Joschi war gekommen, Csilla, Kati und Paul. Sogar das Zentralorgan und der Russenschuss waren da. Mischa fehlte noch und das machte Horst nervös. Aber er zeigte es nicht. Er brummte nur, ich habe ja nicht ewig Zeit. Es war Samstag und er brauchte noch Bier.
Die kommt schon noch, sagte Csilla und dann stand Mischa tatsächlich in der Türe, so wie man sie kannte. Die Jeans aus der Kleiderkammer der Tafel, Camouflage-Tank-Top. Hinter sich der Kinderwagen, vierte Hand, den sie der Türkin abgekauft hatte, für 15 Euronen, inklusive des Geruchs von mehreren Schichten Sabber und Säuglingskotze. Da drinnen lag das Baby, ein Junge, inzwischen vier Monate alt und immer noch ohne Namen. Ich denke noch darüber nach, sagte Mischa, wenn man sie darauf ansprach. Und es war besser, wenn man nicht nachfragte.
An die Geburt erinnerten sich noch alle. Mischa hatte vorher nie darüber gesprochen. Auch als ihr Bauch schon dick war, behandelte sie ihre Schwangerschaft wie eine Art Erkältung. Nur ins Krankenhaus wollte sie nie, seit der Sache mit Petr. Der könnte nämlich noch leben, glaubt jedenfalls Mischa.
Und dann ging es doch nicht anders. Eines Nachmittags im Park schrie Mischa auf einmal auf und dann war da überall Blut. Sie musste schon seit Stunden Wehen gehabt haben, ohne dass sie sich etwas anmerken ließ. Die Hebamme war jedenfalls äußerst sauer gewesen. So kurz vor Schichtende noch so ein schwerer Fall. Die kann mich mal, sagte Mischa am Tag danach auf der Wöchnerinnen-Station. Da war sie schon wieder ganz die Alte, neben ihrem Bett in einer Schale, wie in einer Auflaufform, das Neugeborene, satt und friedlich schlafend.
Die Klinik hatte das Kind vorsorglich auf Drogen getestet, wie sie es bei allen Müttern macht, die auf der Straße leben. Mischa war deswegen total beleidigt gewesen. Sie war als frischgebackene Mutter nicht wirklich glücklich, aber durchaus zufrieden. Und das war bei jemanden wie ihr schon gar nicht schlecht. Der Russenschuss hatte noch eine Krankenkassenkarte und altersmäßig hat es auch in etwa gepasst, so dass Mischa ihren Sohn auf den Ausweis ihrer engsten Freundin und größten Konkurrentin auf die Welt brachte.
Und du willst es wirklich machen lassen, fragte Horst. Es ist nämlich so, ich habe noch nie ein Baby tätowiert. Es wird schreien. Natürlich wird es schreien, sagte Mischa. Der Russenschuss lachte laut auf, verstummte aber, als sie merkte, dass niemand mitlachte. Dann nahm Mischa den kleinen Jungen aus dem Wagen.
Horst hatte die Liege frei gemacht, zwei dicke Decken drauf, auch die grobe vom Roten Kreuz. Zwei Mal hatte er die Nadel und die Maschine sterilisiert, denn er wollte ja keine Probleme bekommen, schon gar nicht mit Mischa. Er nahm die kleinste Nadel, mit der er sonst nur Konturen zeichnete, bei Tribals oder den großflächigen Tattoos auf Rücken oder Brust. Dann eben jetzt ein Baby. Es sollte ihm recht sein. Respekt vor der Aufgabe hatte er aber doch.
Es sollte eine Fledermaus werden, das stand schon seit Wochen fest. Vielleicht einen halben Zentimeter groß auf der Schulter. Die Haut des Babys war weich, so weich, wie es Horst noch nie gespürt hatte, auch nicht bei den ganz jungen Mädchen, die für das erste Tattoo noch die schriftliche Zustimmung ihrer Mütter mitbringen.
Kann ihn mal einer mit festhalten, fragte Mischa. Kati und Paul zögerten einen Moment, kamen dann aber doch. Horst stand längst der Schweiß auf der Stirn. Ich zittere, staunte er. Das war ihm noch nie passiert und es war fatal für seine Profession. Dann setzte er die Nadel an.
Das Baby, das in seinem bisherigen Leben kaum Schmerz, allenfalls Hunger gespürt hatte, war angesichts der neuen Empfindung verblüfft. Ein paar Augenblicke jedenfalls, dann schrie es, was die kleinen Lungen hergaben. Oh je, murmelte Csilla. Na, na, sagte der Russenschuss und Horst schwitzte noch mehr. Dann aber bemerkte er zu seinem Erstaunen, wie das Surren der elektrischen Nadel das Kind zu beruhigen schien. Zwar schrie der Junge immer noch empört auf, wenn Horst erneut ansetzte, doch es war beileibe nicht so schlimm, wie er gedacht hatte. Es muss schnell gehen, sagte sich Horst. Schnell und gut. Es wäre nicht gut, wenn Mischa reklamierte.
