Zombies · Revisited · 1 · 2 · 3

Covermontage: Jesko Hagen

Ich lese A. J. Weigonis im September 2012 erschienenes Prosabuch Cyberspasz, a real virtuality, die novellistische Fortschreibung des Erzählbands Zombies, der mich im Herbst 2010 in Atem hält. Auch wenn Zombies als Gesamtwerk die Nase vorn haben mag: In Cyberspasz, a real virtuality lese ich Passagen von phantastischer Komplexität, die mich von Seite zu Seite zerren, mich immer wieder, verwundert, sprachlos, verblüfft, aufjubeln lassen. (Wahrscheinlich denkt Mrs Columbo, ich hätte ne Meise.) Hier werden Fragen im Zusammenhang mit ›Echtheit‹, ›Realität‹, ›Wahrheit‹, ›Wirklichkeit‹ (usw.), die die Menschheit ja nun immer schon recht heftig bedrängen, in ein vollkommen eigenartiges gleißendes, gleichsam lustvoll Energie verströmendes Licht gestellt. Wie geblendet weiterlesend, erinnere ich mich fortwährend an die faszinierende Lektüre von 2010:

1

Zombie-Alarm im Sistiger Herbst 2010. Ich halte ein ansehnliches Prosabuch von A. J. Wei­goni in Händen, staune über den unerwarteten Umfang. Nachdem ich im Internet lese, was Matthias Hagedorn über das Buch schreibt – Das Prosageflecht »Zombies« ist ein prismatisches Lichtspiel, das in vielen Facetten aufleuchtet: als leichtfüßige Komödie und ätzende Satire, als Fabel zur gesellschaft­lichen Moral zu Beginn des 21. Jahrhunderts; es sind Geschichten eines Übergangs: vom Sozial- zum Individualstaat, von der Fürsorgegesellschaft zu Verhältnissen, die jeden auf sich selbst verweisen – bin ich naturgemäß mehr als gespannt, was diese Prosa mir zu bieten ha­ben wird (außer Zombies). Ich wußte von der un­mittelbar bevorstehenden Veröf­fentlichung des Buchs, aber daß es ein solcher Schinken ist, haut mich um, da ich Weigoni bis­lang als Autor eher schmaler Bücher kenne.

Wie schön wäre es, wenn in einer Jahreszeit einmal wieder ein Buch im Mittelpunkt stehen könnte, ein Buch, das alle lesen und das die einen schätzen und die anderen vielleicht nicht, und es gäbe mal wieder einen flächendeckenden Diskurs, der alle unter ein Dach brächte: Seit einigen Wo­chen prasseln die Bücher wieder wie dicke herbstliche Regentropfen ins Haus, wor­über ich mich naturgemäß auch freue (wo ich den Regen so liebe), aber vor lauter Büchern … Oswald Eg­ger wartet ja mit einem noch mehr als doppelt so umfangrei­chen, dabei höchst attraktiven Buch auf, und die­ses Buch lese ich seit einigen Tagen und Nächten mit der größten Begeisterung. Wei­goni wird sich also einige Zeit gedulden müssen, bevor ich Zombies lese. Sehen wir’s von der po­sitiven Seite und sagen: Gut Ding will Weile haben.

2

Einige Tage lang hatten wir hier in der Wolfskaul keinen Zugang zum Internet. Da werde ich –  leider, leider – immer ganz schnell furchtbar kribbelig, und selbst die geliebten Lesestunden wer­den von einer (immerhin nur kleinen) Unruhe nicht verschont. All diese blöden (schönen) Ab­hängig­keiten in dieser verrückten Zeit nach 2000. Die Umstellung von DSL 1.000 auf DSL 6.000 ist mit einer Reihe blöder Umstände verbunden (von wegen verbunden!), aber jetzt jagen wir wieder, nachdem ich, der pha­senweise Frustrierte, mehr als einen Tag lang telefoniere, kombi­niere, investiert, mit und ohne Hilfe konfiguriere und installiere, mit den Botschaften in atembe­rau­bender Lichtgeschwindigkeit um den Globus herum und zurück. Heißa.

3

Ich lese A. J. Weigonis romanhaftes Prosamosaik Zombies – ein eigenstimmiges, originelles, star­kes Stück Lite­ratur – an vier aufeinander folgenden Abenden im späten Oktober. Die abschlie­ßen­den Etappen erlebe ich, nachdem ich gegen 23 Uhr von einer rausch­haften Be­geg­nung mit Ardbeg, Glenlivet, Knockando, Lagavulin, Macallan und Talisker zu Fuß durch den strömenden Regen trabend, unendlich beschwingt, nach Hause zu­rückkehre, als Crescendo, das den Boden beben läßt. Auch nüchtern betrachtet, macht sich von der ersten Seite an der Ein­druck breit, an einem wuchtigen, in zumeist im Prä­senz verfaßten, hieb- und stichfesten Parata­xen (die, um des lebendigen Rhythmus willen, gelegentlich von Hypotaxen flankiert sind), von Idiosynkrasie, Ironie, Oxymo­ron, Paradoxon, Sarkasmus, Wortspiel, Zynismus – usw. – durch­wirkten Stück in 65, die heterogensten Lebens[t]räume der mitteleuropäi­schen Großstadt bis in die unzugänglichsten Mauervertiefungen ausleuchtenden, aphorisie­renden, dramati­sierenden, konterkarierenden, persiflierenden, philoso­phie­renden, ziselierenden Erzähl-Akten teilzuhaben, dessen ausge­reifter Stil mich 320 Sei­ten lang total begeistert. Das ist neoneue Sach­lichkeit, messerscharf beobachtet, haargenau re­cherchiert, denke ich, cool, glatt, professio­nell sezierende analytic fiction, die mit knall­harten Se­quenzen den zwischen allem und nichts changieren­den Zeitgeist nach 2000 einfängt und mehr als Bestäti­gung dessen ist, was ich 2009 im Poetenladen über diesen ungarheinischen Teufelskerl Weigo­ni und dessen Vignetten schreibe. Ich empfehle »Zombies« als faszinierendstes, formidabelstes, fulminantestes, furiosestes Prosabuch, das ich 2010 aus dem deutschen Sprachraum gelesen habe, einer Reihe befreundeter Autoren, und Axel Kutsch schreibt mir nach der Lektüre der Zombies – und nie hatte er so recht wie heute: Selten ist unsere Gegen­wart bisher so radikal und virtuos eingefangen worden. Dieses Buch überragt fast alles, was die deut­sche Lite­ratur unserer Tage an Prosa zu bieten hat. Ein Meister­werk.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim, 2010

Coverphoto: Weigoni-Porträt von Anja Roth

Weiterführend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Weiterführend → KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus fixpoetry. Betty Davis sieht darin eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt darin  hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.