„Ich glaube an einen poet(h)ischen Zustand der Sprache“

Philippe Tancelin im Dialog mit Francisca Ricinski

Francisca Ricinski: Sie sind ein „zoon poetikon“, authentisch und komplex: Dichter-Philosoph, Essayist, Schauspieler, Doktor der Ästhetik, Professor, Koordinator verschiedener transdisziplinärer Poetik-Workshops, Spiritus Rector des Collectif Effraction (Kollektiv „Einbruch“), Präsident der „Internationale der Dichter“, Autor eines imposanten Werkes, in zehn Sprachen übersetzt. Und nun… mein Gesprächspartner!

Beginnen wir mit dem Vers von Hölderlin: „Doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“! Stimmt er überein mit der Vision und dem Verständnis Ihrer eigenen Präsenz im schöpferischen Raum?  Die Bücher und die anderen Publikationen, die Ihre Signatur tragen, sowie auch Ihre Gedanken, Reden und Interventionen bestätigen die Empathie und das Engagement für die Glücklosen und die Verhöhnten von überallher.

Philippe Tancelin: Ich befinde mich völlig im Einklang mit diesem Vers von Hölderlin. Wir sind in die Welt gesetzt, sie gehört uns nicht. Wir verweilen dort, wo man uns begegnen, uns finden kann, wenn wir es wollen. Dort als Dichter leben bedeutet zweifelsohne das anzunehmen und sich großzügig annehmen zu lassen als dieses Licht, das die Dinge aufscheinen lässt, indem es sie benennt. Benennen: „Die Ungesehenen“ statt die Unsichtbaren, die in der Tat Ausgelöschten, all diese Vergessenen, Verhöhnten, von der Gesellschaft Verleugneten, die endlich als präsent in dieser Welt erscheinen, Wesen in dieser Welt, von dieser Welt.

F.R.: Für Heidegger ist die Sprache das Haus des Seins. Und für Sie? Auf was bezieht sich das Wort Sein ? Der Bezug (vor allem der divergente) zwischen der Biographie eines Autors und seinem Werk, hat er Ihrer Meinung nach einen großen Stellenwert?

Ph.T: Das Haus des Seins ist ein Gebäude, errichtet als Bleibe, wo das Sein sich aufhält nach seiner Art. Das Sein hat zwei Wächter: Die Poesie und die Philosophie, die es eigentlich nicht bewachen, sondern nur seine Unterkunft, sein „abri“ schützen, im lateinischen Sinne von „apricari“, in die Sonne setzen, ins Licht. Die Sprache behütet die Strahlkraft des Seins vor der Gefahr des Dunklen, des Verschlossenen, des Schweigens. Im Gegensatz zu dieser drohenden Gefahr wird bei Rilke, in den Elegien, ein Gang ins „Offene“ vorgeschlagen. Eben dieses Offene lässt uns hoffen, lässt uns die Dringlichkeit einer Resonanz zwischen der Biographie und dem Werk eines Autors sehen. Das kann nur eine Suche werden. Niemand besitzt die Zukunft eines Helden oder einer Heldin, aber jeder und jede werden sich wundern, einer oder eine zu werden. Das ist das gleiche Staunen, auf das mich das Wort „être“ verweist.

F.R.: Derselbe große Philosoph der Phänomenologie spricht von einer Spalte zwischen dem philosophischen Gedanken und dem poetischen Wort, doch er sieht in ihr auch einen Ort der Konvergenz. Seiner Ansicht nach ist die Poesie die freieste Form friedlicher Wechselwirkung mit der Sprache. Und was ist die Poesie für Philippe Tancelin?

Ph.T.: Wenn es eine Spaltung zwischen dem philosophischen Gedanken und dem poetischen Wort gibt, wenn diese dennoch nach Heidegger eine Figur der Konvergenz darstellt, so ist sie für mich dieser verbindende Abstand einer jeden Säule zum Tempel und aller untereinander zu ihm. So wird es auch mit der Liebe sein, nämlich immer dann, wenn man ihr jegliche Vertrautheit, welche sie nur behindert, banalisiert und herabwürdigt, strikt verweigert, analog dem von Brecht so geschätzten „Verfremdungseffekt“.

