Das ist also mein Tag. Einmal im Jahr diese Feier mit so vielen jungen Menschen. auch wenn ich jedes Jahr ein Stück weiter weg von ihnen bin. Ich kann mich daran erfreuen, dass sie das Leben genießen.
Herr Nipp
Als er Anfang der neunziger Jahre diesen Namen „Herr Nipp“ erfand, war sicherlich nicht abzusehen, dass rund dreißig Jahre später immer noch Bücher erscheinen, in denen sich Haimo Hieronymus an dieser Figur abarbeitet. Die Frage muss an dieser Stelle schon gespiegelt werden.
Arbeitet er sich an seiner Figur ab oder macht eben diese das mit seinem Leben?
Oder anders gefragt, ist Herr Nipp vielleicht das Alter Ego eines Avatars namens Haimo Hieronymus, der schließlich bei diesem Namen nur eine Kunstfigur sein kann?
Soweit zurückzuverfolgen ist, erscheint tatsächlich 1992 zum ersten Mal der Name in einem seiner Bücher. Wobei ein ziemlich bekannter Essayist und fast weltbekannter Romancier ja behauptet, Herr Nipp trete erst 1994 in Erscheinung. (Anmerkung der Redaktion: Da KUNO ein Online-Archiv ist, gibt es hier den Beileg für die erste Gedichte des Nipp.)
Jetzt mal ehrlich, wem glauben Sie?
Ein, zwei Geschichtchen, in denen er sich über irgendwelche Zeitgenossen lustig macht und hinterfragt, warum sie so handeln. Diese erscheinen tatsächlich mit dem inzwischen sich eingebürgert habenden Herr-Nipp-Duktus erst zum späteren Termin, der Name jedoch ist vorher geboren. Das Buch ist längst vergriffen, sogar der Autor hat angeblich kein Belegexemplar mehr, was schade ist, denn die Dateien dazu sind ebenso verschwunden. Wahrscheinlich gab es gar keine Dateien, denn ich behaupte mal, dass Hieronymus um 1992 noch gar keinen eigenen Computer hatte, sondern seine Studientexte am Rechner des Vermieters heimlich geschrieben hat. In diesem Fall war es sicherlich folglich eine Loseblattsammlung von handschriftlichen Aufzeichnungen, dahin gekrakeltes Geschmiere, das er kaum selber entziffern konnte. Die in mühevoller Handarbeit dann in Blei gesetzt wurden und in Kleinstauflage gedruckt. Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, aber diese ersten Bücher von Hieronymus, die ab 1991 erscheinen, setzt er selbst mit Bleilettern. Sie werden in 20er bis 120er Auflagen ediert und dabei ist es letztlich mehrheitlich bis heute geblieben. Fragt man den Autor, der sich selbst nicht so nennt, warum, so wird er wahrscheinlich antworten, dass es ihm zu mühevoll ist, Werbung für seine Werke zu machen. Aber wahrscheinlich liegt es auch daran, dass er sich nie der Anstrengung unterzogen hat, einen ordentlichen Verlag zu suchen. Na, so ganz stimmt das allerdings nicht, einmal war er wohl extra auf der Frankfurter Buchmesse, hat sich aber nicht so recht getraut. So ein Feigling. Naja, ganz stimmt das nicht, er war trotzdem ein guter Ausflug und auf der Rückfahrt nach Neheim hat er sicherlich an die dreihundertsiebenmal das Lied „Maria“ von der Arnsberger Band Collaps gehört und dieses mit geradezu waghalsigen Choreografien und eigenem Gesang untermalt. Aber das alleine wäre schon eine eigene Herr Nipp Geschichte wert…
So veröffentlichte er zunächst unter dem Label Haimo-Presse, um sich einige Jahre später der mehr oder weniger losen Edition Das Labor anzuschließen, einem ´Verlag der Artisten´. A.J. Weigoni, der am 26.01.2021 verstorbene Romancier, nannte diesen Zusammenschluss einen „Club der Nonkonformisten“. Jedenfalls entstand irgendwann die Seite www.herr-nipp.de, die seit Jahren kontinuierlich mit Geschichten, Gedichten und Sprüchen gefüllt wird.
An dieser Stelle einige der Sprüche von Herrn Nipp:
Die meisten Männer kannst du nur ernst nehmen, weil sie so heißen.
Das kleine Schwarze ersetzt bei Frauen die Uniform, Kajal und Lippenstift die Geschosse. Aber ihre wahren Waffen sind ihre spitzen Zungen, die können töten.
Schuhe haben eine Funktion – bei Männern.
Einer multiplen Persönlichkeit wohnen zuweilen mehr als zwei Seelen „Ach!“ in ihrer Brust.
Wer nur an sich denkt, ist sich selbst genug.
Auch die schönste Frisur kann auf Dauer nicht die Dummheit verschleiern.
