Vergnügen, in einem Buch eine Seite umzuschlagen, einen Satz lesen und die Wirkung abwarten!
Wolf Wondratschek
Literatur ist oppositionell. In dem Moment, wo sie einem Zweck oder einer Person dient, wo sie gekauft wird, kommt sie über den Status der Stipendiatenliteratur nicht hinaus. In seiner tiefen Subjektivität ist ein Sprachkünstler wie A.J. Weigoni wesenhaft objektiv. Sein Dichten ist weder als sakraler Dienst an etwas Höherem noch als avantgardistische Neuschöpfung zu haben. In seiner vielschichtigen Auseinandersetzung mit der Gedichtform fließen seine Erfahrungen als Sprachperformer mit einem zuerst sperrig anmutenden, dann aber vereinnahmenden Hin und Her zwischen Beat und Melodik in die Lyrik hinein.
Dichterisch schreiben heißt denkend schreibend.
Yves Bonnefoy
In der Poetik der Transformation ist kein Gedicht in den Schmauchspuren ohne Einfall. Das Ich dieses Poeta doctus ist darin immer präsent, ohne daß er sich eitel spiegelt. Weigonis Buchstabentreue ist das wirksamste Antitoxin gegen eine lyrische Versimpelung. Es sind nicht immer die Motive, das „Lebenszittern“ (wie Thomas Mann dies einst nannte). Es ist der Klang der Worte, die Musik ihres Rhythmus; ein kleines Wunder allemal, da das „Material“ ja knapp ist, 26 Buchstaben zählt das deutsche Alphabet – und die zu immer neuen Fugen, Fügungen zu komponieren. So entfaltet sich ein thematisches Instrumentarium, das für Weigonis Dichtung konstitutiv ist, die Begegnung mit Kunst und Künstlerischem, mit geographischen und historischen Räumen, die voneinander entfernt erscheinen, aber in seiner Poesie auf eine unverwechselbare Weise einander angenähert werden, nie werden diese disparaten Vorfindlichkeiten jedoch willkürlich arrangiert. Vielmehr ist es das dieser Dichtung zugrundeliegende Prinzip der Begegnung, des Austauschs, des Miteinanders, an dem dieser Poeta ludens beharrlich festhält und die vermeintlichen Gegensätzlichkeiten höchst unterschiedlicher Wirklichkeitsräume zum Verschwinden bringt. Dieser VerDichter hat ein poetisches Referenzsystem dafür geschaffen, wie Sprache im Akt des Sprechens ihren Sinn verändern und zu einer ebenso komischen wie tragischen Verkettung von Verständnissen führen kann. Damit befindet er sich auf der Höhe moderner Kommunikationstheorien mit der grandiosen Überlegenheit, sie nicht nur behauptet, sondern literarisch dargestellt zu haben. In Schmauchspuren läßt sich lesen, was Dichtung letztlich ausmacht: präzise Intuition und analogisches Denken.
Welt wird Sprache. Sprache kann viel mehr als sprechen
Als Lyriker ist es nicht seine Absicht, ein Kunstwerk zu kreieren, Weigoni will durch seine künstlerische Arbeit die Welt und durch diese sich selber verstehen. Für ihn ist das Bemühen um das Gelingen eines Gedichts eine Suche nach Einsicht. Im Bereich der Lyrik gibt es kein Gesetz, sondern nur Regeln, die man brechen darf. In Schmauchspuren findet der Wortmetz Weigoni in einer präzis geformten Sprache ein wirksames Antidot gegen den Tod. Die Gedichte widmen sich düsteren Sphären der Existenz, von reicher Metaphorik und suggestiver Klangfarbe, sucht sie aber immer auch nach Hoffnungszeichen. Faszinierend, wie seine Gedichte Gedächtnisspeicher freilegen, archaische Tiefen ausloten, zugleich aber in eine Zeitlosigkeit münden. Diese Gedichte haben eine übergeordnete Funktion, es geht darum, Wahrnehmungsstrukturen aufzubrechen, neue Felder zu eröffnen. Durch den Wortspielwolf gedrehte Redensarten treffen auf Wortfindungsstörungen voller Genitivmetaphern und schillernder Neologismenfreude. Weigoni bringt die Sprache als Sprache zur Sprache, es handelt sich bei diesen individuellen Explorationen um Versuche, den ungezügelten Raum aus Sprach– und Wahrnehmungsfluss zu fassen. In Weigonis dichterischem Seelenleben liegen die Zeiten synchron nebeneinander. Er ist ein genuiner Dichter, der den Kosmos in seinem falschen Schweigen, in seiner Schweigsamkeit der Macht zu entlarven versteht, die das Verschwiegene selbst sprechend macht.
Dichten heisst nicht, seiner Gefühlswelt freien Lauf zu lassen, wohl aber: sich von seinen Gefühlen befreien.
J. M. Coetzee
Die Mühe des Verständnisses sind bei diesen Gesichten Teil der Freude, wenn nicht gar der Erkenntnislust. Weigonis Lyrismen geben sich dort zu erkennen, wo wir über das ästhetisch-sinnliche Erlebnis an unsere Möglichkeiten als geistbegabte Geschöpfe erinnert werden, sie haben mit dem Bedürfnis zu tun, an unsere Grenzen zu gehen. Die Gedichte in Schmauchspuren sind grenzenlos. Grenzenlos tief. Mehr von dieser radikalen Schreibhaltung täte der Gegenwartslyrik gut. Weigonis Gedichte verweigern sich dem schnellen Genuss, sie sind intellektuell, scharf und virtuos in ihrem Umgang mit Sprache. Die Lektüre bedeutet sowohl Arbeit am Text als auch Arbeit am Kontext, aber nicht allein für Spezialisten. Sie ist spannend für Leser, die sich dafür interessieren, wie Sprache Wissen überliefert und wie hoch der material-sinnliche Anteil in dem Tradierungsprozess ist, in sich dieser Lyriker einschreibt, die paradoxe Kraft dieser VerDichtung besteht, daß sie den Nihilismus beschwört und ihn spielerisch überwindet. Die Schmauchspuren sind textuelle wie diskursive Erkundungen, Such-Bewegungen in einem Bereich, in dem Erfahrungen prekär, sich allererst auf dem Grat der Sprache, der Schrift und ihrer Zwischenräume einstellen. Dieser poète maudit mutet uns eine Anstrengung zu: über den Horizont hinauszublicken.
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Schmauchspuren, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
In 2015 erschien der Band Schmauchspuren. Als Forensiker der deutschsprachigen Lyrik anerkennt Jo Weiß diesen Lyriker. Das Dichten als Form des Denkens erkennt Erik Lauer. Holger Benkel betrachtet die Schmauchpoesie von Weigoni. Eine Übersetzung des Gedichts Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 Die Schmauchspuren sind als Einzelband vergriffen und nur noch im Schuber erhältlich. Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.
Juliane Rogge über die Symbiose der Gattungen Lyrik, Musik und Tanz. Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren und von An der Neige in der Reihe MetaPhon. Eine eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung. Lesenswert auch VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, einen Essay von A.J. Weigoni über das Schreiben von Gedichten.