Sprechen ist immer zitieren

Der Welttag der Stimme ist eine weltweite jährliche Veranstaltung, die zur Feier des Phänomens der Stimme stattfindet. Ziel ist es, die enorme Bedeutung der Stimme in unserem alltäglichen Leben aufzuzeigen, als ein Werkzeug der Kommunikation und zur Anwendung einer Vielzahl von Wissenschaften wie z. B. der Physik, Psychologie, Phonetik, Kunst und Biologie. Der Tag wurde 1999 als eine gemeinsame Anstrengung von amerikanischen und europäischen HNO-Ärzte sowie Logopäden, insbesondere der Amerikanische Akademie für HNO-Heilkunde – Kopf-und Hals-Chirurgie und Dr. Mario André in Portugal eingeleitet. KUNO erinnert an den Erfinder des Hörbuchs.

 

Das „Shure Brothers“-Mikrophon, Modell 55s aus dem Jahr 1951. Photo: Holger Ellgaard

Man hört auf Gedichte die Entschlossenheit zur Deklamationskunst. Deser Rezitator ist ein Lautschöpfer und Sprachbastler, er bringt die Buchstaben in eine neue Un-Ordnung und die Bedeutungen zum Schwirren. Es kobolzen Vokale ins Mikrophon, stets aufs Neue jongliert er mit Lettern, Silben, Wörtern und Sätzen. Seine Stimmbildung hat Weigoni als reine Physik verstanden, da wurden Muskeln trainiert – seine Stimmbänder – und es ging ihm um Physiologie und Raumakustik; er vergleicht die solcherart geschulte Stimme mit dem Resonanzkörper eines Instruments. Diese stilisierte Alltagssprache macht den Unterschied zum privaten Sprechen, in den Gedankenimpulsen, die sich den Zuhörer über die Prosodie vermitteln, also über Rhythmus, Melodie oder Sprechgeschwindigkeit, es ist ein Gedanken verdichtendes, zielgerichtetes Sprechen in normaler Sprache. Weigoni benutzt Wortspiele und ungewöhnliche Wortkombinationen, er verfremdet das Sprachmaterial, indem er phonetisch notiert oder einzelne Silben lautmalerisch wiederholt. Er stellt die Lyrik nicht lautlich aus, um schönes Sprechen geht es ihm dabei nicht. Um Verständlichkeit schon.

Ganz im Gegensatz zu den anderen „experimentellen“ CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

A.J. Weigoni, Porträt: Jesko Hagen

Auf dem Hörbuch Gedichte mischt sich die Körperrede mit der Klangrede, die orale mit der gutembergeschen Tradition, geschriebenes Sprechen verwandelt sich in gesprochenes Papier und so fort. Es sind kunstvoll komponierte Kostbarkeiten, ein unendlich abwechslungsreiches Nebeneinander verschiedenartigster Sinneseindrücke. Bei seinen Rede– und Suchgedichten konzentriert sich Weigoni seit der Letternmusik beim Rezitieren auf die nackte Stimme. Die stimmliche, sprechtechnische sowie akrobatische Virtuosität, mit der er zu Werke geht, erzeugt gleichsam ein  Textkonzert, die Partitur ist Sprache. Tom Täger stellt sie bei den Aufnahmen zum Hörbuch Gedichte im Tonstudio an der Ruhr in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sich die Sprache in den Gedichten in ihre Einzelheiten auf.

Als geformte Performance bezeichnete Thomas Kling das Hörbuch, hier trenne sich kurz und schmerzlos die Spreu vom Weizen. Deshalb solle den Mund halten, wer nicht ‚vorlesen‘ kann, oder zu faul zum Üben ist.

Michael Opitz

Der Sprechsteller Weigoni hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim Sprechen das Auge im Ohr. Der Modus des Sprechens wird zu einer Operation, die die Sprache als Werkzeug nutzt, seine Gedichte verlangen nach wachen Rezipienten und goutieren sie folgerichtig. Wir hören die Essenz, nicht den Effekt. Dieser VerDichter ist ein Meister der Wortschöpfung, der es versteht, die Phraseologie des Alltags subversiv aufzuladen, auf eine Art, die sprachwitzig ist, ohne sich auf die Pointen draufzusetzen, und umso betörender, je tiefer er sich in die irrwitzigsten Gedankenspiele hineinschraubt. Er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, dass sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Seine ruhige Stimme verleiht dem Text eine bitter nötige, beiläufige Eleganz. Man kann ein Kompositum wie Dichterloh als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf– und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen, ein Spachspiel, das in einen Sprechspiel übergeht, ein Aus-Atmen, das zu einem Aus–Sprechen wird, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.

Als ich dieses Hörbuch hörte, war ich schlichtweg begeistert. Bei Hörbüchern und Hörspielen wird oft der Begriff „Kunst“ verwendet. Ich rede eher vom „Handwerk“. Als ich Gedichte von A.J. Weigoni lauschte, war für mich sofort klar: Das ist wirkliche Kunst! Dieser Mensch ist ein wahrer Wortakrobat, ein Liebhaber der Sprache, ein Kenner des Mediums. Weit weg vom Mainstream ist Gedichte von Weigoni für Liebhaber der „Sprachkunst“ und für intellektuelle Unterhaltung DER Geheimtipp. Solch eine liebevolle Inszenierung hat eine Auszeichnung verdient, deswegen: ‚Beste Lesung‘.

Simeon Hrissomallis, Begründung für den Hörspielpreis Ohrkanus

Lyrik als Klanggebilde wird oft vernachlässigt, weil das Schreiben eine lautlose Disziplin ist, eine, mit der man, um buchstäblich Gehör zu finden, sich immer erst ans Notenpult stellen und das Geschriebene mit erhobener Stimme vorlesen muß. Die Performance ist in der Literatur lediglich ein sekundärer Akt, es gibt ein anderes Medium, das deutlich direkter auf das Gehör zielt: das Hörbuch. Das plurimediale Potenzial der Schrift wird erst auf diesem Medium zur Gänze ausgeschöpft. Das Hörbuch Gedichte stellt die Gesamteinspielungen des Lyrikers vor, die zwischen 1995 – 2015 im Tonstudio an der Ruhr  in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Tom Täger entstanden sind. Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht erfunden) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Er erscheint im Nachgang fast logisch, daß diese Artisten sich über den Weg laufen mussten. Beide Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, beide haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In–der–Schwebe–Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen. Synthese und Synästhesie liegen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet. Die Zuhörer werden Zeugen bei der alchemistischen Verwandlung von Gedanken in gesprochene Worte – also in Poesie.

Ein hörbar genetischer Code der Poesie

Constanze Schmidt

Als Lyriker hat Weigoni eine moralische Verpflichtung und zwar die den Worten gegenüber, die umsichtig zu plazieren sind. Die Lyrik auf dem Hörbuch Gedichte ist gespickt mit starken Metaphern und drastischen Vergleichen, dieser barocke Überfluss an Sinneseindrücken verschlingen den Hörer von der ersten Sekunde an. Der sprachliche Variantenreichtum überzeugt: Neben Lautmalerischem und zahlreichen Wortneuschöpfungen finden sich immer wieder plastische und einprägsame Bilder. Die Zerlegung von Worten ist bei Weigoni kein modisches Verfahren, sondern sorgt für überraschendes neues Hinsehen und Hinhören. Man will mit beiden Ohren tief hineinhören in dieses sinnliche Sprachgemisch, das zwischen Extase und Abstraktion oszilliert. Diese Produktion durchschneidet den medial gestifteten und determinierten Raum und erkundet seine Grenzen, damit löst das Hörbuch Gedichte das Versprechen ein, die Literatur in der digitalen Barbarei wieder in ein Kulturgut zu verwandeln; es umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die “einfach nur genießen” wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis. Weigonis Können und sein künstlerischer Anspruch gehen weit über das Bedienen von naturlyrischen Kommerzstandards hinaus. Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte. Es handelt von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen dem Sprechsteller und dem Zuhörer, es bleibt im sensorischem Speicher der Hörer, wenn nötig, für die nächsten 25 Jahre.

Der Text löscht seine Schriftlichkeit im Augenblick der Rede aus.

Friedrich Schlegel

Diese Lyrik funktioniert auf diesem Hörbuch als Klangrede, die Stimme des Sprechstellers ist zuweilen ein Percussionsinstrument. Gerade die sprachlichen Mittel, die Weigoni souverän beherrscht, machen dieses Hörbuch zu einem Hörerlebnis für den, der auch jenseits des Verstehens Spaß daran hat, Gedichte als Lautgebilde wahrzunehmen. Wie Blaise Pascal sieht dieser Lyriker das menschliche Leben als kurzes Aufscheinen zwischen dunklen, leeren Ewigkeiten. Diese Gedichte leben aus dieser Spannung: der Gewissheit des Todes als schwarzem Hintergrund und der fast grell beleuchteten Gegenwart des 21. Jahrhundert im Vordergrund. Diese Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit übersieht, wer Weigonis Gedichte als bloße Gedankenlyrik mißversteht. Die Schmauchspuren sind hermetisch verschloßene Sprachobjekte mit realen Einschlüssen, die sowohl beim Lesen als auch beim Hören optimale Einstiegsluken bieten. Das Gelesene wird von diesem Sprechsteller in einen Sprechakt rückübersetzt. Weigoni versteht es diesem Hörbuch eine Luftigkeit, zuweilen Witz und verläßlich Tiefe zu geben – mit dunkler Stimme, singend, tänzelnd, den Worten hinterherdenkend.

Notate fürs Auge, adressiert ans Ohr.  So schreibt kein anderer im deutschen Sprachraum.

Theo Breuer

Der VerDichter A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen. Dieser Lyriker bewegt sich schreibend immer in einem Kontext, allein seine eigene Sicht und Haltung zählt, eine Neubelebung oder VerDichtung des Gelesenen durch eine Verbindung mit der Welt. Die Analyse von Poesie führt ins Denken und vom Denken in die Poesie zurück. Er zeigt er auf virtuose Weise, wie sich eigene Beobachtung, Erfahrung und Erinnerung mit poetologischer Reflexion und einem geradezu enzyklopädischen literarischen Wissen in Gedichten verbinden können. Es sind Gedichte, die man bereits beim Lesen innerlich hört, der Rhythmus der Stimme wird ebenso hörbar wird, wie der Rhythmus der Welt. Als Rezitator inszeniert Weigoni seine Lyrik streng aus der Sprache heraus, er bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

 

 

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Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Coverphoto: Leonard Billeke

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Lesen Sie auch die Würdigungen von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters, Holger Benkel: rettungsversuche der literatur im digitalen raum, Christine Kappe, Ein Substilat,  Sebastian Schmidts Der lyrische Mittwoch. Ein Essay über das akutische Gesamtwerk bei buecher-wiki. Eine Übersetzung von Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörbproben →

Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.