Was ist eigentlich Musik? Wo hört Sprache auf und an welchem Punkt fängt die Stille an?
Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme auf der Welt gebe, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren idiosynkratisch. Was fasziniert, ist etwas sehr Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen.
Buchstaben, Geräusche und all das, was dazwischen liegt, spielen eine grosse Rolle.
Weigoni interessiert der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild. Weigoni wetzt die Konsonanten, bis sie schärfer schneiden als jedes Rasiermesser, vermag poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil er den richtigen Rhythmus und die Melodie findet. Weigoni hat wie kaum ein Lyriker sonst begriffen, daß das Gedicht Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Es entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert’s und gurgelt es. Manchmal versteht man nicht den Sinn, aber die Gedichte sind durch den Sprachgestus und -duktus immer evident. So musikalisch diese Poesie ist, so falsch wäre es, sie als Musik oder reine Lautmalerei zu verstehen. Der Rezitator arbeitet in seinen poetischen Performances mit Wörtern, und seine Worte haben Bedeutung. Selbst und gerade da, wo er ihnen die herkömmliche unter den Füssen wegzieht, zitiert er sie durch das Sprachspiel, in dem er sie verwendet. Er läßt die Glossolalie der Metropolen-Slangs und die Patois-Eloquenz anklingen, retextualisierend, gewissermassen wieder neu auf: Dialekte, Soziolekte, Fach- sowie Fremdsprachenpartikel unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Lyriker legt gleichsam jedes Wort, jede Silbe, jeden Ton unter das Mikroskop, prüft jede Nuance der Artikulation, der Vokalfärbung, der Konsonantenakzentuierung, der Klangschattierung und der dynamischen Abstufung.
Rezitieren ist hier Millimeterarbeit.
Dieses Mosaik aus sprachlichen und klanglichen Details wächst zu einem farbigen und zugleich präzisen Gesamtbild zusammen, dies liegt zum einen an seiner stimmlichen Reaktionsschnelligkeit und Wendigkeit, zum anderen an der klugen Planung seiner interpretatorischen Disposition. Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man Weigoni zuhört bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber: Senkblei in die Seele.
A.J. Weigoni und Philipp Bracht gelingt es, Wahrnehmungsgrenzen zwischen Klang, Musik, Stille und Aufführung zu verschieben
In Weigonis Sprachinstallationen kontrastieren phasenweise die Harmonien der Musik und der eher Dissonanzen thematisierende Text. Das zugleich analytische und spielerische der Textfolge korrespondiert mit der Tatsache, daß Musik und Mathematik verwandte Ursprünge haben. Poesie ist höhere Zahlenlehre, die durch die Addition aller Gleichungen das Ohr zum Klingen bringt.
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Prægnarien, Hörbuch von Philipp Bracht, Frank Michaelis und A.J. Weigoni. Eine limitierte Auflage von 50 Exemplaren ist versehen mit einem Original von Haimo Hieronymus. Edition Das Labor, Mühleim an der Ruhr 2013
Hörproben → Probehören kann man die Prægnarien auf MetaPhon. Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni hier.
→ Lesen Sie auch die Würdigung von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.