Zum Erscheinen von A.J. Weigonis erstem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet hatte KUNO die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” thematisiert. Es ist für die Redaktion naheliegend auch den jeweils zweiten Roman in einer Doppelbesprechung vorzustellen. Der Titel von Seilers Roman “Stern 111“, verweist auf die Bezeichnung eines Kofferradios aus der DDR, diese wird zum Leitstern für die Reise der Eltern. Ihre letzte Etappe enthält, das sei bereits verraten, den ergreifenden Höhepunkt des Romans.
We’re gonna rock around the clock tonight
Auch A.J. Weigoni ist seit den Kindertagen vom Medium Radio fasziniert. Er saß vor einem Rundfunkempfangsgerät mit Tigerauge wie vor einer Kultstätte und vergaß, als er vor dem Lautsprecher saß, die Apparaturen und Stationen. Das Medium Radio erlebte er als zauberhaft und seine Unmittelbarkeit als bestechend. Wenn er den Empfang optimieren wollte, musste er nur geradewegs ins magische Auge des Empfangsgeräts schauen, das aufging oder sich schloss, wie eine sogenannte Abstimmanzeigeröhre, welche die Stärke des Signals veranschaulichte. Der Himmel war nicht nur der Himmel der Erde, sondern auch das Firmament der Kunst.
Die halbe Stadt war verzwicktes Narbengelände.
Lutz Seiler über die Hauptstadt der DDR
„Nicht wenige sind unterwegs in dieser frisch befreiten Stadt. Die ganze Welt wird neu verteilt in diesen Tagen […]“, sind die ersten Sätze, die Carl von Hoffi, dem Hirten, hört. Nach „Kruso“ führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort – in einem Roadtrip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der dem Leser die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden. Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben – die Wohnung, den Garten, seine Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem „Lebensgeheimnis“, von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach dem Mauerfall in das von Energie und Pioniergeist pulsierende Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des „klugen Rudels“ aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel „Assel“ im alten Scheunenviertel betreibt. „Schneller als die Okkupanten und ihre Spekulanten“, die laut Hoffi mit Säcken voller Geld bereitstehen, um Ostberlin in ein einziges großes Spekulationsobjekt zu verwandeln, gilt es zu sein, um die Häuser, die man „in Obhut genommen“ hat, zum einen vor dem endgültigen Verfall zu schützen. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, „die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war“.
Die Sehnsucht nach einem Zuhause existiert zwar nach wie vor, aber es handelt sich dabei lediglich um eine Illusion.
Toni Morrison
Die Bonner Republik erscheint im Roman Lokalhelden als eine verwunschene Landschaft, die es aus dem Bann der Geschichte zu erlösen gilt. Es ist weniger das Bemühen der Weltgeschichte in die Speichen zu greifen, vielmehr eine Hommage an die unprovinzielle Bodenständigkeit der Rheinländer. An jeder Straßenecke überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart. Weigoni ist er ein Virtuose im aufgeschobenen, fragmentierten Erzählen nachgetragener Vorgeschichten. In diesem rätselhaften und faszinierenden, aber eben auch total kaputten Rheinland gibt es jede Menge Tabus, und dieser Romancier will sie alle brechen. Er bewältigt dies vor allem mittels ungewöhnlicher, spannender und amüsanter, gelegentlich auch umständlicher Abstecher in wenig bekannte Gefilde der Geschichte und Gegenwart des Rheinlands, und er tut es mit großem Furor und bisweilen sogar polemisch. Es ist ein antiidyllischer Heimat-Roman, erzählt als Heimatgeschichte, die Zweifel und Selbstironie aushält. Dieser Roman stellt die Unantastbarkeit der heimatlichen oder nationalen Idee in Frage, entzieht der Heimat die geographische Komponente. Er vertiefte sich in die deutsche Seelenlage und blickte tief in die Schwäche der rheinischen Seele, die Hoffnung gab er deswegen nicht auf.