F.R.: Könnte man das Bewusstsein der Sprache (nach der Formulierung von Saussure) oder, anders gesagt, die Beziehung zwischen den Begriffen des Bewusstseins und der Sprache als ein der Poesie und der Philosophie Gemeinsames betrachten? Ist dann das Gegenteil, das heißt das Unbewusste der Sprache, eher auf Enthüllung und auf einen poetischen Zustand ausgerichtet? Und ist das Poetische ein Begriff, der ebenso zum Territorium der Poesie gehört?

Ph-T: Ich glaube nicht, dass die Dichtung ein Territorium ist. Mit René Char betrachte ich sie vielmehr als eine Durchquerung, denn sie ist ja eine Nomadin, und ihre Bleibe ist die Reise, ein Durchstreifen ohne Ziel, quer durch alle Ausdrucksgebiete. Ich glaube an einen poetischen Zustand der Sprache, solange ihre Sinne offen sind für Bedeutungen, die sich jenseits der Wörter entfalten, deren gewohnten Sinn man zuvor zerschlagen hat.

F.R.: Was erhoffen Sie sich von Ihren Texten? Dass sie berühren, zum Denken einladen, eine Welle des Bewusstseins und eine Öffnung zur Welt hervorbringen, dass sie die Wahrnehmungsweise und Einstellung zu ihr verändern, ja, eine Umorientierung des Lebens bewirken? Und dass sie sich in den Dienst der Menschlichkeit stellen? Oder lassen Sie sich einfach treiben und schreiben, um sich von Ihrem Übermaß an Gefühlen und Gedanken zu befreien?

Ph.T.: Ich schreibe nicht aus solcher Überfülle heraus. Ich schreibe nicht zur Läuterung von was auch immer. Es ist eher das Gegenteil, ich schreibe nämlich gegen ein Übermaß von Leere an, eine Leere voll von kleinen erbärmlichen Ängsten, all diese Ungedanken vor lauter Angst sie zu denken, diese Ängste, die sich in rettenden Räumen verlieren, diese Ängste, nicht man selbst unter den Seinen zu bleiben, diese Ängste des anderen Ichs, gefördert durch ein Übermaß an gesellschaftlicher Kontrolle. Das schließt ein bestimmtes Schreiben ein, d.h. Texte, die nicht beabsichtigen, das Niveau zu heben, die Wahrnehmung oder das Bewusstsein des Anderen. Nur einfach Zeuge sein, Aufruf sein und Erinnerung an unsere Gegenwart in der Welt, an das, was diese imstande ist, aufscheinen zu lassen, und was gewisse Reden und Verhaltensweisen zu verbergen suchen.

F.R.: Ist es aufgrund Ihres Vertrauens in die Wirkungskraft schonungsloser Gedanken und Worte auf diejenigen, die Ihre Texte lesen oder Ihnen spontan lauschen, dass Sie sich zu Gunsten der Unmittelbarkeit des poetischen Aktes aussprechen, des mündlichen Charakters der Dichtung? Was passiert da mit der Dichotomie zwischen Wirklichkeit und Phantastischem und der suggestiven Kraft der Sprache?

Ph.T. Es handelt sich bei mir weniger um Vertrauen in Wirkungskraft als vielmehr um eine engagierte Suche nach der Unmittelbarkeit des poetischen Aktes, die Suche nach einer Resonanz der Sprache und des eigentlichen Seins, was ich manchmal das „Urwort“ nenne, das Wort des Wahren, nicht im Sinne eines verifizierten, in Beschlag genommenen Wortes, sondern als Wort der Suche. Das ist eine Suche, die einen Anfang von Schönheit schafft, von Wahrheit und Echtheit, einen Anfang aller werdenden Dinge. Die mündliche Dimension der Dichtung erleichtert diese offene Suche nach dem Wirklichen: diese Ermöglichung von „Ungeträumtem“ angesichts des Unmöglichen der uns diktierten Wirklichkeit.

