Mein Credo lautet: Ich werde gewesen sein.
Theodor Weissenborn
Wenn eine Vignette nach literaturwissenschaftlicher Definition „ein kurzer impressionistischer Text ist, der sich auf eine Person“, manchmal sich auch auf eine Idee bezieht, und sie in der Malerei des 19. Jahrhunderts eine Variante der Porträt-Malerei bezeichnet, dann erweist sich das Projekt Vignetten, das Peter Meilchen und A.J. Weigoni in 2005 geplant haben, als ein besonderes künstlerisch-literarisches Unternehmen. Bereits die Ziffer 630, auf dem kompakten Paperback zweimal auf dem Frontispiz als Titel markiert, auf Seite 2 und Seite 67 auf den doppelten CD mit den Untertiteln Mäander und Uräus versehen. Von der Umsetzung eines Gesamtkunstwerkes haben sich auch die drei Gestalter des vorliegenden Katalogs, A.J. Weigoni (Text und Rezitation), Tom Täger (Komponist der Inventionen) und Peter Meilchen (Illustrationen), leiten lassen.
Die komplexe Gestalt des Katalogs, der lediglich in einer handsignierten Auflage von 100 Exemplaren produziert wurde, wie auch seine literarisch-künstlerisch-musikalische Umsetzung erfordern eine tiefschürfende Beschreibung, mit der Leser und Liebhaber besonderer Künstlerbücher ihre Eindrücke sammeln und bewerten.
Was den Versuch der Annäherung an eine Definition der vorliegenden Novelle betrifft, so bestehen sie meiner Ansicht nach aus einer strukturierten Reihe von philosophischen und kulturhistorischen Überlegungen wie auch aus Alltagsreflexionen, in denen Beobachtungen, Bewertungen, kulturkritische Aphorismen vom Erzähler selbst vorgetragen bzw. auf seine Hauptfiguren übertragen werden. Diese Verfahren erfordern vom Leser eine hohe Konzentration, die beim vergleichenden Betrachten der 26, teilweise signierten, vielschichtigen Illustrationen von Peter Meilchen einer gesteigerten Aufmerksamkeit ausgesetzt wird.
In einer Beschreibung der Verbindung von Sprache und Bild im Projekt 630 fand ich eine annähernde Definition: „Meilchens Bildsprache ist eine außer-sprachliche, weil visuelle Entsprechung und Spiegelung der literarischen Beiträge.“ Ein Beispiel ist die Collage ‚Land unter‘(S. 5), die den Ort der Entstehung des Projekts ‚Linz‘ am Mittelrhein benennt, das Kunstwerk mit einem amtlichen Stempel versieht und die verwischten Konturen von Häusern mit einer Überschrift versieht.
Und die Quintessenz bei der Bewertung dieses literatur-musikalisch-künstlerisch hoch komprimierten Buchkatalogs?
Noch ist unsere ästhetische Wahrnehmung in einem „unterentwickelten“ Zustand, um zwischen dem bewundernden Ah der Prosatexte, der uns noch verborgenen Bildkunst und den musikalischen Drahtseilakten auf den Amplituden unserer Gehirnströme „tanzen“ zu können. Was den Rezensenten jedoch fesselt, ist ein Projekt, in dem synästhetische Ansätze zu einer Symbiose von äußerer und innerer „Welt“ zu erkennen sind, unabhängig davon, ob deren Ergebnis sich bereits in einer diffusen affirmativen Wahrnehmung niederschlägt.
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630, Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Bad Mülheim 2018.
Weiterführend →
Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni die Literaturgattung der Novelle neu. Einen Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier.