Eselei ist zuerst eine Schwäche des Denkens und des Redens. Der begrenzte Wortschatz verbindet sich mit logischen Fehlern und kategorialen Irrtümern. Man beurteilt ästhetische Objekte allein nach moralischen Maßstäben, identifiziert die Roman- oder Bühnenfigur mit der Autorin und beurteilt die Textqualität nach der Biografie des Verfassers. Man verwechselt den grammatischen Genus mit dem biologischen Sexus und vermischt alles im ’sozialen Geschlecht‘.
Wolfgang Sofsky
Freiheit erscheint uns so selbstverständlich wie die Luft, die wir atmen. Daher ein paar Zeilen über Atembeschwerden und semantische Schluckstörungen. KUNO irritiert seit einiger Zeit, daß die Freiheit des Ausdrucks immer mehr reglementiert werden soll. Eine Ernüchterungskompensationsbewegung will die Parole Liberté, Égalité, Fraternité durch die der Identität ersetzen und bläst zum Sturm auf die Gegenwart. Da tauchen in Texten Majuskeln in Wortmitten auf und werden als Belohnung für artgerechtes Verhalten gar Sternchen verteilt, damit sich jede/r gemeint fühlt. Das * wird zur Projektionsfläche ihrer Erlösungssehnsüchte. Die Anwender finden, was sie suchen, die Bestätigung, wie richtig doch die eigene politische Position, wie wichtig der eigene politische Kampf ist. Das * wird darüber hinaus zum Herrschaftsinstrument, mit ihm legt man fest, was opportun, was gebilligt wird. Abseitige Meinungen und Vorgehensweisen werden als unzulässig, weil zum Beispiel diskriminierend oder ausgrenzend, festgelegt und verworfen. Das Thema Identität ist dabei, die progressive Politik zur Strecke zu bringen. Dies gilt sowohl für den künstlerischen als auch für den universitären Bereich, in dem insbesondere in den geisteswissenschaftlichen Fächern die Zumutbarkeitsgrenzen auf den einfachsten gemeinsamen Nenner heruntergebrochen werden sollen. So werden Klassiker gereinigt, mit Trigger-Warnungen versehen oder gleich verbannt. Das Ziel dieser Eiferer ist eine gesäuberte Gesellschaft.
Den Begriff Kulturschaffende haben die Nazis geprägt, im Sprachgebrauch der SED hat er überwintert, heute dient er als Ausweis von Gendersensibiliät.
Newspeak heißt die sprachpolitisch umgestaltete Sprache in George Orwells dystopischem Roman 1984. Durch Sprachplanung sollen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt und damit die Freiheit des Denkens aufgehoben werden.
Ein Totalalgorithmus eröffnet weder eine geradlinige Kulturkritik, noch deutet das Internet einen utopischen Möglichkeitsraum an. Demokratie benötigt eine Kultur des freien Ausdrucks, die zum Dissens ermutigt. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt die vom Grundgesetz garantierte abweichende Meinung ins Zentrum der Freiheitsidee. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß derjenige, dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, noch frei denken kann. Es kann keine Freiheit des Denkens geben, ohne die Möglichkeit einer veröffentlichen Mitteilung des Gedachten. Wenn es in der Demokratie keine Freiheit des Gedankens mehr gibt, steht man vor der Alternative, ob man zwischen Sicherheit und Konformismus oder Wahrheit und Verfolgung wählt. Die aktuelle Form der Verfolgung ist die Isolationsdrohung des sozialen Boykotts, eine „Cancel Culture“, der es um die Verhinderung oder gar Zerstörung kultureller Werke geht, die als diskriminierend aufgefaßt werden könnten oder den Handelnden nicht ins Weltbild passen. Wer sich von diesem Gendwerwahn anstecken läßt, wird zum Objekt souveräner Instanzen, die mutwillig mit ihm verfahren. Die spachpolitischen Maßnahmen des *chens haben das Ziel, über die Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten der Individuen die Gedankenfreiheit und damit die personalierte Identität, den Ausdruck der persönlichen Meinung und den freien Willen einzuschränken, und letztlich zu steuern. Damit wollen diese Spracherneuerer eine neue Gesellschaft erschaffen, die glaubt und denkt und tun zu wollen, was sie denken und tun sollen.
Am Ende des Tages droht nichts weniger als die Abkehr von den Werten der Aufklärung.
Grazie beruht auf einer Art von Natürlich-Werdung höherer Ordnung: durch Vergeistigung.
Heinrich von Kleist
Grundsätzlich ist Inclusion etwas wünschenswertes, aber diese Schluckstörungen verorten sich in einem Geflecht der Erfolgsleere zwischen Anerkennungssuche und atomisierter Mitschuld. Hier erscheint Sprache als die Tätigkeit einer Öko-Landwirtin, der Besitzerin eines veganen Lebensmittelladens oder eines Craftbier-Braumeisters, in dem das einzig sinnstiftende Medium die anerkennende Idee des, wie auch immer gearteten Geschlechts, sein könnte. Das von diesen Typen benutzte Adjektiv „woke“ umschreibt ein Gespür für Gerechtigkeit, das weit über politische Fragen hinausgeht. Woke ist im besten Sinne antirassitisch, feministisch, inklusiv, pazifistisch, umweltbewusst, antikapitalistisch und antiimperialistisch zugleich. Literatur ist jedoch kein identitätspolitisches Bestätigungsmedium. Sprache als eine Existenzform ohne Gewalt ist ebenso illusionär wie surreal. Das * ist eine bereichsübergreifende Suche nach einer Grundstruktur von Macht und Gewalt in der etymologisch-semantischen Aufklärung welche diese Begriffe fundieren. Wahrscheinlich bestätigen wirklich gute Texte überhaupt nichts, sie sind ein Ort schöpferischer Verunsicherung. Erfinderisch insofern, als sie Identitäten auflösen, um sie neu zusammenzusetzen oder sie in neuen Räumen freizusetzen. Ein eigenständiges Künstler-Ich geht nicht konform mit dem, was man vom Gender*chen in dieser Zeit erwartetet. Wäre Literatur nur ein Katalog von Wahrheiten oder, um es moralisch zu sagen: Wahrhaftigkeiten, dann wäre sie gar nichts mehr. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, niemand hat das Recht auf eigene Fakten. Es gilt die Spiegelschrift der Freiheit zu entziffern.
Wie sollen wir ‚das Individuum‘ gendergerecht formulieren? Ich als Mann fühle mich mit dieser Kennzeichnung sehr unwohl: Ich bin kein Neutrum! Ich für meinen Teil bestehe auf dem meinem natürlichen Geschlecht angemessenen Artikel: der Individuum.
Stefan Oehm
Sich mit den Feinheiten der Sprache auseinanderzusetzen ist eine Art des Lebensvollzugs. Es geht um das Überleben der Poesie, in Permanenz.
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Weiterführend →
Erinnerung wird zunehmend auf neue Technologien ausgelagert. Das Grundproblem der Erinnerungskultur, der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage: Wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört? – „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte von KUNO. Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit heute ein Label, die Edition Das Labor. Diese Edition arbeitet ohne Kapital, aber manchmal mit Kapitälchen, sie befindet sich in der Situation des Baron von Münchhausen und muss sich mit samt Pferd am eigenn Schopf aus dem Sumpf ziehen. Eine Übersicht über die in diesem Labor seither realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier. Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421