1.
Eine etwas ketzerische Frage vielleicht. Aber eine, die angesichts unseres oftmals doch recht sorglosen Umgangs mit dem Wort Kunst durchaus angebracht erscheint: Wir verfügen in jeder Epoche über jeweils episodal gewandelte Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens als auch auf der Makroebene der sozialen Institutionen [1]. Eingedenk dessen: Wie lässt sich, ausgehend von den gegenwärtigen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst, über Kunst reden, die der Vergangenheit angehört? Handelt es sich bei unserer heutigen Rede über dieses Phänomen, über diese Artefakte und kreativen Entäußerungen nicht um die Art von „Rekonstruktionen (…), die eine spätere Denkfigur in die Vergangenheit rückprojizieren [2]“ (Majetschak 2016: 11)? Reden wir also von Artefakten und kreativen Entäußerungen in der Vergangenheit nicht stets von Kunst auf Basis aktueller episodaler Gebrauchsweisen dieses Wortes, nicht aber auf Basis ehemals aktueller episodaler Gebrauchsweisen? Das hieße – unum nomen, unum nominatum –, wir würden für dieses Phänomen ebenso wie für die Artefakte und kreativen Entäußerungen aller Zeiten (und auch für die aller Kulturen in der Synchronie und Diachronie) nicht nur das gleiche Wort Kunst verwenden, wir würden auf sie auch den durch die aktuelle Gebrauchsweise der Wortes Kunst generierten Begriff ‚Kunst‘ anwenden. Und so eine Kontinuität dessen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte suggerieren, was wir, die wir in der abendländischen Tradition des Wortes Kunst und des Begriffs ‚Kunst‘ sozialisiert wurden, heute gleichschaltend unbefangen Kunst nennen [3]. Aber können wir uns überhaupt von unserer jeweiligen sprachlichen Sozialisation so weit lösen, dass wir imstande sind, vergangene episodale Gebrauchsweisen des Wortes Kunst resp. die entsprechend daraus generierten Begriffe ‚Kunst‘ ‚objektiv‘ zu rekonstruieren? Und falls wir dazu in der Lage wären: Auf welcher medialen Basis würde die Rekonstruktion dieser vergangenen episodalen Gebrauchsweisen erfolgen? Zwar verfügen wir über schriftliche Zeugnisse historischer Texte, den überwiegenden Teil unseres täglichen Sprachgebrauchs machen jedoch seit jeher mündliche Äußerungen aus. Von diesen ungezählten Äußerungen, Gesprächen und Diskursen, in denen die Bedeutungen der Worte im Gebrauch generiert, etabliert und gewandelt wurden, existiert aber aus naheliegenden Gründen so gut wie kein O-Ton – geeignete technische Geräte, die authentische Aufzeichnungen ermöglicht hätten, sind erst seit Ende der 1920er Jahre auf dem Markt.
Und wer ist überhaupt dieses ‚wir‘, das hier über Kunst redet? Bei etwas genauerer Betrachtung erkennt man schnell, dass seine Verwendung eine höchst problematische Vereinfachung des Sachverhalts darstellt. Handelt es sich doch bei dem ‚wir‘ nicht um ein kollektives Handlungssubjekt, sondern vielmehr um selbsttätig handelnde Mitglieder einer Sprachgemeinschaft, die gleichzeitig Mitglieder bei einer unüberschaubaren Anzahl von Gruppen mit zum Teil inkonsistenten Ansichten bei bisweilen disjunktiven Mitgliedschaften sind – Person A kann Mitglied der Gruppe C oder D, aber auch Mitglied beider Gruppen sein. So haben wir zum Beispiel neben der Gruppe C: ‚Kunsthandel‘ [4] auch eine Gruppe D: ‚Kunstexperten‘ (die ja alles andere als homogen ist). Darüber hinaus gibt es zudem noch die Gruppe E: ‚Kunstinteressierte‘ und die Gruppe F: ‚Desinteressierte‘ (die trotz ihres Desinteresses dennoch ihren Beitrag zur Bedeutungsetablierung und -wandlung des Wortes Kunst leistet: ‚Ist das Kunst oder kann das weg?‘), die Gruppe G: ‚die nur an bestimmten Kunstgattungen Interessierten‘ sowie die Gruppe H: ‚in anderen Kulturen als der abendländischen sozialisierten Kunstinteressierten‘. Um nur einige der Gruppen zu nennen, in denen deren Mitglieder durch ihre gleichgerichteten Handlungen ihren zwar intentional motivierten, nicht jedoch intendierten Beitrag zur Etablierung der verschiedenen Begriffe ‚Kunst‘ leisten.
2. Die Etablierung jeder spezifischen Gebrauchsweise der Wortes Kunst (d.h. in letzter Konsequenz: der episodalen konventionellen Bedeutung) und die damit verbundene Generierung der jeweiligen Begriffe ‚Kunst‘ wie auch einerseits deren Gebrauchs- resp. Bedeutungs- und, damit einhergehend, Verständniswandel sowie andererseits die in einer Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein akzeptierte Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk lassen sich, wie letztlich alle soziokulturellen Prozesse, als Wirken der unsichtbaren Hand [3] beschreiben. Resultate dieser Prozesse sind Phänomene, „which are indeed the results of human action, but not the execution of any human design“ (Adam Ferguson 1767: 187; zitiert nach: Keller 2014: 85). Am Beispiel der Entstehung eines Trampelpfads erläutert der Düsseldorfer Linguist Rudi Keller dieses Wirken auf so simple wie eingängige Weise (ebd.: 100ff.): A ist in Eile, er hat mit B einen Termin. Er stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz der Universität ab und geht, da er pünktlich sein will, auf dem kürzesten Weg zu B. Dieser führt ihn quer über eine Rasenfläche. So wie A geht es an diesem Tag und vielen weiteren Tagen auch An. Was wird passieren? Geht A über den Rasen, werden bestenfalls ein paar Grashalme geknickt. Geht An über den Rasen, so entsteht ein Trampelpfad: ein kollektives Phänomen. Denn A wie auch An intendieren zwar erstens, B zu erreichen und das, zweitens, pünktlich. Aber niemand von ihnen wird ernsthaft intendieren, einen Trampelpfad anzulegen. Der Trampelpfad gehört also nicht „zu den Intentionen der einzelnen Handelnden“ (ebd.: 90). Er ist aber das kollektive, nicht intendierte Resultat intentional zumindest partiell gleichgerichteter individueller Handlungen: als Epiphänomen eine „kausale Konsequenz […] der Ergebnisse der sie erzeugenden Handlungen“ (ebd.: 92).
Nun lässt sich am Beispiel des Trampelpfads strukturell aber nicht nur aufzeigen, wie Einzelne im Kollektiv Bedeutungen nicht-intendiert wandeln oder die Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk bewerkstelligen können. Mit einer kleinen Ergänzung lässt sich auch beschreiben, wie bestimmte Gruppen (zum Beispiel: ‚Kunstmarkt‘ oder ‚Kunstexperten‘) in analoger Weise Bedeutungen wandeln oder die Zuschreibung eines Werks als Kunstwerk bewerkstelligen können, ohne dass diese Resultate Ergebnis zielgerichteter Intentionen einzelner Mitglieder dieser Gruppe oder einer wie auch immer gearteten kollektiven Vereinbarung der Gruppe als Ganzes sind: Ein Reisebus mit rund 80 Personen, Gruppe ‚Kunstmarkt‘, kollektiv bezeichnet als C, fährt auf den Busbereich am anderen Ende des Universitätsparkplatzes. Sie sind spät dran. Kaum öffnen sich die Türen, strömt deshalb auch schon C hinaus, um schnellstmöglich zu B zu gelangen. Dabei nimmt C im Kollektiv natürlich auch den kürzesten Weg quer über den Rasen. So geht das tagein, tagaus. Immer das gleiche Schauspiel. Das nicht intendierte kollektive Resultat ihrer gleichgerichteten individuellen intentionalen Handlungen gleicht nun in verblüffender Weise dem der gleichgerichteten intentionalen Handlungen von An – auch hier entsteht ein Trampelpfad Richtung B. Allerdings an anderer Stelle. Und ein dritter als ebenfalls nicht intendiertes kollektives Resultat durch die Insassen des zweiten Busses, der Gruppe D: ‚Kunstexperten‘, die, da auch sie spät dran ist, ebenfalls auf dem kürzesten Weg zu B zu gelangen sucht. Am Ende lassen sich aus der Vogelperspektive drei wunderschöne Epiphänomene, sprich: Trampelpfade, ausmachen: Sie treffen sich alle in B, wobei B in diesem Fall den gleichlautenden Signifikanten [Kunst] darstellt, hinter dem jeweils ein anderer Begriff ‚Kunst‘ steckt (es gilt eben nicht: unum nomen, unum nominatum).