Nur wenn die inneren Dämonen schlafen, passen die Männer und Frauen zusammen.
Als ich sah, wie sich alle über die verpassten Chancen grämen, entschied ich, kein Fettnäpfchen auszulassen.
Weit über 1111 Beiträge sind es inzwischen. Nebenbei wurden aus diesem Material fünf Bücher aus dem „Nippiversum“ veröffentlicht. Der Neologismus Nippiversum wurde irgendwann quasi nebenbei kreiert, um den Lesern klarzumachen, dass eben alle auf der Internetseite erscheinenden Texte irgendwie zusammen gehören. Das erfolgreichste war 2011 Die Angst perfekter Schwiegersöhne und im Herbst 2020 erschien Guppy in Gin, ein kleiner Band mit kleinen Geschichten. Mit einigen zehntausend Lesern pro Monat hat sich Herr Nipp ein gutes Online- Publikum erarbeitet. Und sogar bei Instagram findet er sich seit einiger Zeit und schreibt seinen wenigen Followern, wann neue Geschichten erscheinen oder Gedichte vielleicht.
Gedicht
Wo du eben hingesunken
da liegst du wie ein Stein
denn heute bist du zu betrunken
von Bier und Schnaps und trocknem Wein
Man mag sich die einfache Frage stellen, worum es eigentlich geht. Man kann dann genauso lakonisch antworten, um das Leben von Herrn Nipp. Um seine Betrachtungen des Jetzt und der Vergangenheit, seine manchmal liebevolle, zuweilen auch bissige Sicht auf die Mitmenschen, auf die liebenswürdigen und die Arschlöcher (das würde er aber natürlich ganz anders ausdrücken, er fände den Begriff intellektuell Zukurzgekommene angemessener). Ganz nebenbei hat Herr Nipp auch eine völlig neue literarische Form entwickelt, die Kurznovelle. Ein novellistischer Text, der in drei bis vier Sätzen alles bietet, was eine Novelle ebenso braucht, vom Falkenmotiv bis zur unaussprechlichen und unerhörten Begebenheit. Hier einige Beispiele aus seiner Seite (bitte nur einzeln lesen):
Das Rad
Über 5000 Fahrer haben sich für das Rennen gemeldet. Über hundertzwanzig Kilometer über Stock und Stein in den Alpen. In der letzten Kurve wird der Führende überholt, vom Hinterrad.
Randstreifenertüchtigung
Dieses Wort hatte der LKW-Fahrer in all den Jahren noch nie gelesen. Er wunderte sich über die kreative Wortneuschöpfung. Randstreifenertüchtigung. Vor lauter Staunen übersah er den Straßenarbeiter.
Der Hammer
„Schatz, wo ist der Hammer?“, fragte die Mutter, als sie das Zelt befestigen wollte. Sie liebte diese Urlaube in den Bergen. Mit dem ersten Hieb sollte sie den Abhang in Bewegung bringen.
Der Ball
Lustig spielt der bunte Ball auf den Wellen des Badesees. Objekt des Staunens am Strandbad. Jetzt taucht der Besitzer schon seit über zehn Minuten.
Ein Stein
Diesen fantastischen Stein hat das Kind eben erst gefunden. Bewundert die funkeln- den Kristalle, Dolomit. Mit dem Fallenlassen löst sich die Lawine.
Aber Herrn Nipp scheint es auch um die Sprache, die Kultur an sich, die Veränderung der Welt und letztlich um alles andere zu gehen. Hatte er nicht irgendwann gesagt, dass die Menschen zu viel über ihn und die Welt reden?
Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Aber das ist ja auch eine Form der Bildung. Manchmal nervtötend, manchmal lustig, aber immer genau beobachtend entsteht dieses kaleidoskopartige Nippiversum. Vom Meeresgrund bis zu den Sternen, vom Oberflächlichen zu tiefen Schnitten in unsere Seelenzustände. Er scheut vor fast nichts zurück, nur eines hat er bisher nicht betrachtet, die Sexualität der Menschen und dazu gibt es noch nicht einmal eine Erklärung. Vielleicht ist er wahrscheinlich einfach wieder einmal zu schüchtern.
Und nein, das sind keine Kurzgeschichten, alles zusammen liest sich wie ein Roman oder ein sehr persönliches Tagebuch. Und ja, all das scheint autobiographische Züge zu haben, aber eigentlich wird hierbei doch alles irgendwie verfremdet und wer sich dabei entdecken will, der wird es tun.
Abschließend sollte ich sagen, dass nicht alles in diesem Text bierernst genommen werden sollte. Erstens sitze ich gerade nicht in meiner Lieblingskneipe, die natürlich zur Zeit geschlossen hat und zweitens darf man unsere Figur nicht allzu wichtig nehmen, sie nippt am Leben. Da würde sie wahrscheinlich die ganze Nacht schlaflos im Bett liegen und sich fragen, was sie falsch gemacht hat.
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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421