F.R.: Der Autor ist, etymologisch gesehen, „der Urheber, der vermehrt und vorantreibt“. Zu welchen Ausdrucksmöglichkeiten greift der moderne Dichter, um den Spielraum seiner Rede zu erweitern und zu bereichern? Welche Rolle spielt für ihn noch die Bildsprache? (vor allem die Metapher, das Symbol)

Ph.T. Wenn der Autor wirklich der ist, der vorantreibt, dann muss der moderne Dichter, angesichts der Entwertung der Worte in der Haupt- und Herrschaftssprache, zunächst die Wörter mitsamt ihrer totalitären Bedeutung und ihren Denkbefehlen zerschlagen. Er muss die vorgefertigten Bilder und Clichés zerstören, sich der Festsetzung des Sinns samt seinen gängigen Repräsentationen widersetzen und überhaupt sich der ‚polizeilichen‘ Art und Weise, die Welt auf einschränkende Begriffe festzulegen, verweigern.

F.R. Sind wir Zeugen einer verstärkten Ausbreitung der Alltagssprache sowie der Praktiken der Macht und ihrer Kommunikationskanäle, die den Atem der Poeten ersticken und ihr Wort beschlagnahmen und entwerten?

Ph.T. : Heidegger hatte sie geahnt, die brutale und vulgäre Technisierung der Sprache als banales Werkzeug der Verständigung, der direktiven Mitteilung, die sich funktional gibt, und dies mit einem universellen Anspruch ohnegleichen. Ich meine damit auch die Digitalisierung und die Mediensprache. Diese Technisierung entwertet die Urwüchsigkeit der Sprache, die ich eben angesprochen habe und nun erneut anführe. Die Ausweitung der digitalisierten Sprache bis in die Alltagssprache hinein wird jedoch nicht den Atem des Dichters ersticken, aber sie zwingt uns eine Welt auf, in der das Poetische in den Untergrund gedrängt wird. Dem Dichter bleibt daher keine andere Möglichkeit als eine Sprache des ‚Einbruchs‘ zu erfinden.

F.R.: Als mein Buch „Car tu étais pluie“ (Denn du warst Regen), geschrieben zusammen mit dem tunesischen Dichter Abdel-Wahed Souayah, in Ihrer namhaften Sammlung  Dichter aus fünf Kontinenten erschien, hat mir das eine mehrfache Freude bereitet. Denn jetzt habe ich auch noch das Privileg, hier direkt mit Ihnen zu kommunizieren und Ihnen erneut für die Einladung, der Gruppe „Effraction“ anzugehören, zu danken, die vor fast  sechs Jahren in Paris, rund um den Verlag L’Harmattan, entstand. Sie, Philippe, zusammen mit dem Kollektiv „Effraction“, unterstützen, wenn ich das recht sehe, das lebendige, wirksame Wort bei seiner Aufgabe, im Herzen der Ideen zu wirken, das Denken und das Bewusstsein mitzugestalten, um sich der Manipulation und dem Diktat der politischen wie finanziellen Mächte zu entziehen. Gibt es überhaupt eine menschliche Beziehung, die nicht dem Einfluss des anderen unterworfen ist, eine – ja stets subjektive – Kommunikation, die keinen gewollten Effekt beim anderen hervorruft?

Ph.T.: In dieser Hinsicht und in Bezug auf Ihre Frage, ist jegliche menschliche Beziehung eines solchen Austauschs fähig, die Art der Aufnahme, das Erfassen und die Vorstellung des Anderen zu verändern. Was man ‚Einfluss‘ nennt, muss verstanden werden als Stärke des Austauschs, nicht als Macht, auch nicht als Wille, eine Autorität auszuüben und damit eine Beeinträchtigung der Autonomie und Legitimität anderen Denkens zu bewirken.

F.R.: Es ist eine Welle von Fragen, die einen nun bedrängen. Sie stellen sich fast von allein: Warum das Syntagma „Der Kampf der Sprache“? (Sie erinnert mich für einen Augenblick an la bataille d’Hernani). Glauben Sie wirklich, dass man die Konsequenzen, die durch die Herabsetzung der Sprachen und der Kommunikation entstanden sind, mindern kann? Betrachten Sie sich als Rebell oder eher als verantwortungsvoller Autor, der sich in den Kampf wirft – um einen Satz von Sartre zu  zitieren?

Ph.T.: Wenn wir das Wort „verantwortlich“ hören, gemäß seinem etymologischen Sinn „antworten“, einer Sache Gewicht verleihen, so ist der verantwortungsbewusste Autor notwendigerweise ein Rebell, indem er nicht die Autorität anerkennt, die sich die ‚Inhaber‘ einer von ihnen in Beschlag genommenen Sprache anmaßen, deren Wortsinn sie entwerten und durch ein Kommunikationsmittel ersetzen zur Kontrolle des Ausdrucks mittels Macht- und Ordnungworten, die sie selber definieren.

