Weimar, 27. Februar

 

Dear Peter,

soeben erzählte ich dem Geheimrat von Thomas Manns Joseph-Roman. „So so“, sagte er, „und wie finden Sie’s?“ – „Recht frei in mancher Hinsicht, sehr männlich und gott-arm, alles in allem ein erzählerisch nicht enden wollender Rausch – ich glaube, er hat Wagners Ring noch übertreffen wollen“, sagte ich. – „Schau an“, sagte der Alte, „so hat er umgesetzt, was ich ihm riet.“ – „Mehr noch als das!“, sagte ich. – „Wirklich …?“ – „Ja“, sagte ich, „er hat allen Ernstes Sigmund Freuds Traumdeutung implantiert.“ – „Hat er denn allen Verstand verloren!“, rief der geadelte Zeus. – „Noch mehr als das“, sagte ich, „sein Joseph, so behaupten namhafte Deuter, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Katia.“ – „So so, schau an“, sagte der Olympier schmunzelnd, „dann wäre er ja in ein lesbisches Verhältnis zum Weib des Potiphar verstrickt gewesen.“ – „Man kann es sagen“, sagte ich, „aber als Pharao Joseph küsst, also Katia …“ – „… Ja, genau!“, unterbrach mich Jupiter lächelnd, „da ergaben sich ganz neue Wahlverwandtschaften!“ – „Mein Gott, haben etwa Sie das alles -?“ – Darauf Er mit fröhlicher Grabesstimme: „Ich stelle anheim.“

 

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Kleine Gipfeltreffen, von Ulrich Bergmann. KUNO 2021

Bonn ist nicht Weimar

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In diesem Jahr präsentiert KUNO von Ulrich Bergmann deutsche Seelenlandschaften im Postkartenformat. Mit seinen „Correspondenzkarten“ verschafft er den Lesern das Vergnügen von spezieller Twitteratur. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.