Vorrede der KUNO-Redaktion: Zur Ausstellung im im Literaturhaus Stuttgart dekonstruiert Boris Kerenski im begleitenden Katalog den Social Beat. Wir ergänzen dies mit einer analytischen Betrachtung von Ulrich Bergmann:
Social Beat im engeren Sinn ist ein längst überholter Begriff, aber offenbar auch der Versuch, die Schlagkraft des Pop zu tradieren und seine Idee von Popularität und naiv-demokratischem Künstlertum (jeder Mensch ist ein Künstler – ) weiterzuentwickeln. Dabei sprang dann oft statt eines sozialen Engagements durch Taten eher eine Art Mitgefühl mit künstlerischem Gehabe heraus, eine Ersatzhandlung und ein Alibi zur eigenen Entlastung von Befindlichkeitsstörungen im Kontext biografisch bedingter Hemmungen und Schwierigkeiten – scharf formuliert: Post-pubertäre Verschriftlichung andauernder persönlicher Probleme, ohne eine wirklich genaue Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse vorzunehmen.
So mancher Autor schreibt in der SB-Manier als Trittbrettfahrer und aus purer Eitelkeit. Die wirklich authentische und auch formal gut gestaltete und prägnante Literatur in der Art des Social Beat findet sich heute nur noch selten. Längst ist social beat nämlich überwunden, und es ist schon ein wenig sonderbar, dass es einige Literaturzeitschriften gibt, die glauben, sie seien Foren einer authentischen Literaturrichtung, und die nicht sehen (wollen oder können), was es sonst noch gibt und längst schon gab! (Eine Parallele dazu sind die Magazine, die immer noch den Dadaismus, in epigonalster Form, pflegen – erstaunlich, dass Claudia Pütz den V.O. Stomps-Preis gewinnen konnte. Aber egal. Immerhin gelang ihr eine neue Material-Verpackung ihres Magazins – und sowas zählt eben auch.)
Vielleicht liegt solche fortgesetzte Epigonalität nicht nur daran, dass junge Leute in dieser Zeit viel offener die Probleme ihrer Persönlichkeitsentwicklung austragen und vor sich her tragen als früher. Darin lässt sich auch durchaus ein Fortschritt erkennen. Allerdings sind die (eben oft viel zu speziellen) Probleme einer kleinen Gruppe nicht tauglich für gruppenüberschreitende Wirkung.
Sondern: Ein weiterer Grund ist ganz einfach auch Unkenntnis aus purem (Gruppen-) Egoismus. Es fällt auf, dass im social beat die Geste der Betroffenheit meist jeden gedanklichen Witz und jede formale Idee weit in den Schatten stellt, nur ist diese Betroffenheit viel zu intern, pathetisch, gefühlsduselig, naiv im elenden Sinne, oft hohl, abgegriffen und allzu vulgär-romantisch. Eine Parallele dazu ist ein großer Teil der Industrie-Musik (aller Stile!), durch die sich manche oft zwanzig Jahre ihres Lebens durchhören, ehe sie (wenn überhaupt) die Musik von Stockhausen, Ligeti, Alfred Schnittke, Xenakis, Milhaud, Nono, Nancarrow, Sophia Gubaidulina entdecken.
Es gilt andererseits: Es gab und gibt einige sehr prägnante, sehr authentische und einfallsreiche Texte von SB-Autoren. Allerdings behaupte ich, dass solche guten Texte nicht mehr viel mit SB zu tun haben.
Ich hänge nicht an dem zerfallenden und allzu weiten Begriff des Social Beat, und vielleicht könnte man die Literatur so mancher Zeitschrift, die von purer Lautstärke oder Kraftmeierei lebt, messen an ihrer einfältigen und oft uniformen Gruppenbezogenheit, an dem wenig kunstvollen und phantasiearmen Versuch der Literarisierung postpubertärer Selbst- und Weltfindungsprobleme.
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Die Ausstellung im im Literaturhaus Stuttgart wurde bis zum 28. Mai verlängert!
Die Dokumentation zeigt vor allem eins: Der Social Beat war ungehobelt und polarisierend, mit einem untrüglichen Gespür für ebenso banale wie treffende Lebensweisheiten. Dieses Schreiben ist ein Am-Leben-Bleiben. Künstlerisch gestaltet wird eher wenig, es hat den Anschein des Dokumentarischen. Es hat wahrscheinlich keine Jugendbewegung gegeben, die ihre Leidensarroganz besser zu Schau gestellt hat. Sich als desillusionierte Außenseiter inszenierende Typen schreiben gegen das öde Leben in der Gosse an. Was darf Dokumentarlit? Wie wahrhaftig kann ist sie? Wie viel Inszenierung ist erlaubt?
Passend zur Ausstellung im im Literaturhaus Stuttgart eine Reflektion zur ‚Bekenntnis‘-Literatur, in diesem Katalog dekonstruiert Boris Kerenski den Social Beat. Die Auflage ist limitiert, jedes Exemplar ist nummeriert und signiert. Dieser Band ist die Edelkirsche auf einer ranzigen Buttertorte und jedem Sammler zu empfehlen.
Weiterführend →
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.