F.R.: Wie laufen die Sitzungen dieser internationalen Gemeinschaft von Dichtern und Künstlern ab, welche Ziele und Aktionen nach außen, bei Ihnen und in einer globalen Vision, wie prägen Sie das soziale Leben, das politische und literarische?

Ph.T.: Die Gemeinschaft der Dichter und „engagierten“ Künstler (ein entwerteter Begriff, dessen hohen historischen Wert man sich wieder zu eigen machen sollte), pflegt ein kritisches Nachdenken über die Konfiszierung der Sprache durch die gesellschaftlichen Machthaber und gleichzeitig agiert sie mit ihren Schriften und öffentlichen Veranstaltungen. Letztendlich geht es darum, das Unerwartete anderer Bedeutungen für andere Präsenzen in der Welt aufscheinen zu lassen, im Hinblick auf eine lebenswertere Welt und in Resonanz mit der Rebellion der Völker gegen ein von oben verordnetes Leben, wie man es heute in zahlreichen Ländern vorfindet.

F.R.: Wenn wir auf das Thema der aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift fokussieren, so tun wir das auch, um Ihre Meinung zur frustrierenden Situation der Sprache zu erfahren, ihre Unsagbarkeit, so wie sie einst der heute gefeierte Beethoven empfand, das Herz glühend in dem Wunsch, seine Liebe auszudrücken… Zuallererst, Ihre Meinung zum Thema Schweigen, das Sie ja in hohem Maße zu beschäftigen scheint.

Ph.T.: Was mich besonders beschäftigt angesichts des zur Zeit vorherrschenden Denkens, ist die Verwirrung, die es in der Sprache  schafft. Wie man vom Unsichtbaren spricht, um das Ungesehene zu bezeichnen, so spricht man vom Unsagbaren, um das Ungesagte zu benennen. Es gibt Empfindungen, Gefühle, die die Sprache nicht erreichen kann, woraus die zwingende Notwendigkeit einer erfinderischen Zukunft folgt, wortfinderisch zu sein, Wörter zu erfinden ineins mit anderem Lebenssinn, anderen Existenzweisen, anderen Formen der Liebe als diejenigen, die uns die Komfortzonen einer aufgedrängten Realität, mit der wir uns längst abgefunden haben, genießen lassen.

F.R.: Einige Titel Ihrer Sammlungen ziehen mich besonders an, das sind diese Worte, die anregen, in helldunkle Räume und Schweigen zu tauchen, non-verbale Sprachen, von abgründiger Tiefe : Poethik des Schweigens, Poethik des Staunens, Die Ästhetik des Schattens (geschrieben mit Ihrer Schwester Geneviève Clancy), Verticale du silence, Der Wald des Lebens…Was ist es, Ihr Schweigen? Stimme der Einsamkeit, des inneren Exils, Ablehnung des Nichtssagenden, Sprache kranker Wörter, Ruhe zwischen den Kämpfen? Oder Ihre spezielle Form der Eloquenz?

Ph.T.:  Erlauben Sie mir, die Rechtschreibung  des Terminus « poethisch » zu unterstreichen. Er bedeutet für mich gleichermassen das Poetische und das Ethos. Das Schweigen ist keine bloße Reduktion des Wortes. Es ist das, was dem Wort vorangeht, es aufsteigen lässt, unerwartet, erstaunlich, überwältigend, wie eben ein Gedicht es vermag. Es ist weder die Stimme der Einsamkeit, des inneren Exils, noch verächtliche Ablehnung des Nichtssagenden, sondern, wie Sie es so schön suggerierten: diese Eloquenz, die mein Heimweh nach dem Land des Anderen durchmisst.