Damit wurden wir Zeuge der Etablierung dreier verschiedener Gebrauchsweisen des Wortes Kunst (hier bezogen auf die Ebene: das konkrete Werk [Oehm 2019a: 10]), die mit ihrer Etablierung ihrerseits drei gruppenspezifische Begriffe ‚Kunst‘ generieren, denen womöglich drei verschiedene Begriffstypen [6] entsprechen. Leider stellt sich aber der tatsächliche Sachverhalt noch um einiges komplexer dar. Um ihn präzise zu beschreiben, kommt man nicht umhin, das eingängige Bild des Trampelpfads ein wenig zu überfordern: An ist ja nicht nur jeder beliebige Einzelner, er ist als solcher immer auch Gruppenmitglied. Genauer gesagt: Er kann gleichzeitig Mitglied verschiedener Gruppen sein. So von C oder D oder beider Gruppen (inklusives Oder: Ich kann gleichzeitig Mitglied der Gruppe C: ‚Kunsthandel‘ und Gruppe D: ‚Kunstexperten‘ sein). Zudem kann An entweder Mitglied der Gruppe E oder aber der Gruppe F sein (exklusives Oder: Ich kann nicht gleichzeitig Mitglied der Gruppe E: ‚Kunstinteressierte‘ und Gruppe F: ‚Desinteressierte‘ sein). Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen: In toto leistet An durch seinen je nicht-intendierten individuellen Beitrag zur Entwicklung jeweiliger gruppenspezifischer Begriffe ‚Kunst‘ gleichzeitig auch einen ebenso wenig intendierten individuellen Beitrag zur Entwicklung des innerhalb einer Sprachgemeinschaft allgemein akzeptierten Begriffs ‚Kunst‘. Dieser sollte, um verständnissichernde Kraft zu besitzen, über einen gewissen Zeitraum [7] Bestand haben. Um die Sache noch realitätsnäher zu gestalten, ließe sich die Anzahl der Reisebusse, das heißt: der an der Etablierung der Begriffe ‚Kunst‘ und damit auch des vieldiskutierten, aber recht undifferenziert gebrauchten Kunstbegriffs [8] beteiligten Gruppen, wie auch die der Parkplätze ins Unendliche erweitern – und damit auch die der Trampelpfade [9], die sich alle in B treffen. Doch davon wollen wir an dieser Stelle, eingedenk der „Hypermaxime unseres Kommunizierens (…) Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst“ (Keller 2014: 142), absehen, um unsere Chance auf eine erfolgreiche Kommunikation zu wahren.
Damit haben wir grob den Prozess skizziert, wie sich aktuelle episodale [10] Gebrauchsweisen der Worte, so auch die des Wortes Kunst, etablieren (und wie sich vergangene etabliert haben und kommende etablieren werden). Folgende Thesen lassen sich nun heuristisch für die weitere Analyse festhalten:
1. Die Gebrauchsweisen der Worte, so auch die des Wortes Kunst, etablieren sich in einem kollektiven, kausalen, nicht intendierten, nicht zielgerichteten und potentiell endlosen Prozess als das Ergebnis millionenfacher zumindest partiell gleichgerichteter individueller intentionaler Handlungen (‚invisible hand process‘). Es ist ein Prozess, der strukturell zwar einen Anfang, aber, solange es Sprecher natürlicher Sprachen gibt, kein Ende kennt. 2. Diese Gebrauchsweisen stellen keine fixierten Endprodukte dar, ihr Seinszustand ist der einer flüchtigen Episode (auf der synchronen Zeitachse) in einem zeitlichen Kontinuum (der diachronen Zeitachse): Jede Gebrauchsweise ist eine episodale Gebrauchsweise. 3. Es werden global asynchron unzählige Gebrauchsweisen neu etabliert und gewandelt. Und was aktuell der Fall ist, war nach menschlichem Ermessen auch in der Vergangenheit der Fall. 4. Wir sprechen von Kunst jeweils auf Basis aktuell etablierter und akzeptierter episodaler Gebrauchsweisen dieses Wortes innerhalb einer Sprachgemeinschaft. 5. Es gibt darüber hinaus eine nicht zu beziffernde Anzahl aktueller gruppenspezifischer episodaler Gebrauchsweisen dieses Wortes. 6. Bei jeder singulären Gebrauchsweise, unabhängig davon, ob sie in einer Regularität der Gebrauchsweise oder gar in einer Gebrauchsregel und damit in einer etablierten resp. konventionellen Bedeutung mündet, handelt es sich um eine episodale Gebrauchsweise (um Sprecher-Intentionen und Sprecher-Bedeutungen, davon wird noch zu sprechen sein) – damit erhöhen die singulären Gebrauchsweisen die Anzahl aktueller Gebrauchsweisen noch einmal dramatisch. 7. Jede etablierte episodale Gebrauchsweise (innerhalb einer Gruppe/Sprachgemeinschaft/Kultur/Epoche) besitzt nur eine beschränkte ‚diachronische Identität‘. Bei ihr handelt es sich um eine verständnissichernde Kraft, die über einen Zeitraum x Bestand hat – was heute noch etabliert ist, kann sich morgen bereits grundlegend gewandelt haben. 8. In die Etablierungepisodaler Gebrauchsweisen fließen Formen mündlicher Äußerungen ebenso ein wie Formen schriftlicher Äußerungen. 9. Mündliche Äußerungen machen den überwiegenden Teil der Komprehension unseres Sprachgebrauchs, also die Menge des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sprachgebrauchs, aus. 10. Vergangene schriftliche Äußerungen, die sowohl ehemals etablierte wie auch vermutete singuläre episodale Gebrauchsweisen dokumentieren, liegen vor. Nun werden aber auf der Mikroebene der individuellen Handlungsweisen die Gebrauchsregularien der Worte konstituiert und als Gebrauchsregeln der Worte etabliert. Als kollektives Resultat der individuellen Handlungen sind sie die Bedeutung der Worte und „erzeugen die Kategorien, nach denen wir unsere Welt klassifizieren“ (Keller 2014: 127). Diese von den Gebrauchsregeln erzeugten kollektiven Konsequenzen sind die Kategorien resp. die Begriffe. Im Zuge unseres Spracherwerbs und unserer aktiven Teilnahme an den jeweils aktuellen Sprachspielen einer Sprachgemeinschaft werden wir in die Sprache dieser Gemeinschaft, die Makroebene sozialer Institutionen, eingebunden. Dabei übernehmen wir mit den sprachlich etablierten Klassifizierungen (die wir unsererseits durch unsere fortgesetzte Teilnahme an eben diesem kulturellen Prozess beständig sowohl perpetuieren als auch wandeln) ein ‚kollektives Wissen‘. So auch das kollektive Wissen um das jeweilige episodale sprachliche Ereignis soziokultureller Evolution namens ‚Kunst‘. Da wir aber nun mal sprachlich nicht in einer fernen Vergangenheit, sondern in der Gegenwart sozialisiert wurden, vermögen wir auch nicht zu sagen, ob es zwischen dem vergangenen kollektiven Wissen und dem heutigen eine Schnittmenge gibt und wenn es sie gäbe, wie groß sie wäre. Mangels fehlender sprachlicher Sozialisation in jenen Epochen besitzen wir weder ein internalisiertes Wissen um den episodalen Gebrauch etablierter und konventioneller Bedeutungen vergangener Äußerungen noch ein Wissen um vergangene singuläre Gebrauchsweisen [11]. Können aber unter diesen Voraussetzungen aus schriftlichen Zeugnissen etablierte und konventionelle Bedeutungen vergangener Äußerungen oder gar singuläre Gebrauchsweisen rekonstruiert werden oder handelt es sich bei solchen Rekonstruktionen stets um Konstrukte? Gar um solche, bei denen wir eine ‚spätere Denkfigur in die Vergangenheit rückprojizieren‘ (Majetschak)? 11. Vergangene mündliche Äußerungen, die ehemals etablierte und auch singuläre episodale Gebrauchsweisen dokumentieren würden, liegen frühestens seit Ende der 1920er Jahre in Form authentischer Aufzeichnungen vor. Zuvor sind sie lediglich sporadisch als schriftliche Zeugnisse [12] dokumentiert. Damit entzieht sich, bis auf einige wenige Ausnahmen, der weit überwiegende Teil aller vergangener Äußerungen wie auch etwaige ‚Zwischenresultate‘ vergangener Prozesse sowohl der Bedeutungsetablierung als auch des Bedeutungswandels vollständig und grundsätzlich unserer Kenntnisnahme und Erkenntnis. Und da es in absehbarer Zeit niemanden mehr geben wird, der vor Ende der 1920er Jahre in seiner jeweiligen Sprachgemeinschaft sozialisiert wurde, wird es dann auch keine gesicherte Auskunft mehr über vergangene Gebrauchsweisen aus dieser Zeit geben können, bleibt uns doch die Chance auf intersubjektive Vergewisserung und damit Verifizierung verwehrt. Gesicherte Aussagen über vergangene Sprecher-Intentionen sind zukünftig kaum mehr möglich, jede Aussage darüber käme aus prinzipiellen Gründen nicht mehr über den Status einer Hypothese hinaus (dabei ist aber das Erkennen der Sprecher-Intentionen die Bedingung der Möglichkeit der Einsicht in das, was jemand meint, wenn er etwas sagt – darauf werden wir in den nächsten Kapitel näher eingehen).