Ein winziger Faden Blut sickerte aus der Wunde, das Zentralorgan tupfte das Blut und die überschüssige Farbe weg und kicherte nervös. Bei Harry Potter ging das echt flotter, juxte der Russenschuss. Der Säugling protestierte immer noch lautstark, mehr aus Entrüstung als aus Schmerz, so kam es jedenfalls Horst vor, der sich aber mit so kleinen Kindern nicht auskannte.
Mischa sah keine Veranlassung, ihren erstgeborenen Sohn zu trösten. Allerdings stillte sie ihn kurz darauf und wechselte die Windeln. Da hatte Horst schon die vereinbarten 30 Euronen kassiert (Freundschaftspreis), er stand vor der Tür und paffte heftig.
Zwei Tage später bekam das Baby Fieber. Mischa hatte es zunächst mit Heiltee versucht, dann wurde es schlimmer und sie ging doch zum Arzt. Der entdeckte prompt das Tattoo und wollte sofort das Jugendamt anrufen. Mischa warf sich auf den Boden, schrie, tobte, bedrohte den Arzt, winselte, bot erst Sex, dann Prügel an, verstummte schließlich, kollabierte, kam wieder zu sich, und schrie, schrie, schrie.
Der Arzt, geschockt, hilflos, panisch, beruhigte erst Mischa und dann sich selbst. Das Baby kriegte Zäpfchen gegen das Fieber und eine leichte antibiotische Salbe für die entzündete Haut am Tattoo. Dann sprach niemand mehr davon. Damals hatte Mischa ihren Sohn schon Friedrich genannt. Tatsächlich Friedrich. Horst staunte. Ihre Spur und die des Kindes verloren sich irgendwann. Csilla sagte, sie hätte jemanden kennen gelernt und lebte jetzt auf dem Land.
Das Zentralorgan ging zurück zur Uni und machte ihren Abschluss als Jahrgangsälteste. Der Russenschuss starb anderthalb Jahre später auf einem S-Bahnhof im Osten. Eine Sache mit viel Blut. Was genau passiert ist, weiß man nicht.
Horst ist jetzt mit Danni zusammen und sie betreiben das Tattoo-Studio gemeinsam, daneben eine kleine Salatbar mit Vollwertküche. Horst sticht jetzt Biker, Polizisten, Nutten und Senatsangestellte auf ihrem Junggesellenabschied. Eines Tages, so vermutet er, könnte ein 15-, 16-Jähriger vor ihm stehen. Dann würde er sein T-Shirt über die Schulter ziehen, das Fledermaus-Tattoo zeigen und fragen: Hast du das gemacht?
Und der Babytätowierer würde nicken und dann würde er von Mischa erzählen und dem Russenschuss und dem Zentralorgan und all den anderen. Und dann würde Horst dem Sohn von Mischa noch ein Tribal am Oberarm stechen, einfach so, auf Kosten des Hauses. Denn für ihn wollte er ja nicht ewig der Babytätowierer bleiben.
***
Irgendwas ist immer, Stories von Markus Peters, CHORA Verlag, Duisburg, 2021
Der Babytätowierer wurde mit dem 1. Preis beim Leverkusener Short-Story- Wettbewerb 2017 ausgezeichnet.
Mit diesen großartig geschriebenen Prekariatsstories setzt Markus Peters die Tradition der nonkonformistischen Literatur nicht etwa fort, er führt sie zu neuer literarischer Größe. Man merkt seinen Worten an, das sich der Autor auch Lyriker einen Namen gemacht hat, so präzise ist die Sprache gesetzt. Es sind Geschichten von der Schattenseite der deutschen Gesellschaft, die Peters umso heller ausleuchtet, er begibt sich an Orte, zu denen sich die Kommerzsender mit ihren gecasteten Formaten nicht mehr hintrauen. Das Bemerkenswerteste an seinen Satiren, Stories und Kolumnen ist, bei aller Lakonie und Unsentimentalität, die uneingeschränkte Solidarität mit seinen Figuren, ohne jegliche Distanz und Ironie. Unterschichten-Elendsvoyeurismus wie ihn der NDR mit einer getürkten Reportage über den Straßenstrich ins öffentlichen-rechtlichen Gebühren-TV hob, sucht man in seinen Satiren, Stories und Kolumnen vergeblich, es ist vielmehr ein journalistischer Blick auf die Realität. Seine gleichsam essayistischen Betrachtungen leben von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Auf unterhaltsame Weise verpasst dieser Autor dem Alltag in seinen Satiren, Stories und Kolumnen einen wohldosierten Dreh ins Aberwitzige. Einen Vergleich mit der Prosa von Clemens Meyer braucht dieser Autor nicht zu scheuen. Für KUNO ist dieses Buch ein Anwärter auf „das Buch des Jahres“ 2021.
Weiterführend zur Theorie des Sozialen
Eine Theorie des Sozialen lautet, es gebe in der Politik keine Lücken. Immer wo sich eine auftue, werde sie sofort von anderen Akteuren besetzt. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. – Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat.