Er fiel mir auf, so gab der Landwirt später auf der Polizeiwache im nahen Rietfeld zu Protokoll, weil er auf einem Damenrad den abschüssigen Feldweg hinabfuhr, der die beiden Maisfelder durchschnitt. Am Ende einer leichten Kehre bog er dann nach links mitten in das erntereife Feld ab. Der Landwirt gab an, ihn noch angerufen zu haben, dies zu unterlassen. Erbost habe er seine Erntemaschine abgestellt und sei ihm hinterhergeeilt. Nach etwa dreißig, vierzig Metern habe er das Rad sowie die Kleidung des Radfahrers entdeckt. Sehr merkwürdig sei ihm das vorgekommen, hätte dessen Kleidung doch so dagelegen, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Da zwischen Einbiegen in das Maisfeld und Auffinden des Fahrrads und der Kleidung laut Aussage des Landwirts keine fünf Minuten vergangen waren, konnte er sich das spurlose Verschwinden des Mannes, zumal unter diesen seltsamen Umständen, nicht erklären. Er hätte deshalb mit seinem Mobiltelefon sofort die Polizei informiert, die bereits ca. zwanzig Minuten nach dem eingehenden Notruf eintraf.
Die beiden diensthabenden Streifenpolizisten K. und L. sicherten den Tatort im Rahmen dessen, was sie für nötig erachteten. Wobei ihnen, so gaben sie später zu Protokoll, bereits der Begriff ‚Tatort‘ recht unpassend zu sein schien, da sie vor Ort keine Tat erkennen konnten. Vielmehr hätte die vorgefundene Spurenlage in der Tat den Eindruck vermittelt – hier bestätigten sie die Aussage des Zeugen –, als hätte sich die gesuchte Person in Luft aufgelöst. Vor Ort durchsuchten sie die Kleidung nach erkennungsdienstlich relevanten Indizien. Aber außer dem Kassenbon einer nahegelegenen Tankstelle (Fl. Wasser 1,50€), den sie in der rechten Hosentasche fanden, konnten die beiden Beamten am Tatort nichts weiter entdecken. Weder eine Brieftasche noch Ausweispapiere oder persönliche Dinge, die zur Identifizierung der Person hätten beitragen können. Da trotz alledem keine Anhaltspunkte eines Kapitalverbrechens entdeckt werden konnten, verbrachten sie alle vorgefundenen Utensilien mitsamt des Rades in die nahegelegene Polizeidienststelle Rietfeld.
Die noch am gleichen Tag erfolgte Befragung der Tankstellenkassiererin M., die laut Kassenbon den Radfahrer bedient hatte, bestätigten die Angaben des Landwirts: Person männlich. Sein Alter: „irgendwas zwischen 40 und 50, vielleicht“. Zahlte in bar. Gierig getrunken habe er, daran konnte sie sich noch erinnern („es war ja auch ziemlich heiß“). Die Flasche habe er draußen ordnungsgemäß in den Plastikmüll entsorgt. Und sei dann auf das mitgeführte Fahrrad („ein Damenrad, das weiß ich noch – fand ich komisch. Mann und Damenrad“) gestiegen und losgefahren. Aus welcher Richtung er gekommen sei, könne sie leider nicht sagen. Bestätigen könne sie nur, dass er in Richtung der Maisfelder von Landwirt J. fuhr. Weitere Angaben zu Größe, Haarfarbe, besonderen Kennzeichen etc. konnte sie nicht machen.
Die weiteren Ermittlungen ergaben weder einen Hinweis auf eine vermisste männliche Person mittleren Alters im Umkreis der Gemeinde Rietfeld noch auf ein Delikt, bei der eine Person, auf die diese vage Beschreibung zutraf, eine Rolle gespielt hat (sowohl die beiden Streifenpolizisten K. und L. als auch der Landwirt J. waren „irgendwas zwischen 40 und 50, vielleicht“). Auch gingen in den nächsten Tagen keine Hinweise auf eine mutmaßlich nackte männliche Person ein, die im Umfeld des ‚Tatortes‘ gesehen wurde. An der Kleidung der verschwundenen Person wurde anhaftende Haare sichergestellt und zur DNA-Analyse geschickt. Die Ergebnisse bestätigten, dass es sich um eine männliche Person handelt, vermutlich westeuropäischer Herkunft. Haarfarbe dunkelblond, leicht meliert, was die Aussage des Landwirts und der Kassiererin zum Alter der betreffenden Person zu bestätigen schienen. Es ergab sich jedoch kein Treffer in der polizeilichen Datenbank.
Die einzige nennenswerte Spur schien das Damenrad zu sein. Ein Abdruck im Ortsteil der überregionalen Zeitung ergab zunächst diverse vielversprechende Hinweise auf den Diebstahl einen solchen Rades. Diese erwiesen sich bei näherer Überprüfung jedoch allesamt ebenso als gegenstandslos wie auch jene Zeugenaussagen, die in den Tagen vor dem Verschwinden eine männliche Person auf einem Damenrad gesehen haben wollten. Da auch in den kommenden Wochen und Monaten keine Vermisstenmeldung einging und es auch keinen sachdienlichen Hinweis auf die verschwundene männliche Person, seine Identität, Herkunft oder seinen Verbleib gab sowie kein Leichenfund im näheren oder weiteren Umkreis der Polizeidienststelle Rietfeld gemeldet wurde, der dieser Person hätte zugeordnet werden können, wurde der Fall schließlich zu den Akten gelegt.
Da niemand auf der Wache so recht wusste, ob der Fall überhaupt ein Fall und unter welchem Aktenzeichen die Akte einzuordnen war, legte man sie an einem Ort ab, der so sehr in Vergessenheit geriet, dass sich in späteren Jahren niemand mehr an einen Fall erinnerte, zu dem es eine Akte hätte geben müssen. Es verwundert deshalb nicht, dass die Utensilien, die Polizeianwärter N. eines Tages bei Aufräumarbeiten in der Asservatenkammer der Dienststelle fand, keinem Fall zuzuordnen waren. Für niemanden waren sie eine Spur für irgendwas. Sie waren nur das, was sie waren: aus der Mode gekommene leichte Herrenkleidung sowie ein altes Damenrad.
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Freilauf, Miniaturen von Stefan Oehm, KUNO 2021
Die Miniaturen von Stefan Oehm sind eine Reihe von Short-Shorts, kurze Kurzgeschichten. Diese konzentrierten Prosastücke sind fast alle sind hintersinnig und mindestens doppelbödig. Einige bringen im Kopf des Lesers eine – kleinere oder größere – Welt zum Erblühen. Oder auch zum Verwelken.