Lerne sterben!

oder Der ewige Gesang des toten Jünglings

An die Parzen.

 

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heil’ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

 

Meine Hoffnung: ein reiches Leben, in dem ich viel erfahre, erkenne, glücklich bin, liebe und geliebt werde, voll Wärme und Schönheit und Wahrheit. Das liegt nicht ganz in meiner Hand. Ein solches Glück muss ich empfangen und ergreifen. Die griechischen Parzen als Urbegriff dieses mythischen Wunschs nach einem gnädigen Schicksal: So werden Leben und Tod allgemeiner und gültiger als mit christlichen Bildern, Mythen und Symbolen gesehen. Das dichterische Genie, das selbst Welten erschafft, konkurriert mit dem Weltenschöpfer. Das dichterische Schaffen ist die einzige, wichtigste (heilige) Sinngebung des Lebens. Nur so ist ein Weiterleben möglich nach dem Tod: mit dem in der Dichtung erschaffenen Leben.

Und nach dem Sommerwachstum ein Herbst (Ernte): das Dichten, die Vergeistigung des Lebens in schönem = wahrem Gesange, der ewig besteht. Das will das lyrische Ich:

Damit es bereit sein kann zu sterben. Indem der Dichter sein Herz, also seine Gefühle, Gedanken, erkannte Wahrheit… in Dichtung entäußert, wird der Körper zum Winterast, der Früchte trägt. Das gesättigte Herz ist ein Bild für gefundene Vollendung, süßes Spiel, Gesang, erdichtete verdichtete Welt.

Diejenige Seele, die nicht diese Vollendung erreicht, bleibt ungestillt, ungesättigt, und, allgemeiner: die Seele kann dies nicht in der gelebten realen Welt, sondern nur in der Dichtung. Zur Schöpfung ist man als Dichter berechtigt wie Gott (Vers 12). Die grenzenlose Freiheit der Dichtung stellt Gottgleichheit dar, aber natürlich nicht in der Realität des Handelns, sondern nur als potentielles Sein, da alles Gedachte sein könnte.

Wer nicht e i n m a l gelebt hat, kann nicht erfüllt sterben.

Wenn aber irgendwann später, einst, das Wichtigste, das Heilige, die Wahrnehmung göttlichen Rechts, das Gedicht also, das der Dichter ersehnt und das ihm auch im Herzen liegt – das Herz ist von süßem Spiel gesättigt –, gelungen ist, dann ist der Tod willkommen (aus „ruht … nicht“ wird „Stille“).

Es ist eine Schattenwelt. Die Farben, das was weiterzuleben vermag, ist im Gedicht, es wirkt ins Leben. Ich, indem ich dies schreibe, beweise es – aber auch unabhängig von mir selbst besteht Wahrheit und Schönheit ewig.

Ich bin zufrieden – gesättigt, williger –, obwohl ich weiß, dass mein Gedicht (Saitenspiel) der toten Hülle nicht ins Schattenreich folgen kann, denn mein Herz ist im Gedicht. Vielleicht ist hier gar nicht einmal der Tod gemeint, sondern die Verselbständigung des Werks. Beide Ansätze wirken zusammen.

Einmal lebt ich wie Götter … und dafür war diese Eine Sommer (Vers 1) nötig. „Lebt“ kann als Konjunktiv oder Indikativ Imperfekt in einem Konditionalgefüge aufgefasst werden: Doch ist (wenn) mir einst … das Gedicht gelungen …, (dann) Lebt ich einmal wie Götter…

Bereits der Sommer gehört zum Gedicht, er wird wie das Herz in es hinein genommen. Schaffendes, Schaffender und Geschaffenes werden eins, und am Ende ist auch der Dichter in seinem Werk ein Geschaffener. Nur so lebte ich göttlich, in dem einen Moment (Einmal), in dem ich als Dichter schuf wie Gott, nur dann war der Eine Sommer das Leben, wenn dieses Leben der Dichtung (dem Heiligtum, Vers 7) geopfert wurde: Leben und Dichten werden eins.

Diese Gedanken sind – in solcher Dichte, Wohlgesetztheit, Süße und Schlüssigkeit – überzeugend. Das galt 1798 für Hölderlin. Schiller sagt in seinem Gedicht „Nänie“ (1800): „Auch das Schöne muss sterben!“ Zwar gibt er zu bedenken: „Auch ein Klaglied zu sein im Mund des Geliebten, ist herrlich, denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.“ Aber „das Schöne vergeht, … das Vollkommene stirbt.“ Mancher dichtet auch heute seine Welt mit seiner Arbeit. Gedicht und Gesang meint auch bei Hölderlin eine mögliche Form höherer Harmonie: erstrebte Utopie, Ideal einer gelungenen Harmonisierung von Idee und Wirklichkeit; so etwas ist in der Tat schön und kann wahr genannt werden. Aber wem gelingt das heilige Ideal? Und wie merken wir das? Am gesättigten Herzen? An der Stille der Schattenwelt?

Kann Hölderlins Idee heißen: Lerne sterben? In der Tat – das ist auch ein Kunst-Stück. Was für ein kolossaler Traum, den Hölderlin in zwölf Versen schuf. Oder ging’s ihm eben doch mehr um den Ruhm? Auch das ist ein Traum.

Das Gedicht ist angelegt um die Achse Orkus (Vers 6) / das Heilige (Vers 7). Außen kreisen die Satelliten des erlebbaren Lebens: Einmal (Vers 1 und 2), Einmal (Vers 11).

Die Dreiteilung durch Strophen (Leben, Werk, ‚Tod’) wird dialektisch durch die Zweiteilung aufgehoben: „Doch…“ (Vers 7) – der ruhelose Orkus wird aufgewertet als feierlich angesprochene „Stille der Schattenwelt“.

… und mehr bedarfs nicht: Das ist eigentlich tautologisch, denn es ist alles längst gesagt: „Einmal Lebt ich, wie Götter…“ Eine Tautologie als Behauptung einer Behauptung, um jede Skepsis tot zu reden? Der persönliche Wunsch (Vers 1) wird am Ende formal abgeschlossen – nun aber allgemeingültig: Es heißt nicht: „und mehr bedarf ich nicht“, sondern „mehr bedarf es nicht!“ Nur Einen Sommer – mehr nicht! Das ist eine Litotes, im „Nur“ steckt schon alles, „mehr“ ist gar nicht möglich. In dieser ‚Grab-Zeile’ steht das ewige Leben des Werks, das Werk birgt das Leben.

 

 

 

Weiterführend → Ulrich Bergmann hat das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht.

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