F.R.: Glauben Sie, dass die Dichtung echte Chancen hat sich weiter zu entwickeln oder zumindest zu überleben? Denn in ihrer akustischen Form zum Beispiel, die durch Dada und Autoren der zweiten Avantgarde wie Oskar Pastior und Ernst Jandl die Laute zum Vibrieren brachten, ohne Rücksicht auf die Bedeutung der Wörter, entwickelt sie sich in noch innovativerer Weise. Sie kennen sicher Henri Chopin, den Dichter-Herausgeber der „Revue OU“, die sich vor allem den Neuerern der  elektronischen Dichtung widmet, oder die sprachlichen wie musikalischen Performances der elektro-akustischen Musik. Nicht zu vergessen auch die visuelle und die computererzeugte Poesie, die Anti-Poesie … So viele Versuche, die klassischen Grenzen der literarischen Felder zu sprengen und Bande zu knüpfen für ein neues, hybrides Werk! Also: Wohin bewegt sich die Dichtung?

Ph.T.: Die Poesie, wie ich sie sehe, hat mit der Literatur nichts zu tun.  Sie erzählt nicht, berichtet nicht. Sie löst ein Quellen aus, eine Sinnschöpfung schon durch das bloße Hervorsprudeln, und sie bietet die Mittel für eine schöpferische Fortsetzung in der Entfaltung des Gedichtes beim Leser.

F.R.: Sie  haben uns ein französisches Poem anvertraut. (Die deutsche Version stammt von Doris Distelmaier-Haas, Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin). Kann man Dichtung übersetzen? Sollte der Übersetzer Dichter sein? Betrachten Sie die Frage des Rhythmus in der Übersetzung, ja, des freien Verses als wesentlich? Sind Sie einverstanden mit Yves Bonnefoy „dass man nur die Dichter übersetzen soll, die man wahrlich liebt.“?

Ph.T.: Wenn der Übersetzer des Dichters kein Dichter ist, dann wird er es notwendigerweise dank dieses Übergangs, den er vom Erfühlen der dichterischen Innerlichkeit eines Wortes oder einer Schrift hin zum Anderen vollzieht, und zwar ausgehend vom Rhythmus. Was Bonnefoys Aussage betrifft, so stimme ich mit ihr überein . Man sollte nur die Dichter übersetzen, die zu einem Staunen, ähnlich der Liebe, führen.

F.R.: Sind wir bei einer wirklichen Krise der Poesie angelangt oder nur bei einer momentanen Konfusion, einer Krise ihrer Definition? Wenn absurderweise niemand mehr zu schreiben oder ein Gedicht öffentlich zu rezitieren wagte, ohne von seinen Zeitgenossen lächerlich gemacht zu werden, wären Sie versucht, sich selbst zu verleugnen wie Blaise Cendrars, indem Sie Ihre Gedichtbände in eine Kiste einsperren?

Ph.T.: Was auch aus der Selbstgefälligkeit einer Gesellschaft entstehen mag, das Gedicht wird ihr nicht zum Opfer fallen. Es kennt nur die Hoffnung und das Glück des Staunens. Auf die Gefahr hin, aus der Poesie verbannt zu werden, hoffe ich, niemals die bescheidene Furche aus den Augen zu verlieren, die der „Ackersmann der Worte“ beharrlich zieht (Eine Bezeichnung, die mir vor nunmehr 45 Jahren ein italienischer Journalist verliehen hat, dem ich für seinen Scharfsinn danke.)

Philippe Tancelin: Um nun ein Schlußwort für unser Gespräch zu setzen, sei es mir erlaubt, meinen Dank an die Literaturzeitschrift „Dichtungsring“ auszusprechen für den Empfang, den sie uns hier bereitet hat, und unseren Leserinnen und Lesern für ihr Interesse an unseren Äußerungen, von denen ich hoffe, dass sie auch jenseits dieser Zeilen fortleben und sich entfalten mögen auf der Höhe der Fragen, die sie so treffend hervorriefen.

Aus dem Französischen von Doris-Distelmaier-Haas und Alfons Knauth.

 

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Eine Leseprobe aus DR 57 mit der sich die Autorin Francisca Ricinski würdevoll als Herausgeberin des Dichtungsrings verabschiedete.

Weiterführend → Ein Rückblick auf die ersten 10 Jahre Dichtungsring findet sich hier. – Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Ein Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Bruno Kartheuser finden Sie hier. – Weiterhin zu empfehlen auch ein Essay über Francisca Ricinskis lyrische Prosa Auf silikonweichen Pfoten, Ioona Rauschans Roman Abhauen oder die Lyrikerin Ines Hagemeyer. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte von Ulrich Bergmann aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Ein Porträt des Herausgebers und Lyrikers Peter Ettl findet sich hier. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.