Lutz Seilers Ich-Erzähler traumwandelt durch die Nachwendezeit in Berlin
Stern 111 ist Wende-, Künstler- und Liebesroman in einem. Die Zeit zwischen dem Mauerfall im November 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Der Ich-Erzähler haust zunächst im Auto, bis ihn eine Gruppe von Freunden halb erfroren aufliest, mit Ziegenmilch aufpäppelt. Sie nennen ihn „Shigulimann“, nach dem Fabrikatsnamen des Fahrzeugs, das am Straßenrand erspäht erkannt haben. Wohnungen aus den Abbruchhäusern des Prenzlauer Bergs werden „in Obhut genommen“. In der Rykestraße des Prenzlauer Berg wird ihm eine Wohnung zugeschanzt. Der Wasserturm am Straßenende wird Carls Wächter. Wenn er ihn umwandert, entstehen Verse im Rhythmus des Gehens; also wie in Kruso ist hier wieder eine Dichterexistenz im Spiel. „Stern 111“ ist, wie auch schon „Kruso“, ein Künstlerroman: Er erzählt davon, wie eine durch das Leben irrende Gestalt allmählich ihre Bestimmung erkennt und zu einem Poeten wird, der an einer Werkbank dichtet. Parallel werden die Eltern beschrieben, sie sind um die 50 Jahre alt, eigentlich typische Wende-Verlierer. Doch Inge und Walter Bischoff gehen in den Westen, Carl verfolgt mit Fähnchen auf einer Karte ihre Stationen vom Aufnahmelager Gießen aus. Er arbeitet er als Maurer mit, um die Kellerkneipe Assel in der Oranienburger Straße auszubauen und eine „antikapitalistische Untergrundkolchose“ im Keller des besetzten Hauses zu betreiben. Einige Leute dort träumen von der neuen Arbeiterschaft. Der Originalschauplatzvoyeurismus wird mit diesem Roman bestens bedient.
Der Heimatbegriff ist so dicht mit Folklore verstellt, dass man die Verhängnisse der Vergangenheit dahinter kaum mehr wahrnimmt.
Eigentlich ist ein Roman kein Geschichtsbuch, es kann aber ein Geschichtenbuch sein, er verrät einen scharfen Blick auf soziale und andere Realitäten, integriert in der Intertextualität literarische Traditionen. In die politischen Ereignisse dieser Jahre webt Weigoni weitere Geschichten hinein, die den Kern des Romans ausmachen. Er ist ein meisterhafter Beobachter der Rheinländer, seine Figuren sind bis ins Detail ausgearbeitete Porträts – von windigen Bierhändlern, schmierigen Vertretern, skrupellosen Grundstücksbesitzern, stolzen Deutschen, cholerischen Fußballfans, beflissenen Kleingärtnern und trinkfreudigen Börsianern. Er stellt sie in all ihren Facetten vor, mal bauernschlau, mal schwer von Begriff, mal von grenzenloser Nachsicht, mal von einer unfassbaren Arroganz. Er registriert den ungebrochenen Geltungsdrang der Parolenschwinger. Das Drumherumgerede liegt ihnen nicht sonderlich, seine Figuren sind direkt, derb und unverblümt. Ihr Fett weg bekommen aber vor allem die Gernegroßen des Rheinlands und selbstverständlich die Politiker. Mit den Lokalhelden schließt er an die Zombies an, diesmal sind die Rheinländer die Untoten, sie wissen es nur noch nicht. Die „Alkstadt“ wimmelt von posthumanem Leben, Botox-Monstern und anderen Über- und Unterlebensformen. Weigoni macht die Realität als Produkt eines epochalen Niedergangs kenntlich, er zeigt die Installation des kapitalistischen Realismus als Versuch, in Zukunft jede Form von Zukunft zu verhindern, die diesen Namen verdient. Es ist das Unsittenbild einer überalterten BRD.