3. Soziokulturelle Phänomene zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht sind, sondern werden. Und dass sie nicht so bleiben, wie sie werden, sondern sich stets wandeln. Das ist bei Systemen und Strukturen nicht anders als bei Bedeutungen von Worten. Alles hat einen strukturellen Anfang – und der „Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen“ [13] (Keller 2014: 164). „Jede andere Strategie“, so der Linguist Frank Liedtke, „wäre hoffnungslos zirkulär“ (Liedtke 2016: 43).
Die Etablierung der Bedeutung der Worte, das heißt: ihrer Gebrauchsweisen, sowie der stete Wandel dieser Gebrauchsweisen [14] und damit eben auch die des Wortes Kunst [15], „entsteht letztlich aus singulären sprachlichen Äußerungen und ihrer Intentionszuschreibung“ (ebd.: 41). Dem liegt ein Kooperationsmodell sozialer Interaktion zugrunde, in dem der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello gar den Ursprung menschlicher Kommunikation sieht: „Menschen kooperieren miteinander auf eine Weise, die wir von keiner anderen Spezies kennen, wobei diese Kooperation Prozesse geteilter Intentionalität beinhaltet“ (Tomasello 2017: 24). Es sind daran also immer Sprechende beteiligt, die bestimmte Intentionen haben, sowie Mitsprechende, die diesen Äußerungen in aktuellen Situationen bestimmte Intentionen zuschreiben. Aus dem millionenfachen Vollzug derartiger Sprachhandlungen ergeben sich wie gesehen nicht-intendierte, nicht-vorsätzliche, kollektive kausale Resultate, idealiter die konventionellen Bedeutungen. Und, in letzter Konsequenz, „allmählich eine Einzelsprache als Durchschnitt der Verwendungen vieler Sprecher“ (Liedtke 2016: 41).
Der britische Sprachphilosoph H. Paul Grice hat für den ersten und damit entscheidenden Schritt der Bedeutungsgenese innerhalb einer Sprachgemeinschaft von der singulären Situationsbedeutung hin zur konventionellen Bedeutung ein solches idealtypisches Kooperationsmodell sozialer Interaktion entwickelt, das ihren Anfang beim handelnden Individuum nimmt. Und beschreibt, wie sich die Bedeutung einer Äußerung explizieren lässt, wenn das, was der Sprecher mit ihr meint, vom Angesprochenen nicht schon durch den Rückgriff auf den konventionellen Sprachgebrauch, sondern erst im Rahmen einer dialogisch strukturierten Situation durch das Erkennen der „reflexive(n) Intention“ (Liedtke 2016: 37) verständlich ist:
i. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung x beabsichtige. ii. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst. iii. Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung x beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.
Um die kommunikative Intention (die Sprecher-Intention), also das mit der Äußerung Gemeinte, sowie die intendierte Wirkung (die Sprecher-Bedeutung) verstehen zu können, muss der Angesprochene eine interpretative Leistung erbringen und über relevantes Kontextwissen verfügen. Zu letzterem gehört unter anderem das Wissen um „kulturelle Praktiken, außerdem Einschätzungen der aktuellen Situation und schließlich das, was im Diskurs vorher gesagt oder im Text vorher geschrieben wurde“ (Liedtke 2016: 38). Ob jedoch die Interpretation des Gemeinten durch den Angesprochenen mit der vom Sprecher intendierten Interpretation übereinstimmt, kann „nur wechselseitig unterstellt werden“ (ebd.: 40). In einer dialogisch konzipierten, kooperativen Gesprächssituation kann der Angesprochene unter anderem durch Nachfrage versuchen, seine unterstellte Interpretation zu verifizieren. Bei der Lektüre eines Textes [16] gestaltet sich dieses Vorhaben schon schwieriger. Angenommen, den Aussagen resp. den darin gebrauchten Worten, so dem Begriff ‚Kunst‘, wäre nicht durch Rückgriff auf den konventionellen Sprachgebrauch [17] beizukommen, da es sich um eine singuläre Sprecher-Bedeutung handelt: Wie kann der Leser feststellen, ob der Autor und er „übereinstimmende Interpretationen der Situation haben oder nicht“ (ebd.: 40), wenn es sich aus dem Kontext nicht eindeutig erschließen lässt, was der Autor gemeint resp. intendiert hat? Handelt es um den Text eines lebenden Autors, so hat er zumindest die theoretische Chance einer Kontaktaufnahme zum klärenden Dialog und einer damit verbundenen Vergewisserung und Verifizierung. Was aber, wenn es sich um einen Text handelt, bei dem der Interpret weder auf eine übergreifende verständnissichernde ‚diachronische Identität‘ (Keller) aktueller konventioneller Bedeutung zurückgreifen kann noch imstande ist, seine Hypothesen zur Sprecher-Intention resp. Sprecher-Bedeutung im direkten Austausch zu verifizieren, da der Autor längst verstorben ist?
4. Erkenntnisfördernd mag an dieser Stelle ein Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin, sei es nun die der Kunstphilosophie, Kunstgeschichte oder Kunstkritik, hinaus auf einen Fachbereich sein, der sich mit ganz ähnlichen Fragestellungen und Problemlagen konfrontiert sieht: den der Geschichtswissenschaft. Hier provozierte 1969 ein junger britischer Historiker und Politikwissenschaftler, Quentin Skinner, die Granden seines Fachs mit einem Aufsatz, der ihn à la longue zum Spiritus rector der ‚Cambridge School‘ der Ideengeschichte machte: ‚Meaning and Understanding in the History of Ideas‘. Mit ihm initiierte er eine Grundlagendebatte, die im Grunde bis heute andauert. Skinner verwies, so der deutsche Historiker und Politikwissenschaftler Alexander Gallus in einem Beitrag für die FAZ, „(v)ier gängige Prämissen der Ideengeschichte (…) in seinem methodologischen Schlüsseltext ins Reich der Mythologien“ (Gallus 2019: o.S.):
• „Die ‚mythology of doctrines‘ projiziere Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurück und erzeuge Anachronismen. Noch schlimmer ist es, wenn der Historiker gleich von zeitlosen Fragen und Werten ausgeht (‚perennialism‘)“. • Die „mythology of coherence“ verführe dazu, „aus verstreuten Bemerkungen politischer Denker eine logisch geschlossene Theorie zu formen, mithin einen ebenso widersprüchlichen wie wandlungsreichen Denkprozess in ein Schema zu pressen“. • Zwei weitere Denkfehler, die „mythology of prolepsis“ und die der „parochialism“, zielen „auf die Konstruktion von historischer Kontinuität (…). Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem (…) schraffiert“ (alle Zitate: Gallus 2019: o.S.).
Wie lassen sich nun, will man Aussagen und Wortbedeutungen eines historischen Textes verstehen, solche Denkfehler vermeiden? Aber wenn man in der Lage wäre, solche Denkfehler zu vermeiden: Lassen sich Aussagen und Wortbedeutungen eines historischen Textes angemessen verstehen? Die Antwort der postmodernen Textkritik auf diese Frage, namentlich von Jacques Derrida, ist unmissverständlich: Eine gültige Interpretation eines Textes, also die verifizierte Feststellung der „vom Autor intendierte(n) Bedeutung eines Textes“ (Skinner 2009: 7), kann es nicht geben. Schlösse man sich nun dieser Auffassung zur Gänze an, so Skinner in seinem Aufsatz ‚Über Interpretation‘, hieße das in der Konsequenz, dass „das hermeneutische Ziel der Bedeutungsexplikation, hier verstanden als Feststellung der auktorialen Intention“ (ebd.: 8), aufgegeben werden muss. Zwar ist auch er der Ansicht, dass die auktorialen Mitteilungsabsichten „rein mentale Eigenschaften (…) und als solche dem Textinterpreten unzugänglich“ (ebd.: 15) seien, auf sie als das hermeneutische Ziel verzichten will er aber nicht. Ganz im Gegenteil. Er betont ausdrücklich, dass „die Bestimmung der auktorialen Intention zum Kern der hermeneutischen Aufgabe“ (ebd.: 17) gehöre. Der Leser stutzt, klingt dies doch für seine Ohren im ersten Moment verdächtig nach einer contradictio in adiecto. Eine unzugängliche Intention soll Kern der hermeneutischen Aufgabe sein? Einen ersten Hinweis auf einen Ausweg aus dieser vermeintlichen Widersprüchlichkeit gibt Skinners recht drastische Feststellung, dass eine genauere Bestimmung der beiden grundlegenden Begriffe ‚Bedeutung‘ und ‚Intentionalität‘ dringend erforderlich sei, werden sie doch „von den verschiedenen Fraktionen [18] in dieser Debatte mit fast schon verbrecherischer Ungenauigkeit benutzt“ (ebd.: 8).
