Vor kurzem habe ich den Entschluss gefasst, mich in Schloss Montaigne zur Ruhe zu setzen, in der Absicht, mich, soweit möglich, nur noch darum zu kümmern, wie ich ruhig und ungestört den kurzen Rest meines Lebens verbringen könne; da dachte ich, ich könnte meinem Geist keinen größeren Gefallen tun, als wenn ich ihm ermöglichte, fern von jeder anderen Betätigung sich selbst zu hegen und zu pflegen und in sich zu stiller Ruhe zu kommen; ich hoffte, dass ihm das jetzt leichter werden würde als früher, weil doch anzunehmen war, er sei mit der Zeit vorsichtiger und reifer geworden: ich finde aber, gerade das Gegenteil ist eingetreten, da das Nichtstun immer eine Zersplitterung des Denkens erzeugt; der Geist benimmt sich wie ein durchgegangenes Pferd; er arbeitet sich hundertmal mehr für sich selbst ab, als er sich früher in fremdem Dienst mühte; und er fördert ununterbrochen phantastische Hirngespinste und Missgeburten zutage, alle ohne Sinn und Zusammenhang; damit ich diese kindischen und merkwürdigen Erzeugnisse meines Geistes mir in Ruhe ansehen kann, habe ich mich daran gemacht, sie aufzuzeichnen in der Hoffnung, dass sich mein Geist mit der Zeit selber schämt, wenn er sieht, was er da angestellt hat.
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Anmerkung der Redaktion: Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells Wie soll ich leben?. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert.
Weiterführend → Zum Essay machte sich Holger Benkel gedanken über das denken.
→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.
→ Gleichfalls in 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.
→ In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.