Die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen

Am 9. November 1989 geschieht etwas Einmaliges. Für ein paar Stunden sind die Gesetze des Obrigkeitsstaates außer Kraft. Es herrschen Improvisation und Spontaneität statt Kontrolle und Gehorsam.

 

In seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet blickt A.J. Weigoni zurück auf den Zeitraum zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990. Es gehört zu den Paradoxien der Gesellschaftskritik, daß sie in spürbarer Retromanie jener vorglobalisierten Bundesrepublik hinterhertrauert, die sich doch selbst mit derselben Betroffenheitsrhetorik ‘soziale Kälte’, ‘Waldsterben’ und ‘kapitalistischen Wildwuchs’ vorwarf.

Wer Geschichte zur Schärfung politischer Urteilskraft betreiben will, sollte sich klarmachen, daß konsequente Historisierung eine Vorbedingung dafür ist, die Verführungskraft von Ideologien richtig einzuschätzen. Die DDR war ein Vakuum, eine Seifenblase, die schwebte und irgendwann platzte. Wo auch die Liebe in die Krise gerät, gerät die ganze Welt an den Rand des Abgrunds. Und umkehrt. Weigoni hat eine Sprache für etwas gefunden hat, was seither sprachlos macht.

A.J. Weigoni arbeitet in Abgeschlossenes Sammelgebiet einen Katalog von Sinnesdaten ab, achtet dabei jedoch auf die Balance zwischen einer packenden Geschichte und dem Respekt für die Figuren, die darin vorkommen. Er erzählt nicht nur, er deutet die Welt und ist dabei mit allen Wassern aktueller Theorie gewaschen. In diesem Roman ist alles literarische Erfindung, aber eine der glaubwürdigsten, schrecklichsten und wundervollsten. Weigoni weiß genau, wie er verzögert oder beschleunigt und wovon er schweigt. Sein Humor ist urteilslose Vollstreckung, mit knappen Wendungen stößt er Assoziationsketten an und erzählt fast süffig von Identität und Liebe, Vergeblichkeit und Verwandlung.

Die Wahrheiten in diesem Buch sind unendlich viel zahlreicher als die Irrtümer, der Mut ist viel größer, als es die Dummheiten und Fehler sind. Aber die Verbindung von beidem macht es zu einem wahrhaftigen, beeindruckenden Dokument über die Kämpfe in der Zeit der so genannten Wende. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt.

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.