Um nun eine entmythologisierte Ideengeschichtsschreibung betreiben zu können, galt es für Skinner, diese Ungenauigkeit zu korrigieren: „Unter Rückgriff auf die philosophische Theorie des Sprechakts entfaltete Skinner die Grundauffassung, dass die Texte politischer Theoretiker in spezifischen Konstellationen entstanden und zu würdigen seien. Es genüge nicht, die bloßen Aussagen oder Wortbedeutungen eines einzelnen Textes zu verstehen. Vielmehr gelte es, seine Intention und Kraft (‚force‘) [19] zu ermitteln, die er in einer Situation des politischen Deutungskampfes als Beitrag zu spezifischen Fragen und angesichts damals geltender Konventionen des Sagbaren hatte oder haben wollte“ (Gallus 2019: o.S.).
Texte sind demnach nicht zu verstehen, wenn man sie rein auf ihre semantische Ebene reduziert, werden sprachliche Äußerungen doch de facto immer auf der pragmatischen Ebene geäußert: Sie sind stets in Kontexte und Handlungszusammenhänge eingebunden, besitzen stets eine auktorial-intentionale Handlungskomponente und sind somit nie unabhängig von ihr zu verstehen. Sehe ich davon ab, so kann es sich dabei um ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis handeln, doch darf dieses nicht mit der Realität verwechselt werden. „Wir müssen also nicht nur erfassen, was die Menschen sagen“, so paraphrasiert Gallus eine zentrale These Skinners, „sondern auch, was sie tun, indem sie es sagen“ (ebd.: 2019). Das heißt: „Um eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bedeutung des Gesagten erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54). Also das, „was die Autoren damit gemeint haben“ (ebd.: 55). Allerdings reicht es nicht aus, nur den unmittelbaren Kontext zu untersuchen. „Vielmehr müssen wir all die unterschiedlichen Kontexte untersuchen, in denen diese Wörter verwendet wurden – all die Funktionen, die diese Wörter haben können, all die unterschiedliche Dinge, die man mit ihnen tun kann“ (ebd.: 57, Hervorhebung S.O.). Dabei wird man letztlich erkennen, so Skinner, dass es keine „‚überzeitlichen Weisheiten‘ in Gestalt ‚universaler Ideen‘“ (ebd.: 21) sind, die von klassischen Texten vermittelt werden. In ihnen gibt es keine „Elementarideen“ (ebd.: 59) aufzuspüren, die von zentralen Begriffen getragen werden. Es gibt „lediglich eine Vielzahl von Aussagen von einer Vielzahl verschiedener Akteure mit einer Vielzahl verschiedener Absichten“ (ebd.: 58) und damit auch „nur eine Geschichte ihrer verschiedenen Verwendungsweisen und der verschiedenen hinter ihnen stehenden Absichten“ (ebd.: 58).
Ob es nun um die Frage der Gerechtigkeit geht, die Skinner als Beispiel dient, oder aber um die der Kunst: Jeder, der sich als reflektierter Mensch mit einer Frage beschäftigt, beantwortet sie nicht nur auf seine je eigene Weise – es „werden auch die in der Formulierung der Frage verwendeten Wörter (…) in den verschiedenen Theorien, wenn überhaupt, dann in so unterschiedlichen Weisen verwendet, daß es offensichtlich ein Zeichen von Verwirrung ist, wenn man meint, irgendwelche stabilen Begriffe thematisieren zu können“ (Skinner 2009b: 59). Wer also einen historischen Text und seine zentralen Begriffe, in unserem Fall den Begriff ‚Kunst‘, verstehen will, muss „sowohl die Absicht verstehen, die verstanden werden sollte, als auch die Absicht, daß diese Absicht verstanden werden sollte, die der Text (und mit ihm die zentralen Begriffe, S.O.) als intentionaler Akt der Mitteilung beinhalten muß“ (ebd.: 60). Also das, was die jeweiligen Autoren „zu jener Zeit, in der sie für eine spezifische Leserschaft geschrieben haben (…) tatsächlich mit ihren Äußerungen mitzuteilen beabsichtigt haben“ (ebd.: 60).
Es ist nicht zuletzt dieser Mythos von den „zeitlosen Fragestellungen“ (ebd.: 61) und „‚zeitlosen‘ Wahrheiten“ (ebd.: 63), der selbst ausgewiesene Koryphäen der jeweiligen Fachgebiete dazu verführt zu glauben, es gäbe eine Kontinuität in der Verwendungsweise bestimmter Aussagen. Aber „Aussagen verkörpern immer eine bestimmte Absicht zu einem bestimmten Anlaß und sollen der Lösung eines bestimmten Problems dienen“ (ebd.: 62). Will man sie also im Rahmen der interpretativen Möglichkeiten angemessen verstehen, muss versucht werden, sie eingebettet in die je spezifische Kontextualität in der jeweiligen Synchronie zu betrachten. Wer hingegen diese vergangenen Aussagen in der Rückprojektion einer Denkfigur wie die des aktuellen Begriffs ‚Kunst‘ betrachtet, erhält als Resultat nur ein konstruiertes Konstrukt. Ein Kontinuität suggerierendes Trugbild, das mit dem, was die Autoren mit ihren Aussagen tatsächlich gemeint haben, indem sie sie geäußert haben, kaum mehr zu tun haben dürfte als nur das Wort Kunst.
5. Was will Skinner verstehen, wenn er vergangene Äußerungen resp. den historischen Text eines Autors verstehen will? Rufen wir uns zur Beantwortung dieser Frage eine seiner zentralen Aussagen in Erinnerung:
„Um eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bedeutung des Gesagten erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54, Hervorhebungen S.O.).
Die ‚Bedeutung des Gesagten‘ ist die „Bedeutung der Äußerung selbst“ (Skinner 2009c: 73), die Skinner von dem differenziert, was jemand mit eben dieser Äußerung meint oder beabsichtigt. Nun gilt es aber zu beachten, dass das Gesagte nicht einfach eine Bedeutung hat so wie etwa die Bierflasche ein Etikett. Vielmehr geht, wie wir gesehen haben (cf. Kap. 3.), die Entwicklung der etablierten resp. konventionellen Bedeutung strukturell immer von „singulären sprachlichen Äußerungen und ihrer Intentionszuschreibung (aus)“ (Liedtke 2016: 41). Das heißt, „Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen“ (Keller 2014: 164), deren Gebrauchsweisen von Worten oder Äußerungen sich zu individuellen Regularitäten entwickeln können. Diese können im weiteren Verlauf sogar, falls sie in einer Peergroup oder, im größeren Maßstab, in einer Sprachgemeinschaft auf breite Akzeptanz treffen, zu allgemeinen Regeln des Gebrauchs werden. Mit anderen Worten: Der Prozess beschreibt eine Möglichkeit. Singuläre Gebrauchsweisen können zur konventionellen Bedeutung werden, müssen es aber nicht. Bei der Bedeutung des Gesagten kann es sich also um eine etablierte oder konventionelle Bedeutung, ebenso gut aber auch um eine singuläre Sprecher-Bedeutung handeln, die nur in diesem einen Fall besteht.
