Der Vers muß gewisse Gesetze und Möglichkeiten des Atems einholen und sich ihnen verschreiben: des Atems und Atmens dessen, der schreibt, wie auch seines Zuhörens.
Charles Olson
Der Gedichtband Schmauchspuren von A.J. Weigoni sind ein Exerzitium der Atemgebung. Durch Lautverschiebung und Buchstabenersetzung entstehen neue Bedeutungen. Die Sprache der Musik wird eins mit der Musik seiner Sprache, in einem Nuancenreichtum und einer gesamtkunstwerklichen Breite, die keine Grenzen zu kennen scheint. Hier ein Flüstern, ein kaum vernehmbarer Seelenhauch, den Weigoni gleich noch einmal expressiv zurücknimmt. Dort wuchtige Ausbrüche, die sich steigern, bis in höchste Erregung und letzter Verzweiflung. Es geht um ein Freiwerden der Dinge durch die Worte und zugleich von den Worten. Für das Gedicht wie für die Geschichte gilt: Literatur überdauert, solange ihr immer wieder neuer Sinn zugeführt wird.
Dichtung ist Geometrie im wahrsten Sinne des Wortes.
Lautréamont
Den Logos hervorzubringen, das Wort in sich zu entdecken und das Sprachvermögen als Innerstes des Menschen zu begreifen, treibt diesen poète maudit um. Der Gehalt dieser Gedichte ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen, sondern diese werden dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Eine ausgereifte Wortversessenheit trifft auf eine Lust an der komprimierten Reflektion in Wörtern. Dichtung als Medium des Denkens ist keine Selbstverständlichkeit, wo Lyrik gattungspoetisch eigentlich als Domäne des Ausdrucks und schlußendlicher Metaphern aufgefasst wird. Man beginnt bei diesem Schmauchspuren, über die semantischen Bruchstellen hinwegzulesen. Daher kann man über Weigonis VerDichtungen in vielen Zusammenhängen nachdenken, in ökonomischen, psychologischen und soziologischen. Gedichte interessieren als Wege zu Bewußtsein, so bedeutet Erkenntnis dabei nicht bloß Information über Welt und Selbst, sondern auch die Gewinnung einer Haltung, die Verkörperung intellektueller, moralischer und sinnlicher Erfahrung. Mit der Gewinnung einer Haltung, jener spannungsgetragenen Integration von Denken, Wollen und Fühlen, ist dabei nichts anderes gemeint als Bildung. Dies ist keine neue Erkenntnis: „Verse sind Erfahrungen, meinte Rilke und beschrieb die Ausbildung einer Haltung, wenn er sagte, es genüge für Verse noch nicht, „daß man Erinnerungen hat… Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte.“ Immer dann, wenn die Sprache selbst in den Schmauchspuren zum Thema und zum Ereignis wird und alles Meinen und Mahnen verschwindet, gelingen VerDichtungen von ungemeiner Präzision und Eindringlichkeit.
Eine Art lyrische Tektonik
Walter Benjamin hat festgestellt, daß der politische Wert eines literarischen Werks dessen literarischer Wert ist – und das gilt erst recht für die Literatur des 21. Jahrhundert. Weigonis Einsatz berücksichtigt auch soziale und politische Werte, denn es kann keine ästhetische Recherche ohne Ethik geben. Bewusst bezeichnet Weigoni diese Lyrik als VerDichtungen. Seiner Vorstellung nach ist jedoch ein literarischer Text nicht bloß ein System oder eine Struktur, sondern von seiner Umgebung und einem historischen oder zeitgenössischen Kontext abhängig, welcher der Erschaffung jedes Textes voraus geht. Außerdem wird der Text von einem Adressaten geteilt – zum Beispiel einer Person oder einer sozialen Gruppe – der die Bedeutung dieses Textes teilt und bereichert. Jeder Text ist als Mosaik von Zitaten aufgebaut, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. Diese Texte entstehen nicht aus dem Nichts heraus, sie spiegeln den Einfluss all dessen wider, was der Lyriker gelesen hat und was den ihn umgebenden Diskurs bestimmt. In jedem Fall ist Weigonis Werk in eine linguistische Umgebung eingebettet. Es empfiehlt sich eine Demut gegenüber dem Bedeutungssystem und den Verweisungszusammenhängen und den Rhythmen in Weigonis Gedichten. Ein sicheres Sprechen ist längst kein abgesichertes. Deutlich ist spürbar, daß sich hier fragile dichterische Existenz sprachlich konstituiert. Sprachliche Sicherheit, nicht abgesichertes Sprechen! Das wird von den Germanisten gern verwechselt, aber letzteres wäre es nur, wo dieses Sprechen eine herrschende Lebensform affirmierte.
***
Schmauchspuren, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.