Zvonko Maković · lügen. warum nicht?
Ich schreibe im Moment nicht
Heißt denn lesen, grundsätzlich, auch vergessen? (Klar und natürlich heißt es das – leben heißt schließlich auch vergessen. Und ›leben‹, ›lesen‹ sind gerade mal einen, einen einzigen Buchstaben voneinander entfernt, gehören so eng zusammen, daß ich sie gern zusammenlese – m/ein Leben: ein einziges Dechiffrieren.) Rettet das Vergessen den Leser, bewahrt es davor, daß einem der Kopf platzt oder man geistig geköpft wird, wie es in Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich (in anderem Zusammenhang) heißt? The deformation of memory. (Caroline Duttlinger) Wie viele kleine Tode erlebe ich, bevor ich dem großen Tod begegne? Ich schreibe im Moment nicht. Es ist einfach vollkommen unmöglich, denn Schreiben treibt mich immer ins Sterben hinein, in diesen permanenten Schmerz, schreibt jemand in einem ausführlichen, auf differenzierte Weise in die Tiefe gehenden, bildhaft fein formulierten elektronischen Brief. Friederike Mayröckers Prosa Das Herzzerreißende der Dinge lese ich am 29. Januar 2012: ich kann mich nicht mehr erinnern an mich, wozu auch, mit meiner Vorstellungskraft und bei allen Gelegenheiten schein es zur Neige zu gehen …
You forget what you want to remember
Drei Textstellen – gelesen bei John Burnside, Jan Röhnert und Peer Trilcke – wollen in diesen Tagen nicht aus dem Kopf, obwohl ich längst in anderen Texten schmökre, knurren und murren und surren und wollen einfach nicht weichen: You forget what you want to remember and you remember what you want to forget. (Cormack McCarthy · The Road)
In John Burnsides Roman A Lie About My Father lese ich kurz vor Schluß:
There are psychologists who believe that we record every word we ever read, every picture we see, every event, however small, every window in every house on every street we ever walk in a lifetime of books and streets and pictures. We record it all and file it away, awaiting for it to be recollected: the vast disordered encyclopaedia of one human existence. At some point, when they are most needed, we recover images we never knew we had, and make of them what we can: a story, a lie, a dream, a life.
In Peer Trilckes Monographie Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings heißt es:
Zu dieser Zeit gegenwärtige Autoren – die bereits damals ältere Generation wie Hans Magnus Enzensberger oder Peter Rühmkorf einmal beiseite gelassen – also Autoren wie etwa Rolf Dieter Brinkmann und die diesem folgenden, die diesen umgebenden Autoren der Neuen Subjektivität spielen keinerlei Rolle für Kling; und das obwohl gerade die Neue Subjektivität zu dieser Zeit im nahe gelegenen Köln (Kling lebte zunächst in Krefeld, dann in Düsseldorf) einen ihrer literarischen Brennpunkte hatte.
Jan Röhnert vermerkt in Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts (2006 herausgegeben von Peter Geist und Ursula Heukenkamp):
Auf eine Weise jedoch haben die Gedichte Brinkmanns auch nach dem Tod ihres Schöpfers »weitergemacht«: Beim Leserpublikum und einer Vielzahl von Lyrikern, die sich durch Brinkmann zu – mehr oder weniger gelungenen – eigenen Versuchen inspirieren ließen. Seine Anregungen scheinen jeweils dort am fruchtbarsten aufgehoben zu sein, wo sie innerhalb eines wiederum selbständigen Dichtungsentwurfs neue Gestalt gewinnen. Etwa für den »Kaddish«-Zyklus von Brinkmanns Generationskollegen Paulus Böhmer, die Lyrik der rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner (»Kopfland. Passagen«) oder Richard Wagner (»Hotel California«) ist Brinkmanns Lyrik ein fester Bezugspunkt, aber auch für das Selbstverständnis ostdeutscher Lyriker wie Uwe Kolbe, Thomas Böhme oder Michael Wüstefeld spielte Brinkmann eine wichtige Rolle; auch aus den frühen Gedichtbänden Thomas Klings »geschmacksverstärker« und Durs Grünbeins »Grauzone morgens« ist Brinkmanns Stimme herauszuhören.
Eins, zwei, drei, vier Eckstein
Die Dichtung entspringt dem Datenstrom, ist, gelingt sie, funktioniert sie, gesteuerter Datenstrom und löst einen solchen im Leser aus.
Thomas Kling
Nehme ich Zvonko Makovićs als Motto über diesen Essay gestelltes Zitat hinzu, so schallt es in einem Hirnraum immerzu aus allen vier Ecken: Permanent wiederholen die vier Sprecher den von ihnen verfaßten Text, rufen ihn regungslos, ruhig in den Raum hinein, und so erlebe ich seit Tagen diesen Wörtertumult, ein Tohuwabohu, dem ich mich nicht entziehen kann/will: Zu dieser Zeit gegenwärtige Autoren / der einst berühmte Satz / There are psychologists who believe / Die wirkliche Welt war immer / Auf eine Weise / keinerlei Rolle / Brinkmanns Stimme herauszuhören / a story, a lie, a dream, a life … Unmerklich rücken drei Stimmen näher zueinander, Millimeter für Millimeter entfernen sie sich naturgemäß von der einen Stimme, die trotzdem weiterhin hörbar bleibt. In der vergangenen Nacht träume ich den Schrei des Schmetterlings, und eine kafkaeske Stimme ruft mir zu: Gibs auf.