Nun stehen aber, wie gesehen, singuläre sprachliche Äußerungen und ihre Intentionszuschreibungen am Anfang des Prozesses der Bedeutungsetablierung. Dies führt uns zurück auf das handlungstheoretische Modell von H. Paul Grice (cf. Kap. 3.) und damit zu einem zweiten wichtigen Punkt, den es zu beachten gilt: Skinner identifiziert das, „was die Autoren (…) gemeint haben“ (Skinner 2009b: 55), mit der ‚beabsichtigte(n) Kraft‘, mit der eine Äußerung gemacht wurde. Bei Grice aber hatte sich gezeigt, dass das, was ein Autor mit einer Äußerung meint, strukturell am Anfang einer Bedeutungsetablierung steht. Die Vermutung liegt also nahe, dass es sich hier um zwei verschiedene Gebrauchsweisen des Wortes meinen handelt:
a. meinenS im Sinne Skinners: Um eine Äußerung zu verstehen, muss sowohl die Bedeutung des Gesagten erfasst werden als auch das, was der Sprecher mit eben dieser Äußerung meintS. b. meinenG im Sinne Grice‘: Es gibt Fälle, in denen das, was der Sprecher mit der Äußerung meintG, vom Angesprochenen nicht schon durch den Rückgriff auf den konventionellen Sprachgebrauch verstanden werden kann, sondern erst im Rahmen einer dialogisch strukturierten Situation durch das Erkennen der „reflexive(n) Intention“ (Liedtke 2016: 37). In diesen Fällen ginge es nicht um die Bedeutung des Gesagten auf der einen Seite und auf der anderen Seite um das, was ich mit der ÄußerungmeineS – hier konstituiert vielmehr das, was der Sprecher mit der Äußerung meintG, die Bedeutung des Gesagten:
i. Ich intendiere, dass du erkennst, dass ich mit meiner Äußerung x beabsichtige. ii. Ich intendiere, dass du meine Intention (i.) erkennst. iii. Ich intendiere, dass du erkennst, was ich mit meiner Äußerung x beabsichtige, indem du meine Intention (ii.) erkennst.
Zu wissen, was jemand mit einer Äußerung meintG, bedeutet demnach, die kommunikative Intention oder Sprecher-Intention zu erkennen: Die Bedeutung der Gesagten ist in diesem Fall die Sprecher-Bedeutung, die durch meinenG konstituiert wurde (cf. Oehm 2019b: 35ff.). Der Angesprochene muss, um zu verstehen, eine reflexiv interpretative Leistung erbringen – die Verständnisschnittmenge ist nicht gegeben, sie muss erst erarbeitet werden. Handelt es sich bei der Bedeutung des Gesagten hingegen um die konventionelle Bedeutung, so meintG ein Autor/Sprecher mit der Äußerung nichts anderes als das, was er sagt. Vorausgesetzt, es besteht zwischen Autor/Sprecher und Interpreten hinsichtlich dieser konventionellen Bedeutung eine so große Verständnisschnittmenge, dass ein ‚intuitives‘ Verstehen seitens des Interpreten gegeben ist, muss nicht nur keine reflexiv interpretative, sondern gar keine interpretative Leistung erbracht werden.
Wie kann aber nun bei vergangenen Äußerungen die Sprecher-Bedeutung des Gesagten verstanden werden? Wie kann der Interpret seine Interpretation der reflexiven Intention, das heißt das, was der Autor/Sprecher gemeintG hat, verbindlich verifizieren, wenn er verstorben ist (cf. Kap. 3.)? Und wie kann ich bei vergangenen Äußerungen die konventionelle Bedeutung des Gesagten gesichert verstehen, wenn es zwischen Autor/Sprecher und Interpret keine nachprüfbar gesicherte Verständnisschnittmenge, keine diachronische Identität gibt? Ganz zu schweigen von dem „Überschuß an Bedeutung“ (Skinner 2009c: 76), von dem Skinner im Anschluss an Paul Ricoeur spricht, also von all den „Anspielungen, Assoziationen und unterschwelligen Anklänge(n), die ein einfallsreicher Interpret in einem Text entdecken könnte“ (ebd.: 73).
Reden wir nun aber von meinenS, so steht die Bedeutung des Gesagten gar nicht zur Debatte. Weder im Sinne der Sprecher-Bedeutung noch der konventionellen Bedeutung. Denn Skinner „geht es nicht um Bedeutung, sondern um den Vollzug bzw. die Performance illokutionärer Akte“ (Skinner 2009c: 73), um „die auktoriale Intentionalität“ (ebd.: 73). Die Frage, „was ein Autor mit einer Äußerung gemeint oder beabsichtigt haben könnte“ (ebd.: 73), ist für Skinner also keine Frage nach der Bedeutung des Gesagten, sondern eine nach dem illokutionären Akt. Wenn er jedoch gleichzeitig fordert, dass wir, um eine ernstgemeinte Äußerung verstehen zu können, die Bedeutung des Gesagten erfassen müssen, kann er nicht einfach nonchalant davon ausgehen, dass die Bedeutung des Gesagten, ganz egal, ob es sich nun um die Sprecher-Bedeutung oder die konventionelle Bedeutung handelt, erfasst wird. Er muss vielmehr plausibel erklären, wie die Bedeutung des Gesagten im Falle längst vergangener Äußerungen und Texte erfasst wird.
6. In Kap. 2. haben wir bei der Formulierung unserer heuristischen Thesen bereits einige grundsätzliche Aspekte angesprochen, die der Möglichkeit eines gesicherten, verifizierten Verstehens von Äußerungen und Texten entgegenstehen. Einige weitere Aspekte im Hinblick auf die ‚Bedeutung des Gesagten‘ gilt es nun zu bedenken:
1. Werden Autor/Sprecher und Interpret in einer Sprachgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit gemeinsam sozialisiert, so internalisieren sie in der Regel die dann jeweils allgemein akzeptierten Bedeutungen (‚Verständnisschnittmenge‘): Der Interpret ist imstande, die konventionelle Bedeutung des Gesagten ‚intuitiv‘ zu verstehen. Er muss keine reflexive Intention erkennen, um zu wissen, was mit der Äußerung in diesem Fall gemeintG ist. 2. Werden Autor/Sprecher und Interpret in einer Sprachgemeinschaft zu verschiedenen Zeiten (gegebenenfalls sogar in verschiedenen Epochen) sozialisiert, so gilt: Je größer der zeitliche Abstand zwischen Äußerung und Rezeption, desto geringer die diachronische Identität der Bedeutung, also der Verständnisschnittmenge des Gesagten – und damit die Wahrscheinlichkeit, dass ein Interpret bei einer vergangenen Äußerung die zum Zeitpunkt der Äußerung konventionelle Bedeutung des Gesagten ‚intuitiv‘ richtig versteht. 3. Werden Autor/Sprecher und Interpret in verschiedenen Sprachgemeinschaften/Kulturen zur gleichen Zeit sozialisiert, ist ein ‚intuitives‘ Verstehen der konventionellen Bedeutung des Gesagten beim Interpreten wie in 1. nicht gegeben – es ist bestenfalls nachträglich ‚erlernbar‘. 4. Findet die Sozialisation in verschiedenen Epochen und in verschiedenen Sprachgemeinschaften/Kulturen statt, kann die konventionelle Bedeutung einer vergangenen Äußerung nicht ‚intuitiv‘ verstanden werden (kann sie überhaupt eruiert werden, damit sie verstanden werden kann?). 5. Eine eher rhetorische Frage: Kann der Interpret verbindlich feststellen, ob es sich im Hinblick auf vergangene Äußerungen bei der Bedeutung des Gesagten um eine etablierte resp. konventionelle Bedeutung oder doch eher um eine einmalige Sprecher-Bedeutung handelt? 6. Eine ebenso rhetorische Frage: Kann der Interpret im Hinblick auf vergangene Äußerungen die Bedeutung des Gesagten verbindlich verstehen, wenn es sich um eine singuläre Sprecher-Bedeutung handelt? 7. Wer im Hinblick auf vergangene Äußerungen die Bedeutung des Gesagten verstehen/eruieren will, muss seine eigenen aktuellen Gebrauchsweisen der Begriffe im Detail kennen und sie sich im Moment der Interpretation bewusst machen, damit er sie bei der Interpretation vergangener Aussagen nicht auf eben diese Aussagen projiziert und so eine Kontinuität konstruiert, die es nicht gibt – so zum Beispiel die des Gebrauchs des Wortes Kunst auf allen Ebenen und Achsen (cf. Oehm 2019a: 10, auch Oehm 2019b: 272).
