Der Brief des elfjährigen Henry Gontard an seinen Lehrer Hölderlin:
Lieber Hölder! Ich halte es fast nicht aus, daß Du fort bist. Ich war heute bei Herrn Hegel, dieser sagte, Du hättest es schon lange im Sinn gehabt, als ich wieder zurück ging, begegnete mir Herr Hänisch, welcher den Tag Deiner Abreise zu uns kam, und ein Buch suchte; er fand es, ich war gerade bei der Mutter, er fragte die Jette, wo Du wärst, die Jette sagte, Du wärst fort gegangen, er wollte eben auch zu Herrn Hegel gehn, und nach Dir fragen, er begleitete mich, und fragte, warum Du fort gegangen bist, und sagte, es schmerzte ihn recht sehr. Der Vater fragte bei Tische, wo du wärst, ich sagte, Du wärst fort gegangen, und Du ließt Dich ihm noch empfehlen. Die Mutter ist gesund, und läßt Dich noch vielmals grüßen, und Du möchtest doch recht oft an uns denken, sie hat mein Bett in die Balkonstube stellen lassen und will alles, was Du uns gelernt hast, wieder mit uns durchgehn. Komm’ bald wieder bei uns, mein Holder, bei wem sollen wir denn sonst lernen. Hier schick ich Dir noch Tabak und der Herr Hegel schickt Dir das 6te Stück von Posselt’s Annalen. Lebe wohl, lieber Hölder! ich bin Dein Henri.
Dieser Brief ist ein ausgezeichnetes Beispiel für Walter Benjamins These: „VIII. Im Kunstwerk ist der Stoff ein Ballast, den die Betrachtung abwirft.“ (Einbahnstraße: Dreizehn Thesen wider Snobisten)
Man kann beim Lesen zusehen, wie die Form den Stoff besiegt, oder wie der Stoff zur Form wird. Dabei ist der Brief noch gar kein gewolltes Kunstwerk!
Das Mysterium Hölderlins ist seine zweite Lebenshälfte. Sie ist für mich untrennbar mit seinem Dichten verbunden, keine isolierbare medizinische Frage. In der Erforschung der Seele des Menschen ist die Wissenschaft unwissender als bei der Seele der Materie. Ist Hölderlin ein quantenmechanischer Unfall – oder ist seine zweite Lebenshälfte ein bis zum physischen Tod andauernder Selbstmord? Folgt dieses zweite Leben aus dem ersten, in dem er bewusst dichtete?
In Bobrowskis Gedicht „Hölderlin in Tübingen“ (1961) hören wir den Anklang an Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ mit den klirrenden Fahnen – Bobrowski sieht einen Lebens-Zusammenhang in den beiden Strophen: Hölderlins trunkene Jugend und Tod durch Erfrieren in einer unlebbaren Welt. Dann sind Hölderlins Gedichte vielleicht von Anfang an das einzige ihm mögliche Leben, an das er aber auch nicht mehr glauben konnte, als er, der unglückliche Hofmeister, in Frankreich auf seiner Lebens-Reise sich selbst verlor.
Wenn ich bedenke, dass auch so mancher Hofmeister von heute untergeht in seinem Beruf und in der Unwürde unmittelbar empfundener gesellschaftlicher Verhältnisse (ich habe es schon mehrmals von außen mitangesehen), kann ich Hölderlins langes Sterben mir vorstellen. Nicht jeder hat die Kraft sich zu retten wie ein Woody Allen – bis zuletzt wissen wir nicht, ob und wie gut wir uns gerettet haben.
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Weiterführend → Ulrich Bergmann hat das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht.
→ Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.
→ Lesen Sie auch Friedrich Hölderlins Essay Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes
→ Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.