Franz Hohlers Ich-Erzähler ist dort, wo Begegnungen mit virtuellen Zeitzeugen sich plötzlich in reale Situationen verwandeln, in denen er sich als hilfsbereiter Bürger erweist, der Flüchtlinge an das rettende Ufer in Europa zieht. Doch eine solche Vermutung könnte den Leser auf eine falsche Fährte locken. Der den Band mit Kurzerzählungen einleitende Text „Nach Europa“ enthält nur auf den ersten Blick einen phantasiegeladenen Leitgedanken. Denn die Titelerzählung „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ beruht sicherlich auf einem realen Erlebnis, das der Erzähler während einer Eisenbahnfahrt im Schwabenland hatte. Es ist die unerwartete Begegnung mit der Nazi-Vergangenheit in der Form eines Ausstellungsbesuchs, der ihn so in den Bann zieht, dass er beinahe seinen Anschlusszug auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof verpasst.
Reisen in ferne Länder bilden in Hohlers Texten ein unerschöpfliches Sujet, egal, ob es die Begegnungen mit noch lebenden – oder auch längst in Gefängnissen gestorbenen – russischen Dichtern in Moskau und Petersburg sind, es ein Sonntagsspaziergang durch Kiew ist, er seine Beobachtungen über den Bildungseifer junger Usbeken in Taschkent verwundert aufzeichnet oder er im benachbarten Appenzell eine peinliche Begegnung auf einem Bahnhofs-WC hat, immer warten seine Leser/innen auf ein unerhörtes „reales“ Ereignis. Und das passiert leider nicht allzu oft. Sicherlich, da taucht auch mal ein Balkongärtner auf, der seinen Ärger als braver Schweizer Bürger über Asylbewerber, der „den Einheimischen verdrängt“, zum Ausdruck bringt, während er einen Tomatenstrauch wässert. Oder der ständig auf der Suche nach einem anderen Land befindliche Erzähler landet in einem Capetta-Wald im Hoch Avers. Dort freut er sich, dass er sich nun „weit entfernt vom menschlichen Regelwerk mit Taktfahrplänen und Versicherungspolicen“ befindet und ein „Gast des Wipfelrauschens, ein Gast des Stämmeknarrens“ geworden ist. In solchen meisterhaft mit spitzer Feder aufgezeichneten Texten lauert ein anarchischer Geist, der sich über die brave Naivität und die verborgene Missgunst seiner Zeitgenossen lustig macht oder sogar Gott, den allmächtigen Schöpfer, und einen Teufel ins Spiel bringt, der mit einem Eisberg über den Untergang der Welt einen Deal macht.
Ja, die unerschöpfliche Phantasie von Franz Hohler macht selbst nicht vor den immer noch geheiligten Bräuchen unseres Alltags halt. Da reden eine Scheidungsquote und ein Hoffnungsschimmer vor einer Trauung in ironischem Unterton miteinander, während bereits ein illusionärer Schimmer auf die Hochzeitsringe fällt, die sich das Brautpaar nur wenig später überzieht; da sucht ein echter Prinz per Inserat eine Prinzessin, und ungeachtet der Standesunterschiede entsteht aus der Verbindung ein glückliches Paar, obwohl die Prinzessin nur eine Bauzeichnerin war.
Der Ich-Erzähler ist auch ein begeisterter Konzertbesucher, der, von einem guten Freund eingeladen, in einem Konzertsaal landet, in dem die Besucher schweigend auf den Beginn einer Veranstaltung warten, in der der Solist sich durch eine ausgefeilte Gestik und Mimik auszeichnet, ohne dass er einen Ton hervorbringt. Die Seance endet in einer Pause, in der das Publikum geduldig auf den zweiten Teil des Konzerts wartet, in dem der Solist nun „frontal zum Publikum auf seine(m) Stuhl saß, die Arme verschränkte und die Augen verschloß und in dieser Haltung ein halbe Stunde verblieb.“ Das dankbare Publikum erhebt sich am Ende des Konzerts, während sich der Solist stumm verbeugt. Gerührt und begeistert von soviel Ergebenheit und Pioniergeist bemüht sich der Erzähler nur wenige Wochen danach, als das Trio ‚Stille Wasser’ auftreten wollte, um eine Eintrittskarte. Leider ist dieses Konzert seit einigen Wochen bereits ausverkauft.
Spätestens an dieser Stelle seiner Lektüre fragt sich der Leser nach dem Sinn von soviel fantastischen Spielereien mit der Realität. Und der Rezensent ist aufgefordert, sich auf die Suche nach einer Erklärung für die spezifische Art der Fiktionalität zu machen, die während der Lektüre dieser Erzählungen erzeugt wird. „Dichterleben“, so nennt sich der letzte Text, in dem der in der Ich-Form plaudernde Hohler bekennt, dass er gerne Dichter sei. Ihn amüsiere, wenn er bei seinen häufigen Lesungen vor allem im deutschsprachigen Raum mit Max Frisch verwechselt werde, woraufhin er sich dann als Dürrenmatt offenbare. Doch damit nicht genug. So sei er zum Beispiel am Vorabend des Irakkriegs 1993 in Heerbrugg aufgetreten und habe dort „Dona nobis pacem“ gesungen. Andererseits freue er sich auch, wenn ihn jemand auf der Straße anspreche und sich darüber wundere, dass er noch lebe. Ja, so ein Dichterleben ist eben anstrengend. Vor allem, weil sich so ein Anarchoflipper wie der Franz Hohler beim Lesen russischer klassischer Romane und Novellen sich zu schnell mit den dort auftretenden bizarren Figuren identifiziert. Was eben auch zu ständigen Kollisionen mit seiner Alltagsrealität führt, wie während der Lektüre der „Kreutzersonate“ von Lew Tolstoj. Ständig rutscht der Ich-Erzähler in den dramatischen Handlungsablauf des Romans, sieht, wie Posdnyschew seine Ehefrau ermordet, während er auf seiner Bahnreise in die Schweiz den „Rhein zwischen den Felsen hinabdonnert“ (S. 101). Und noch verwunderlicher: „Nach einer halben Stunde hatte der Mörder (Posdnyschew, W.S.) eine einjährige Gefängniszeit hinter, wurde darauf jedoch vom Gericht freigesprochen …“. Nanu, fragt sich der geduldige Leser, doch der von der „Kreutzersonate“ so eingenommene Leser fragt sich, ob denn der Ich-Erzähler noch mit der Eisenbahn in der Schweiz unterwegs sei oder ob er mit dem vom Gericht freigesprochenen Posdnyschew nach Paris fahre. Auf jeden Fall eine ziemlich verwirrende Geschichte, wenngleich der Erzähler schließlich doch noch im Züricher Hauptbahnhof ankommt. Aber in welchem mentalen Zustand, fragt sich der verwirrte Leser? Oder ist der nur amüsiert angesichts einer solch skurrilen Geschichte?
Sei es wie es sei, die Kurzgeschichten des wohlbekannten Schweizer Schriftstellers und Humoristen versprechen einen besonderen Lesegenuss, denn bevor den Leser der Verdruß über „ewige“ Reisegeschichten mit fahrplanmäßigen Aufenthalten irgendwo zwischen Moskau, Stuttgart oder Zürich nerven könnte, befreit ihn Hohler mit seinen anarchischen Einfällen aus den Fesseln seines Alltags. Also dann, viel Spaß beim Zeitvertreib zwischen den Aufenthalten!
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Fahrplanmäßiger Aufenthalt, von Franz Hohler, Luchterhand 2020