Lassen wir für einen Moment einmal diese grundsätzlichen Probleme beiseite, die sich bei der Frage nach der ‚Bedeutung des Gesagten‘ und der Möglichkeit, sie zu erfassen, ergeben. Denn „(u)m eine ernstgemeinte Äußerung zu verstehen, müssen wir (ja) nicht nur die Bedeutung des Gesagten erfassen, sondern zugleich auch die beabsichtigte Kraft, mit der die Äußerung gemacht wurde“ (Skinner 2009b: 54, Hervorhebungen S.O.). Also das, was ein Autor mit ihr gemeintS hat. Dieses meinenS identifiziert Skinner nun mit derauktorialen Intentionalität alias: der ‚beabsichtigten Kraft‘. Den Terminus ‚Kraft‘ entlehnt er bei dem englischen Sprachphilosophen John L. Austin, der ihn in seinem bahnbrechenden Werk ‚Zur Theorie der Sprechakte‘ einführte. Austin unterscheidet dort den lokutionären Akt (den eigentlichen Akt des Äußerns) vom illokutionären Akt (dem konventionellen Zweck der Sprachhandlung: Befehl, Aufforderung, Behauptung, Verbot etc.) und diesen wiederum vom perlokutionären Akt. Letztere Sprachhandlung vollzieht ein Sprecher, wenn er eine Äußerung „mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck“ macht (Austin 1979: 118), bestimmte Wirkungen beim Angesprochenen auszulösen. Die uns hier nur interessierende illokutionäre Akt, ist der, „den man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, „daß man etwas sagt“ (ebd.: 117). Im Vollzug des illokutionären Akts können wir „die Äußerung als etwas (als Befehl und dergleichen) meinen“ (ebd.: 118, meinen im Sinne von meinenS). Im Vollzug lokutionärer Akte können wir „mit der Äußerung etwas meinen“ (ebd.: 118, meinen im Sinne von meinenG ). Wenn wir nun in illokutionären Akten die Äußerungen als etwas meinenS (also als Befehl, Aufforderung, Behauptung, Verbot etc.), dann üben sie verschiedene Funktionen aus, dienen sie verschiedenen Zwecken: Austin spricht von „‚illokutionären Rollen‘ [illocutionary forces]“ (Austin 1979: 117) der Sprache und unterscheidet dezidiert „zwischen der Rolle (‚force‘, Anm. S.O.) der Äußerung und ihrer Bedeutung (im Sinne dessen, worüber sie spricht und was sie darüber sagt)“ (ebd.: 118).
Hier wird verständlich, warum es Skinner bei einer Äußerung ausdrücklich „nicht um Bedeutung, sondern um den Vollzug bzw. die Performance illokutionärer Akte“ (Skinner 2009c: 73) im Rahmen „der in der Äußerung selbst bestehenden Interventionen“ (ebd.: 80) geht. Denn für ihn ist jeder Text ein Eingriff in einen Diskurs. Das heißt, „(j)eder Kommunikationsakt beinhaltet eine Stellungnahme in bezug auf einen bereits bestehenden Gesprächs- und Argumentationskontext“ (ebd.: 78). Wollen wir also eine Äußerung verstehen, müssen wir verstehen, „warum jemand eine bestimmte Äußerung macht“ (ebd.: 78). Damit wird nicht allein „jede kategorische Trennung von Text und Kontext in Frage“ (ebd.: 80) gestellt, es wird auch der von Roland Barthes und Michel Foucault totgesagte Autor [20] wiederbelebt. Denn auch wenn Skinners „Aufmerksamkeit nicht primär individuellen Autoren (gilt), sondern den allgemeinen diskursiven Kontexten ihrer Zeit“ (ebd. 81), so gilt es anzuerkennen, „daß Texte (…) Autoren haben und daß Autoren über bestimmte Absichten verfügen, wenn sie Texte schreiben“ (ebd.: 82), wir uns also nicht auf die Untersuchung von Foucaults ‚diskursiven Formationen‘ beschränken können, wollen wir einen Text oder eine Äußerung angemessen verstehen. Die von Autoren verfassten Texte sind stets intentionale Interventionen zu bestimmten Diskursen in bestimmten Kulturen in bestimmten Epochen und deshalb zwingend als solche zu begreifen. Das allgemeine Ziel muss also darin bestehen, „die (…) untersuchten Texte zurück in diejenigen kulturellen und diskursiven Kontexte zu stellen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurden“ (ebd.: 88).
7. Auch wenn hier zahlreiche grundsätzliche Vorbehalte gegen das Gelingen eines solchen Unterfangens vorgetragen wurden, so bedeutet dies nicht, dass es nicht versucht werden sollte. Im Gegenteil. Nur dann, wenn Begriffe, Äußerungen und Texte im Rahmen des nur eben Möglichen nicht als rückprojizierte Konstrukte verhandelt, sondern in eben die kulturellen und diskursiven Kontexte gestellt werden, in denen sie ursprünglich verfasst wurden, eröffnet sich uns die Möglichkeit einer „ernsthafte(n) Auseinandersetzung mit unvertrauten Denkweisen“ (Skinner 2009c: 88) und Lebensformen. Es ist diese Auseinandersetzung, die es uns ermöglicht, „eine gewisse Distanz zu unseren eigenen Überzeugungen und Wertesystemen zu gewinnen“ (ebd.: 88) und zu erkennen, „daß unsere eigenen Beschreibungen und Begriffe keineswegs zeitlos überlegen sind“ [21] (ebd.: 88).
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Was gibt es in der Kunst zu „verstehen“?, Rigorose Reflexionen zum Kunstbegriff von Stefan Oehm. Königshausen & Neumann, 2021
Die inflationäre Verwendung des zentralen Terminus technicus im Kunstdiskurs geht mit einer befremdlichen sprachlichen Sorglosigkeit einher. Keiner der Beteiligten nimmt eine systematische Begriffsdifferenzierung vor, um sicherzustellen, dass alle wissen, worüber sie reden, worüber sie miteinander reden und worüber der Andere redet. Wie kann ein Verstehen gewährleistet sein, wenn nicht dieses Wissen gewährleistet ist? Über welchen Begriff ›verstehen‹ reden wir in der Kunst? Geht es in der Kunst überhaupt darum, etwas zu verstehen oder verstehen zu geben? Die hier vorliegenden fünf Aufsätze widmen sich einigen grundsätzlichen Überlegungen, um von diversen liebgewonnenen Topoi Abschied zu nehmen. Helfen werden Gedanken des Ethnologen Clifford Geertz, den sein Unbehagen an der mangelnden begrifflichen Präzision deutender Ansätze zum Konzept der ›Dichten Beschreibung‹ führte. Des Weiteren jene des Historikers Quentin Skinner, der den Mythen der Rückprojektion bestehender Konzepte in die Vergangenheit und historischer Kontinuitäten Einhalt bot. Und nicht zuletzt des Anthropologen Michael Tomasello, der die Infrastruktur geteilter Intentionalität als Basis menschlicher Kommunikation und kooperativen Handelns identifizierte – die Basis dessen, was wir so gerne Kunst nennen.
Weiterführend →
KUNO würdigte das Buch Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden? von Stefan Oehm mit einem Rezensionsessay. – Eine Leseprobe finden Sie hier.
Literatur:
Austin, John L. (1979): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart: Reclam Verlag.
Bembeza, Sofia et al. (2019): Polyphone Ästhetik – Eine kritische Situierung, Wien/Linz: transversal texts. Conard, Nicholas J. (2017): Vorsprung durch Kunst, Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/wissen/vorsprung-durch-kunst-das-glueck-der-neuen-menschen-14860383.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2020) Ferguson, Adam (1767/1904): An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh. Gallus, Alexander (2019): Die Schule von Cambridge – Wort, Satz und Sieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/quentin-skinner-und-die-schule-von-cambridge-16480789.html, zuletzt abgerufen am 29.01.2020) Grice, Herbert Paul (1957/1979): Intendieren, Meinen, Bedeuten. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp. Grice, Herbert Paul (1968/1979): Sprecher-Bedeutung, Satz-Bedeutung, Wort-Bedeutung. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp. Grice, Herbert Paul (1972-73/1979): Sprecher-Bedeutung und Intentionen. in: Georg Meggle (Hrsg.), Handlung Kommunikation Bedeutung, Frankfurt a. M.: Verlag Suhrkamp. Heinz, Marion/Ruehl, Martin (2009): Nachwort, in: Quentin Skinner, Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Jannidis, Fotis et al. (2016): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam Verlag.
Keller, Rudi (2006) Ist die deutsche Sprache vom Verfall bedroht?, in: Aptum. Heft 03/2006, Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, Bremen: Hempen Verlag.
Keller, Rudi (42014): Sprachwandel, Tübingen: A. Francke Verlag. Liedtke, Frank (2016): Moderne Pragmatik, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. Majetschak, Stefan (42016): Ästhetik zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag Oehm, Stefan (2019a): Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst‘, in: Mythos Magazin (http://www.mythos-magazin.de/erklaerendehermeneutik/so_kunst.htm) Oehm, Stefan (2019b): Worüber reden wir, wenn wir über Kunst reden?, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann. de Saussure, Ferdinand (21967): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaften, Berlin: Walter de Gruyter.