Der Rest ist süße Amnesie
In den Einstiegluken zur Wahrheit beten die Spürgeräte, Paul CelanWelches Wort vom, sagen wir, innerhalb eines Jahres Gelesenen bleibt, in welcher Form auch immer, lebendig und welches schleicht sich, irgendwo in graue Hirnzellen auf Nimmerwiedersehn, fort? Von wegen Der Rest ist süße Amnesie, wie ich in Harald Hartungs Sonett Ein Doppelgänger als Antwort auf die Frage So wär dies Lesen nichts als Vorbereitung / aufs blanke Nichts? erfahre, mir die Augen reibe, die Verse noch einmal lese und feststelle, daß ich unbewußt ein Paragramm (herrlich die von Günter Vallaster herausgegebene Anthologie Paragramme, die ich September lesen werde) gebaut habe: ›Lesen‹ statt Leben. Wo wäre in diesen Tagen der Unterschied? Das wurde ja eingangs bereits geklärt, und weil ich alles immer wieder vergesse, muß ich es immer aufs neue erwerben, erinnere ich Friederike Mayröcker – oder John Burnside: This is where the future begins: in the forgotten, in what is lost.
Einfach weg
Jedenfalls machen sich in mir mulmige Gefühle breit, wenn ich Bücher, von denen ich sicher bin, sie mit zumindest einer gewissen Portion Lust und Laune gelesen zu haben, auf eine Art zu vergessen scheine, die es mir nicht mehr möglich macht, Höhepunkte, spezifische Merkmale, Verlauf u.a. zu erinnern oder gar wiederzugeben. (Waren da etwa keinerlei tiefgreifend widerhakende Merkmale, die das Erinnern möglich machen? Bin ich Blendern auf den Leim gegangen? Der Maler malt das Vergessen, erinnere ich einen Vers Heiner Müllers.) Wie das wilde Kind Mowgli am Ende des Dschungelbuchs verschwinden sie in einem anderen Teil des Daseins, ohne sich wenigstens noch einmal umzudrehn und zum Abschied zu winken: Vergiß mich nicht … Einfach weg, bedauert Bär Balu – um Mowgli im nächsten Augenblick selbst schon zu vergessen, während er mit Panther Baghira fröhlich singend heimwärts stapft, der nächsten Dschungelpatrouille entgegen: Probier’s mal mit Gemütlichkeit …
So lesen wir · So leben wir
[…] du mußt wieder lesen lernen, nein nicht nur leben lernen, lesen lernen : dieses rätselvolle Lesenkönnen, daß nicht die Zeile, die man eben gelesen, dahingleitet in einer Phantasie, ich meine dieser Trödel von Spuren, solche rare Kulisse einer mich durchdringenden Aufmerksamkeit.
Friederike Mayröcker · Requiem für Ernst Jandl
Dabei hält sich die seit vielen Jahren gereifte (und in diesen Tagen von drei Stimmen plausibel beglaubigte) bildhafte Vorstellung, daß die Lektüre jedes Wortes ihre Rolle im Zusammenhang des ganzen geistigen Humusbodens spielt, der durch Lesen gebildet wird. Kurz gesagt: Auch das, was ich als wenig/er geglückt empfinde, ist gut, kann es doch (beispielsweise in schwachen Momenten, wenn ich als Schreibender gleichsam Unterstützung, Hilfe, Warnsignale von außen benötige) als abschreckendes Beispiel dienen. Die Geschichte des Vergessens ist noch sehr viel weniger erforscht als die Geschichte des Erinnerns. Erinnern ist eine komplizierte Sache, aber das Vergessen und wie das Vergessen funktioniert und weshalb wir vergessen und ob es uns guttut oder nicht, das sind sehr komplizierte Zusammenhänge. Für das Gedächtnis gibt es kein wirkliches Gegenteil. Das Vergessen selbst wäre das. Und ich glaube, daß es sehr wichtig ist, daß sich das Vergessene auch im Text materialisiert, daß es seine materiellen Entsprechungen hat in diesen Verliesen und in diesen Gefängnisräumen. (W. G. Sebald im Gespräch mit Jean-Pierre Rondas · 2001) – Dieser Tage fahre ich, viele Stunden lang, mit Schostakowitsch auf den Ohren, in Richard Doves weltweiträumiger Straßenbahn, Hiroshima und lese, im Polnotsch benannten fünften Abteil gelandet, Ossip Mandelstams Worte Alle Bücher, die guten wie die schlechten, sind Brüder. »So lesen wir, so leben wir / Vergessen alle Tage« – oder wie heißt es doch gleich bei – – – Hugo Ball?
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Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.