Ich will keine Worte, die andre erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Rhythmus, und Vokale und Consonanten dazu, die von mir selbst sind.
(Aus dem ersten dadaistischen Manifest, Zürich 1916)
Poesie ist das, was schon gesagt wurde. Nur anders. Lesen und Verstehen brauchen Zeit, Poesie versteht man nicht unbedingt sofort und auch nicht immer der Reihe nach verstanden werden müssen. Der Horizont des Denkens reicht über Argumente hinaus. Poesie ist eine Sache des Einzelnen und folgt eine Ästhetik der Vereinzelung.
In den Schmauchspuren erkundet A.J. Weigoni die Poesie in Form einer Selbstreflexion des Denkens, nicht als Reflexion von aussen, sondern als Kritik der Fiktion mit den Mitteln der Fiktion: „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“ (Friedrich Schlegel). Gerade diesen Gedichtband sollte man eigentlich zweimal lesen, Zeile für Zeile, Abschnitt für Abschnitt, Strophe für Strophe. Es ist für das Verstehen jedoch eher unzweckmäßig, an den Buchstaben und Silben zu hängen und nicht weiter zu gehen, bevor man den Satz restlos verstanden zu haben glaubt. Vielmehr muss unter Übergehen zunächst schwer überwindlicher Hindernisse ein Abschnitt im Ganzen und dann sogleich noch einmal gelesen werden. Der Gedankengang erleuchtet nicht nur Schritt für Schritt nach vorn, sondern auch rückwärts; denn der Gedanke erscheint häufiger in Kreisgestalten als in geradlinigem Fortschritt. Was zu Beginn fremd anmutet, wird mit einem Mal natürlich, wenn der Gedanke aus seiner Mitte her gegenwärtig geworden ist. Was fast unverständlich erschien, wird allmählich einfach und klar. Die Einsicht pflegt geschieht zu geschehen, nach unverdrossener Mühe ausgelöst durch eine glückliche Formulierung.
Der Text ist klüger als sein Autor.
Heiner Müller
Die poetische Kraft dieser Lyrik ist immens, sie stiftet einen produktiven Unfrieden indem sie jegliche Kohärenz unterläuft, Wahrnehmungsgewohnheiten aufbricht, Sprachkonventionen durcheinanderwirbelt und dabei gleichzeitig sinnliche und emotionale Glücksmomente erzeugt. Schon nach wenigen Seiten erreicht Schmauchspuren enorme Energiewerte. Weigoni feuert aus einem überbordenden Reservoir stakkato– funkelnde Enigmen aufs Blatt. Er sucht die Bilder hinter den Worten, in der Erklärung durch die Worte. Jedes Gedicht ist bei diesem Lyriker multiplizierte Verdichtung. Eine Form von Konzentration, die sich aus Bildzeichen zusammensetzt, welche der Massivität des Uniformen entrissen sind. Seine Gedichte sind Erkenntniswerkzeuge. Mir scheint das Spannungsverhältnis zwischen geistig Ideellem und körperlich Sinnlichem, die damit verbundenen Vermischungen und Überschneidungen inbegriffen, eines der Grundmotive von Weigonis Lyrik. Er versteht die Dichtersprache als funktionale Sprache und als Material. Seine Sprache ist ebenso sinnlich wie sinnstiftend. Sinnlich und verlockend sensitiv an den Aha–Momenten des Befremdens. Die Sinnlichkeit seiner Gedichte entsteht offenbar oft geistig, ehe sie teilweise wieder entgeistigt wird, meist reflexiv und nicht wie gebrauchsliterarisch Mode, naturalistisch beschreibend. Seine Gedichte liegen fernab unserer Welt der Pleonexie, der Sanktionierung von Anmaßung, Gier, Trivialität als systemischen Produktivkräften. Sie sind ernst, still und karg wie eine Einsiedelei. Unter so vielen Autoren, die zu laut sind, deren Geltungsdrang den Nährwert ihrer Mitteilungen weit übertrifft, wirkt die Lektüre von Weigonis Schmauchspuren purgierend.
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Schmauchspuren, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend →
Eine Übersetzung des Gedichts Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 Würdigungen von Holger Benkel, rettungsversuche der literatur im digitalen raum, Christine Kappe, Ein Substilat, Jens Pacholsky, Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters, Sebastian Schmidts Der lyrische Mittwoch. Ein Essay über das akutische Gesamtwerk bei buecher-wiki. Und lesen Sie auch VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, einen Essay von A.J. Weigoni über das Schreiben von Gedichten.
Akustische Umsetzungen finden Sie im Hörbuch Gedichte. Probehören kann man in der Reihe Metaphon die Schmauchspuren und das Monodram Señora Nada. Ebenda der Remix der Letternmusik. Das Original kann zum Vergleich hier gegenhören. Und außerdem die Live-Aufnahme der Prægnarien.
Eine limitierte Auflage des Hörbuchs Prægnarien von 50 Exemplaren ist versehen mit einer Originalgraphik von Haimo Hieronymus. Edition Das Labor, Mühleim an der Ruhr 2013
Bilder der Prægnarien-Performanmce von Philipp Bracht und A.J. Weigoni sind hier zu sehen. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni aus der Schwebebahn findet sich neben dem Schland aus Herdringen.
Die Aufnahmen sind in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich über:info@tonstudio-an-der-ruhr.de