Sefa, Nora (2019): Die Würde mit den Mitteln der Kunst wiedererlangen, Frankfurter Allgemeine Zeitung (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/die-ausstellung-incarnations-im-bruesseler-bozar-museum-16343238.html, zuletzt abgerufen am 03.02.2020)
Skinner, Quentin (2009a): Über Interpretation, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Skinner, Quentin (2009b): Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Skinner, Quentin (2009c): Interpretation und das Verstehen von Sprechakten, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Smith, Adam (1978): Der Wohlstand der Nationen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Thurn, Hans Peter (1994): Der Kunsthändler – Wandlungen eines Berufes, München: Hirmer Verlag. Tomasello, Michael (42017): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Wenzel, Horst (1997): Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Verlag Metzler (hier zitiert nach: https://www.metaphorik.de/sites/www.metaphorik.de/files/article/wenzel-medialitaet.pdf, zuletzt abgerufen am 31.01.2020)
[1] Siehe die Differenzierung der Gebrauchsebenen und damit der Gebrauchsregeln des Wortes Kunst in meinem Aufsatz ‚Entwurf einer grundsätzlichen Erörterung des Begriffs ‚Kunst’‘ (Oehm 2019a: 10, auch Oehm 2019b: 272). [2] Ist dies, bezogen auf andere Epochen, eine Frage in diachroner Hinsicht, lässt sie sich auch, bezogen auf andere Kulturen, ganz ähnlich in synchroner Hinsicht stellen. So wie dies die Kuratoren der Ausstellung „IncarNations – African Art as Philosophy“ in Brüssel getan haben: „Was ist afrikanische Kunst? (…) Existiert sie überhaupt? Oder ist sie nur eine Projektion eines westlichen Konzepts?“ (Sefa 2019: o.S). In einer Besprechung in der FAZ schreibt Nora Sefa, die Ausstellung sei eine einzige Aufforderung: „Dekolonisiert eure Sichtweise.“ Die Dekolonisierung würde allerdings damit zu beginnen haben, dass dieser abendländisch geprägte und tradierte Begriff ‚Kunst‘ keine Anwendung auf Artefakte und Entäußerungen nicht-abendländischer Kulturen mehr findet. Insbesondere solcher Kulturen, die eine Kolonisierung durch aggressive Usurpation abendländischer Mächte erleiden mussten – das heißt einen auch kulturell übergriffigen Kolonialismus, der zumeist vom festen Glauben an eine eigene rassische Höherwertigkeit begleitet war. Was aber, wenn der in dieser Weise vorbelastete Begriff ‚Kunst‘, unbedarft durch Kuratoren gebraucht wird, die ihrerseits aus eben jenen Ländern kommen, die durch einen solchen Kolonialismus ihrer kulturellen Identität vielfach fast gänzlich beraubt wurden? „Kolonialität ist fester Bestandteil des Denkens, der Strukturen und Institutionen der Kolonialkulturen und entsteht nicht erst mit der territorialen Kolonisierung“, so der Kulturtheoretiker Christoph Brunner (Bempeza et al.: 24). Nicht nur des Denkens, der Strukturen und Institutionen der Kolonialkulturen möchte man hinzufügen: So perpetuieren durch den perpetuierten Gebrauch des abendländischen Kernbegriffs der Ästhetik par excellence ‚Kunst‘ ausgerechnet die die kolonialen Denkstrukturen, die sich gegen diese in Stellung bringen. [3] Beispielsweise redet der renommierte Tübinger Professor für Ältere Urgeschichte, Nicholas J. Conard, in seinem Beitrag ‚Vorsprung durch Kunst‘ für die FAZ einer solchen Kontinuität das Wort: „Die Fragen, wann, warum und wo die Kunst entstanden ist, wird man wahrscheinlich noch viele Jahre lang diskutieren“ (Conard 2017: o.S.). [4] Zwischen Kunst und Handel bestand bereits in der Antike eine innige Beziehung. Darauf weist nicht zuletzt Hans Peter Thurn hin: Der griechische Gott Hermeias, uns besser bekannt als Hermes, galt als Schutzgott der Kaufleute, „als Schirmherr der Herden und als Patron der Künste“ (Thurn 1994: 14). Noch deutlicher wird diese enge Verbindung bei den Römern. Sie „betonten diesen Geschäftsaspekt, indem sie den griechischen Hermes unter Verwendung des Handelswortes ‚merx‘ in Merkur umtauften und diesem als Accessoire einen Geldbeutel mit auf den Weg gaben“ (ebd. 1994: 14). merx, mercis, dt. Ware. Davon leitet sich unter anderem unser heutiger Begriff ‚Markt‘ ab. [5] Den Begriff der unsichtbaren Hand (engl. invisible hand) führte der schottische Nationalökonom Adam Smith in seinem Werk ‚Der Wohlstand der Nationen‘ (Smith 1978: 371) ein. [6] Ein Beispiel zu Verdeutlichung: Die Begriffe ‚Primzahl‘, ‚Haus‘ und ‚Spielzeug‘ werden verschiedenen Begriffstypen zugeordnet. Die Primzahl ist eindeutig definiert: Jede Zahl ist eine Primzahl, die nur durch sich selbst und 1 teilbar ist. Der Begriff ‚Haus‘ hingegen ist nicht so eindeutig definiert. Er kann zwar nach allgemein akzeptierter Gebrauchsweise nur auf bestimmte Objekte bezogen werden, aber dennoch ist ihm eine gewisse Vagheit eigen – ich habe ad hoc die Möglichkeit, etwas als Haus zu bezeichnen, was andere eher als Hütte bezeichnen würden. Das heißt: Das gleiche Objekt kann zum gleichen Zeitpunkt von zwei verschiedenen Personen widerspruchsfrei einmal als Haus und einmal als Hütte bezeichnet werden. Der Begriff ‚Spielzeug‘ wiederum besitzt, ebenso wie der Begriff ‚Geschenk‘, eine geradezu maximale Vagheit: Da alles potentiell ein Spielzeug oder ein Geschenk sein kann (auch wenn es uns noch so absurd erscheint), ist die Aussage ‚x ist ein Spielzeug/Geschenk‘ potentiell immer wahr. [7] Dieser Zeitraum einer verständnissichernden „diachronischen Identität“ (Keller 2014: 132) umspannt in der Regel die parallel lebenden und miteinander im Rahmen kooperativer Prozesse geteilter Intentionalität kommunizierenden Generationen – also drei bis maximal fünf Generationen. [8] Die beiden Begriffe ‚Begriff ‚Kunst‘‘ und ‚Kunstbegriff‘ sind sorgfältig voneinander zu trennen. Der Begriff ‚Kunst‘ bezieht sich auf die vertikale und horizontale Achse der Gebrauchsweisen des Wortes Kunst auf der Mikroebene des individuellen Kunstschaffens und der Makroebene der sozialen Institutionen (Oehm 2019a: 10), der ‚Kunstbegriff‘ hingegen bezeichnet den in der Kunstwelt häufig undifferenziert gebrauchten Begriff, bei dem oftmals nicht klar wird, auf welche der verschiedenen Ebenen des Gebrauchs des Wortes Kunst er sich gerade in dem Moment bezieht: auf das konkrete Werk, das Oeuvre, das Genre, das Medium, den alle Künste umfassenden Oberbegriff etc. pp. [9] So mancher Beteiligter wird von sich behaupten, das Wort Kunst angemessen gebrauchen und womöglich sogar eine ‚korrekte‘ Zuschreibung von etwas als Kunst (resp. als Kunstwerk) liefern zu können. Manche, so etwa Mitglieder der Gruppe D: ‚Kunstexperten‘, nehmen dies sogar exklusiv für sich in Anspruch. Allerdings verfangen sie sich dabei rasch in einer zirkulären Argumentation: Wer legt fest, dass nur Kunstexperten dazu befähigt sind, sachdienliche Aussagen über Kunst zu machen resp. ein Werk als Kunstwerk zu erkennen? In der Regel niemand anderes als eben Kunstexperten. [10] Der Begriff ‚episodal‘ soll einen entscheidenden Umstand kennzeichnen: Zum einen handelt es sich bei der Etablierung und Wandlung der Gebrauchsweisen um einen fortlaufenden Prozess, der erst mit dem Ende aller Sprecher natürlicher Sprachen sein Ende findet. Zum anderen ist dieser Prozess eingebettet in ein Kontinuum, das, nach derzeitiger Lehrmeinung der Wissenschaft, seinen Anfang in der kosmischen Inflation der Singularität, dem Urknall, nahm und in diesem einzigartigen Ereignis aus einem Punkt Raum und Zeit konstituierte. Bei der physikalischen Zeit handelt es sich nach allem, was wir wissen, demnach um ein gerichtetes, irreversibles Momentum, das de facto nur reine Dauer, aber keine Etappen kennt, die durch einen bezeichneten Anfang sowie ein bezeichnetes Ende definiert sind. Die Rede von einer Etappe wäre das, was Keller „ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis“ (Keller 2014: 171) nennen würde. Was so theoretisch klingt, hat praktisch dramatische Auswirkungen. Denn wenn wir bei dem Kontinuum, das wir als ‚physikalische