei eine linksseitige Rippe, wo drunter das Herz sich befunden haben musste und darüber bei einer Frau der Busen, also etwas Geheimnisvolles und zugleich Nützliches, etwas Begehrenswertes und dabei Gefährliches… Auf jeden Fall aber hatte unter dieser Rippe ein Herz geschlagen, zu leben, zu lieben, zu geniessen, zu freuen sich und gewiss auch zu leiden, Glück und Angst hatte sich da abgespielt und am Ende ein letztes Pochen. Man war da gewesen, und es war nun genug. Soviel hatte ich bereits an den diversen Grabstätten gelernt. Mochte aber die Rippe, so wie sie da vor mir lag, auch nur ein wenig Kalk sein, so war sie doch geformter Kalk und nur vermöge der Form war sie die Rippe. Das veranlasste zum Nachdenken. Willst du sie biegen, sie bricht. Aus der Form darfst du sie nicht bringen wollen. Ich fragte mich, ob ich also eine Art Ehrfurcht vor ihr zu empfinden hätte. Ehrfurcht vor der persönlichen Form.

Zum sprachlich Einwandfreien gesellt sich nebst den ohnehin klugen Sätzen auch im „Der Stahlpalast“ das Philosophische, Essayistische, gross Angelegte: „Zufall oder Bestimmung? Zufall und Bestimmung? Wille, Zufall, Bestimmung? Was läuft in dem einen Punkt zusammen, der Ereignis heisst und dabei doch ganz abstrakt ist, vorhanden und nicht vorhanden? Gott ist eine Rettung. Aber nicht für jeden. Vernunft ist eine Rettung. Aber nicht für jeden. Die Menschenkrankheit ist, alles aus einem ableiten, alles auf eines beziehen zu wollen. Das eine ist an allem schuld, das eine ist das Universalheilmittel und der Universalfluch. Bestimmung ist Ruhe, mit Qualen freilich, aber ohne Verantwortung…“ Und: „Dieses tatsächliche Leben ist nur noch durch verhohlenen Trieb und durch Ungesetzlichkeit naturverbunden, sonst aber mit Elan unsentimental, zunehmend robotisiert, von kommerzialisierten Formen und Festen umlogen, jedes echten Glaubens und jeder wahren Frömmigkeit bar. Mehr und mehr wird es zum Stahlpalast, und was Eddy versucht, war einfach der Ausbruch.

Aber nicht nur Ernsthaftes und Tiefsinniges finden wir bei Urzidil, sondern wiederkehrend auch den Humor, der sich mal offensichtlich und surreal zeigt, mal hintergründig und raffiniert fein ist. Die humoristische Wirkung zeigt sich mitunter darin, dass man als Leser lange auf den Humor wartet, beziehungsweise ihn nicht unbedingt erstrebt, als dieser auf einmal in einem Satz auftaucht wie in „Die Rippe der Grossmutter“ und durch Aufzählung von Tatsachen und klaren Beobachtungen folgendermassen auf den Punkt gebracht wird: „Der Direktor seinerseits fand sich in seiner Auffassung befestigt, dass in einer Schulklasse weder Kalbs- noch weniger aber grossmütterliche Rippen etwas zu suchen hätten und daher eine Ungehörigkeit und eine Störung des Lehrbetriebs darstellten, weshalb er ein künftiges Mitbringen von Rippen verbieten müsse.“ Eine surreale Passage aus „Die Herzogin von Albanera“: „Der Gurke jedoch, die er zwischen drei Fingern vertikal vor sich hertrug, entfielen perlende milchopalene Tränen. «Weine nicht so blödsinnig», sagte Schaschek, «die Herzogein von Albanera befindet sich durchaus wohl.»  Die Gurke nahm sich in der Tat die Worte ihres Herrn zu Herzen und war alsbald getröstet…

Und immer wieder auch das Feinsinnige und Schöngeistige verwoben mit dem Wesentlichen: Aus „Denkwürdigkeiten von Gibacht“, fällt unerwartet folgender kurze, lapidar anmutende Kommentar, der mich verblüfft und amüsiert: „Ich wüsste nichts vom weiblichen Jenseits.“

 

 

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Die erwähnte Arbeit mit Paul-Klee bezieht sich auf die daraus entstandene Publikation Klee composé, Lyrik mit Paul Klee, Littera Autoren Verlag, Zürich, ISBN 978-3-906731-38-4 sowie als eBook, dotbooksverlag

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.