Wer einen gemeinsamen Plot sucht zwischen einer Erzählung aus der Feder des renommierten sizilianischen Schriftstellers Nino Vetri (Jg. 1964) und Notizen, die aus dem Tagebuch des norwegischen Autors Stig Sæterbakken (1966-2012) stammen, der wird vor ein schwierig zu lösendes Problem gestellt. Bereits die beiden Texttitel lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf ganz unterschiedliche thematische Felder. Die Notizen des aus dem mittelnorwegischen Lillehammer stammenden Stig Saeterbakken verweisen auf kurze Beobachtungen, sind pointierte, philosophisch untermauerte Aussagen zu Kunst und Leben. Der Titel der Erzählung des aus Palermo stammenden und dort als Buchhändler arbeitenden Vetri irritiert durch seine Kombination von musikalischer und kubistischer Klangfärbung. Auf den ersten Blick also zwei völlig unterschiedliche Textsorten und auf den zweiten Blick höchst differierende kulturelle Felder, auf denen die literarischen Reflexionen ablaufen.
Nils Saeterbakkens Notate unter der Überschrift ‚Nichts davon handelt von mir’ setzen ein mit einer doppelten Vision von lähmender und produktiver Angst; Nino Vetris Erzählung beginnt mit einem Verweis auf einen Gaukler, mit dem ein autokommunikatives Ich kommuniziert. Also Vorsicht, liebe Leser*innen, professionelle Theaterwelt in der Gestalt eines Magiers trifft hier auf einen Möchtegern-Phantasten, der sich Wagner III. nennt. Er schleicht ständig um das Stadttheater herum, belästigt den Theaterdirektor, weil er unbedingt sein geniales Stück ‚Suite für eine viertel Kuh’ inszenieren will. Ab und zu mal verschwindet er aus der Stadt, kommt wieder und erzählt überall, auf welchen Bühnen der Welt er soeben inszeniert habe. Ungebremster Tatendrang wechselt sich mit Depressionen ab.
„Er hatte plötzlich Angst vor den Leuten. (…) Er hatte Angst, den Verstand zu verlieren. Oder besser, er dachte, er sei der einzig Vernünftige … er sei als einzig Vernünftiger unter all den Verrückten ein vernunftbegabtes Wesen geblieben und das ihn das mit der Zeit in den Wahnsinn treiben würde.“ (S. 74)
Und hat es Wagner den Dritten in den Wahnsinn getrieben? Der Plot in Negris Erzählung endet mit einer unerwarteten Wende. Wagner der Dritte stirbt und der Theaterdirektor gerät einige Jahre danach in eine schwere Bredouille. Er soll abgesetzt werden, weil seine Inszenierungen zu langweilig seien. Da erinnert er sich an das Stück des verstorbenen Phantasten, die „Suite für eine viertel Kuh“, dessen Text der Ich-Erzähler glücklicherweise aufbewahrt hat. Es wird eine sensationelle Ur-Aufführung, mit einer auf den Bühnenboden scheißenden Kuh, einem urkomischen Monolog Mama Papa Kacke, der vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen wird und dazu führt, dass Richard Wagner der Dritte in die Theatergeschichte eingeht.
Und die Notate von Saeterbakken? Ist es zum Zweck einer vorsichtigen vergleichenden Bewertung angebracht, auf die schicksalhaften Verwerfungen in der Biographie des im Jahre 2012 freiwillig aus dem Leben scheidenden Schriftstellers zu verweisen? Sind die Passagen in seinen Notizen, in denen er über seine ständig schwankenden existentiellen Erfahrungen mit seinem Leben überzeugend berichtet, irgendwie vergleichbar mit der verrückten Geschichte von der Kuh, die …? Zunächst: es sind zwei unterschiedliche Kulturmodelle, die aufeinandertreffen, die rauhe nordeuropäische Lebenswelt in Lillehammer, in der die Akteure die meiste Zeit in ihren Wohnungen oder in Berghütten verbringen, während die sizilianische Lebenswelt sich eher auf Straßen und Plätzen abspielt. Im Hinblick auf die mit lebensphilosophischen Betrachtungen verdichteten Aufzeichnungen des norwegischen Autors, der ständig mit seiner Daseinsberechtigung kämpft, fällt dem Rezensenten eine Textpassage auf, in der das Recht des Tagebuchschreibers auf die Umstülpung der Welt in einem plötzlichen Gewaltakt betont wird:
„Ist er uns nicht bekannt, jener großartige erlösende Zustand, der einen befällt, wenn etwas in einem zu Bruch geht, wenn es klick macht, wenn alle innere Kontrolle verloren geht, wenn es endlich heißt: loco, wenn einen nichts mehr zurückhält und alles seine Form verliert, wenn der Unterschied zwischen innen und außen zusammenfällt und wenn man nicht mehr das eigene Durcheinander von dem der Umwelt auseinanderhalten kann. Und dann Sekunden später, sieht man das zerschlagene Inventar, den malträtierten Körper, die rauchenden Ruinen. Man hat eine neue Welt geschaffen.“ (S. 134)
Und diese „neue“ Welt schafft sich in dem nördlichen Kulturraum eine andere Prägung als in dem südeuropäischen Kulturraum. Während Saeterbakken sich immer wieder die Frage nach einem wirklich sinnvollen Leben stellt (und schließlich freiwillig aus dem Leben scheidet), entwirft Vetri eine phantasiegeladene Gegenwelt mit einem Protagonisten, dessen skurrilen künstlerischen Vorstellungen seine Lebenswelt transzendieren und erst post mortem auf die Zustimmung der nächsten Generation stößt. Soweit der Versuch, einen offensichtlichen kulturellen Unterschied zwischen beiden Texten zu erläutern. Und der vermutete gemeinsame Plot zwischen beiden Texten? Die gelungene und mißglückte Kreation von „neuen“ Welten. Und darüber hinaus eine anregende Lektüre, viele lebensphilosophische Einsichten bei der Lektüre der Notizen von Saeterbakken mit dem provokanten Untertitel „Nichts davon handelt von mir“ und viel Verständnis für die „verrückte“ Welt von Wagner dem Dritten.
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LILLEHAMMER – PALERMO oder: Suite für eine viertel Kuh / Notizen und eine Erzählung, von Stig Sæterbakken / Nino Vetri. Edition.fotoTapeta 2019