Zeit‘ kennen, von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit reden, so nutzen wir, ohne dass es den meisten von uns bewusst ist, drei Begriffe, die drei verschiedenen Begriffstypen zuzuordnen sind: Die ‚Zukunft‘ als das, was kommen wird, ist, auch wenn sie bislang immer eingetreten ist, reine Spekulation – nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass nicht morgen schon ein kosmisches Ereignis ähnlichen Ausmaßes wie das des Urknalls dem ganzen Spuk ein Ende bereiten wird (das Problem ist bekannt als ‚Humes Induktionsproblem‘). Die ‚Gegenwart‘ ist in diesem steten Fluss reiner Dauer lediglich als ein von den verschiedenen Sprechern natürlicher Sprache ad hoc definierter Zeitraum, als eine willkürlich begrenzte Etappe, als ‚episodales Ereignis‘ (Oehm 2019b: 80 et al.) gegeben – de facto rauscht die Zukunft ungebremst durch sie hindurch in die Vergangenheit (der Großteil des Hier und Jetzt, das wir ad hoc Gegenwart nennen, liegt übrigens bereits in der Vergangenheit). Die ‚Vergangenheit‘ ist demnach die einzige Größe, die für uns fassbar ist. Da aber die Zeit, soweit wir wissen, irreversibel ist, entzieht sich ausgerechnet diese fassbare Größe unserer validen Erkenntnis und damit der Erfassbarkeit: Wir können keine verifizierbaren Aussagen über sie machen, alles muss prinzipiell Hypothese bleiben. [11]Ein analoges Defizit ergibt sich für uns aufgrund unserer fehlenden sprachlichen Sozialisation in anderen Sprachgemeinschaften und, mehr noch, in gänzlich anderen Kulturkreisen. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein – wie auch der Konsequenzen, die sich daraus ergeben. [12] Einzig ein Text, also das schriftliche Zeugnis vergangener Äußerungen und Aussagen, ist uns aus vergangenen Zeiten zugänglich. Für den Historiker und Politikwissenschaftler Quentin Skinner (cf. 4.) handelt es sich dabei, so Marion Heinz/Martin Ruehl in ihrem Nachwort zu dessen Aufsatzband ‚Visionen des Politischen‘, um eine Form „‚erstarrter Sprechhandlung‘ (frozen speech)“ (Heinz/Ruehl 2009: 271). Eine Formulierung, die an eine Metapher des normannischen Chronisten Ordericus Vitalis (1075 – 1143) erinnert, der den Text resp. die Schrift als „gefrorene Sprache“ (Wenzel 1997: 15) bezeichnete. [13] Eine andere Position vertritt die Systemtheorie im Gefolge Niklas Luhmanns. Sie geht dezidiert nicht vom Einzelnen aus. Der Bestand von Systemen wird lediglich gesetzt, aber nicht systematisch erklärt. [14] Die verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst werden strukturell auf der vertikalen Achse differenziert. Auf der horizontalen Achse der jeweils faktischen Gebrauchsweisen des Wortes Kunst sind, wie gesehen, dessen singulären, gruppenspezifischen und auch die innerhalb einer Sprachgemeinschaft allgemein akzeptierten Gebrauchsweisen zu differenzieren (Oehm 2019b: 272). [15] Auf signifikante Weise ist von einem solchen Wandel auch das Wort Kunst betroffen. So wie sich im 18. Jahrhundert ein gänzlich neuer Gebrauch des Wortes Kunst und im Verlaufe dessen ein Begriff ‚Kunst‘ im Sinne des Oberbegriffs aller Künste als nicht zählbares Substantiv etablierte (wodurch erst die Wesensfrage ‚Was ist Kunst?‘ möglich wurde), so verschwanden im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiedene spezifische Gebrauchsweisen der Wortes Kunst und damit des Begriffs ‚Kunst‘ fast völlig aus unserem Sprachgebrauch: Kunst als die Bezeichnung der Ausübung technischer Gewerke sowie die bestimmter Vorrichtungen resp. technischer Anlagen (z.B. ‚Wasserkunst‘ oder ‚Dampfkunst‘), die von einem ‚Kunstmeister‘ konstruiert und instand gehalten wurden. [16] Der Sprachgebrauch in der geschriebenen Sprache ist vom Sprachgebrauch in der gesprochenen Sprache zu differenzieren – die Etablierung allgemein akzeptierter Gebrauchsweisen läuft in der Schriftsprache der in der gesprochenen Sprache stets hinterher. Es ist eine asynchrone Entwicklung: Das, was in gesprochenen Sprache bereits üblich ist und nicht als fehlerhaft empfunden wird, wird in der geschriebenen Sprache zur gleichen Zeit als Fehler empfunden. Noch. Denn wir sind „uns nicht bewusst, dass die systematischen Fehler von heute mit hoher Wahrscheinlichkeit die neuen Regeln von morgen sind“ (Keller 2004: 195). Plakativ vor Augen geführt wird uns das durch ein sprachhistorisch neues Phänomen, das sich der klassisch-dichotomen Einteilung von geschriebener und gesprochener Sprache entzieht – Linguisten nennen es ‚geschriebene Mündlichkeit‘: die Sprache in E-Mails, auf WhatsApp, Twitter etc. [17] Wurden Sprecher und Angesprochener, Autor und Leser zur gleichen Zeit in der gleichen Sprachgemeinschaft sozialisiert, erhöht dies die Chance erheblich, dass beide, Angesprochener wie Leser, „auf eine gängige Bedeutung der geäußerten Ausdrücke zurückgreifen (können)“ (Liedtke 2016: 41). Der schweizerische Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure nannte den Prozess der Bildung einer solchen Verständnisschnittmenge, die kollektives Resultat des Prozesses der unsichtbaren Hand ist, ‚soziale Kristallisation‘: „Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt heraus: alle reproduzieren – allerdings nicht genau, aber annähernd – dieselben Zeichen, an die dieselben Vorstellungen geknüpft sind“ (de Saussure 1967: 15) [18] Quentin Skinner wird hier wohl, neben dem Poststrukturalismus, insbesondere an den New Criticism gedacht haben, der lange Jahre die Literaturbetrachtung in den USA dominierte. Sein Gründungsdokument ist der 1946 erschienene Aufsatz ‚The Intentional Fallacy‘ (dt. ‚Der intentionale Fehlschluss‘) von William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley. Ihr Credo lautete: „Zur Beurteilung und Deutung eines literarischen Textes sind allein dieser Text und seine Merkmale, nicht aber die Intention des Autors relevant“ (Jannidis et al. 2016: 80). Da sich dessen Intention, so beschreiben Jannidis et al. die Position von Wimsatt/Beardsley, „sich nur mithilfe textexternen Materials rekonstruieren lässt“ (ebd.: 80), halten diese den Schluss von der Autorenintention „auf die Qualität und die Bedeutung eines literarischen Werks (…) für einen Fehlschluss“ (ebd.: 80). [19] Den Begriff ‚force‘ führte John L. Austin in seinem Werk ‚How to do things with words‘ (dt. Zur Theorie der Sprechakte) ein (Austin 1979: 117). Er differenziert dort zwischen verschiedenen Sprachhandlungen, die wir in der umgangssprachlichen Kommunikation mit bestimmten Äußerungen vollziehen. Einen dieser Sprechakte bezeichnet Austin als „den Vollzug eines ‚illokutionären‘ Aktes (…) d.h. einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt“ (ebd.: 117), der von „dem Akt, daß man etwas sagt“ (ebd.: 117) zu unterscheiden sei. Austin nennt „die Theorie der verschiedenen Funktionen, die die Sprache unter diesem Aspekt haben kann (…) die Theorie der ‚illokutionären Rollen‘ [illocutionary forces]“ (ebd.: 117, in der von Eike von Savigny bearbeiteten deutschen Fassung wird ‚force‘ nicht mit ‚Kraft‘, sondern mit ‚Rolle‘ übersetzt). Wollen wir also eine Aussage verstehen, müssen wir sie auf beiden Ebenen verstehen. Wenn wir nun, so Quentin Skinner, Dinge mit Worten tun, wenn wir „eine bestimmte Art von Handlung vollziehen, also etwas überlegt und willentlich tun“ (Skinner 2009c: 66), so „kann die Verbindung zwischen der illokutionären Kraft der Sprache und dem Vollzug illokutionärer Handlungen – wie bei allen willentlichen Handlungen – nur in den Absichten des Sprechers liegen“ (ebd.: 66).
[20] Roland Barthes: ‚Der Tod des Autors‘ sowie Michel Foucault: ‚Was ist ein Autor?‘, in: Jannidis, Fotis et al. (2016): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam Verlag.
[21] Quentin Skinner verweist hier auf die Überlegungen insbesondere von Hans-Georg Gadamer (zur ‚Geschichtlichkeit des Verstehens‘ in: ‚Wahrheit und Methode‘, Tübingen: J.C.B. Mohr) sowie Richard Rorty (in: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag).