Hoch zu Ross

Um ehrlich zu sein: Ich hab das Gewese, das die christlichen Kirchen um Martin von Tours vulgo Sankt Martin seit über 1500 Jahren machen, nie so recht begriffen:

Eben jener Martin war nicht irgendein namenloser Soldat Roms, stationiert im unwirtlichen Norden Galliens – er war Mitglied der Kaiserlichen Garde, Soldat der Reiterei und Sohn eines namhaften römischen Militärtribuns, also eines hohen Offiziers. Eben dieser Martin, so will es die Legende, begegnete, hoch zu Ross sitzend, an einem Wintertag am Stadttor des heutigen Amiens einem armen, unbekleideten Mann. Er erbarmte sich seiner, nahm seine Chlamys, seinen aus zwei Teilen bestehenden und mit Schaffell gefütterten Umhang, zerteilte ihn mit seinem Schwert und reichte ihn dem bitterlich Frierenden.

So weit, so gut. Klingt nach einer vorbildlich barmherzigen Tat. Doch da gibt es so manches, was einen stutzen lässt: Bei Martin handelte es sich ja wie gesagt nicht um irgendeinen gewöhnlichen Soldaten, der sich inmitten eines Kohorte einfacher Soldaten durch den winterlichen Matsch zu kämpfen hatte. Als Mitglied der Kaiserlichen Garde war er privilegiert, ragte aus der Masse heraus. Er saß hoch zu Ross, dem er die Sporen geben, so der klirrenden Kälte rasch entfliehen und in seine Garnison eilen konnte, wo auf ihn, davon ist auszugehen, zumindest ein wärmender Ofen, Speis und Trank warteten. Zudem befand sich diese Garnison nicht Meilen entfernt vom Ort des barmherzigen Geschehens, Martin musste also nicht spärlich bekleidet mit seinem Pferd, den schneidenden Winterstürmen trotzend, durch die verschneite Landschaft Nordgalliens reiten. Nein: Die Szene spielte sich am Stadttor von Amiens ab, also gerade mal einen Steinwurf vom wärmenden Ofen entfernt.

Was tat nun dieser römische Militär, der praktisch vor seiner eigenen Haustür diesem Mann begegnete, der, seltsam genug, im tiefsten Winter nicht, wie man es bei einem armen, bedürftigen Menschen hätte erwarten können, in viel zu dünner, ungeeigneter Kleidung vor der Toren sitzt, sondern nackt? Er tut nicht das, was von einem Heiligen zu erwarten gewesen wäre: Er steigt nicht ab, um sich um ihn zu kümmern. Er lädt ihn nicht zu sich ein, um sich aufzuwärmen. Er bietet ihm keine wärmende Suppe an. Er bedeckt ihn nicht mit seinem Umhang. Nichts dergleichen. Das einzige, was ihm einfällt, ist, seinen Umhang zu zerteilen und dem armen Mann die Hälfte der zerschnittenen und damit eigentlich zerstörten Mantels zu geben. Was, und das wird in dieser herzzerreißenden Geschichte immer gerne unterschlagen, vice versa bedeutet: Er behält die andere Hälfte für sich.

Was hat die Menschen bloß dazu gebracht, diesen zwar mitfühlenden, aber ganz und gar nicht selbstlosen Soldaten zum Sinnbild des barmherzigen Samariters zu erheben und als Schutzheiligen der Reisenden und der Armen und Bettler sowie der Reiter, Flüchtlinge, Gefangenen und Soldaten zu verehren?

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2020

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.

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Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm, Königshausen und Neumann, 2019. Eine Leseprobe finden Sie hier.