„Es war ein schönes fließendes Fahren. Der Shiguli rollte praktisch von allein, und Carl konnte träumen. Er mochte das Geräusch der Radialreifen auf Pflasterstraßen, und also suchte er sich Pflasterstraßen – die nachtgraue Schönhauser Allee zum Beispiel, bergauf und bergab, das Summen und Brummen unter den Schädeldecken der Pflastersteine, so lange bis ihm warm war. Dazu das stumpfe Meeresrauschen des Gebläses, der Wind und die Wärme auf den Wangen. Der Shiguli lief wie auf Schienen, die er sich weise vorausschauend selbst auslegte.“
Im Winter nach dem Mauerfall herrscht in Ostberlin spielerische Anarchie. Seiler setzt der Berliner Szene von damals ein literarisches Denkmal, wie es noch keines gegeben hat – mit vielen Anspielungen auf historische Orte und Personen und unvergesslichen Episoden. Er gerät in eine Zwischenwelt voller Anarchie, Verweigerung, Mitmachutopien und lebenskünstlerischem Anspruch. Er kippt geradezu in die Umbruchszeit des letzten Jahrs der DDR hinein, wird Teil einer verschworenen Gemeinschaft. Das östliche Berlin um Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wird hier zu einer Art Abenteuerspielplatz, und Carl, der als gelernter Maurer gut zu gebrauchen ist, mischt ordentlich mit. Eines Abends taucht Kruso aus dem Vorgängerroman auf, die Leute nennen ihn nun den Comandante. „Im Licht der Baulampen verwandelte sich das Keller-Colloquium in eine Gespensterversammlung, die sich fortsetzte in unzähligen Schatten an der Wand.“ Kruso spricht über das „Verhalten bei Fascho-Alarm“, die Wachdienste, den „Nazi-Einsatzschrank“ im Durchgang eines Hauses und behauptet, dass nur die einstigen Grenzhunde Schutz böten. „Wie ein Häuptling ohne Volk“ wirkt er auf Carl. Auf wesensverwandte Szenen stoßen wir auch bei der Re-Lektüre von Weigonis erstem Roman.
Bonn, das Atlantis der BRD
Joachim Bessing
Das Rheinland ist ein Lebenskatalog voller Skurrilitäten, dem entspricht der Roman, er ist voller Pointen, Überraschungen und karnevalesker Heiterkeit. Diese Typen sind Helden eines streng verwahrten und verwarteten Lebens. In den Lokalhelden verknüpft Weigonis eine Überlegungen zum widerständigen Subjekt und welche Konsequenzen sich aus Normverweigerung und Repressionsabwehr ergeben. Es ist eine Gegenüberstellung von entindividualisierter Gesellschaft und den einzelnen Opfern. Da sich die Schrecken des 20. Jahrhunderts im einundzwanzigsten perpetuieren, hat das Lebensgefühl, das aus ihm spricht, an Berechtigung nichts verloren. Es sind elliptische Erzählbewegungen hinein ins Auseinanderstreben von menschlichem Handeln und natürlicher Ordnung, in das große Nebeneinander von Bewusstem, Unbewusstem und Bewusstlosem. Und er fügt es zu jenem Ganzen zusammen, in dem vielleicht nicht alles seinen Sinn, doch zumindest seinen Platz hat.
„Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.“
Rilke
Thema beider Romane ist die die Brüchigkeit der Kultur, mag sie sich auch für überlegen halten. Denkt man an die Erfolgsgesichte der alten BRD, ist es ein Erinnern an die Geschichte der Sieger. Da bleibt selten Platz für die Geschichte der Geschlagenen und Gedemütigten, jene, die für Sozialismus und Selbstbestimmung kämpfen, die Widerstand gegen die Durchsetzung des Haifischkapitalismus leisten und versuchen, weitere Verschlechterungen abzuwehren. Es sind die Leser, welche die abgerissenen Stimmen und die Wahrheit zusammensetzen, um das Bild einer vergangenen Geschichte des alten Bonner Republik zu erkennen. Kein vernünftiger Mensch wird sich wünschen, in einem Buch zu enden, in diesem Rheinland würde man gern leben wollen. Was diesen Roman groß, wahr und schmerzhaft macht, ist, daß hinter dem deformierten Sprechen und Fühlen wirkliche Menschen stecken, die Herzen haben – und seien sie noch so vereist. Als Seiler in 2014 „Kruso“ veröffentlichte war bekannt, dass ihm ein erster, aufgegebener Versuch vorausgegangen war. Sein neue Roman ist, nach den Indizien zur urteilen, eben dieses zunächst gescheiterte, nun vollendete Werk. Ähnlich, wie bei Weigoni sind die beiden Bücher eng miteinander verbunden, wobei die Geschichte des Romans „Kruso“ der Handlung in „Stern 111“ um ein gutes Jahr vorausgeht. Zwar schließen die Bücher nicht einander an. Doch scheinen die Helden beinahe miteinander verwandt zu sein, man sollte den Autor nicht mit der Hauptfigur verwechseln, doch ist offenbar, dass der Autor seinem Helden zur Seite steht. Das Buch ist ein Künstlerroman, das aus der Verweigerung, aus dem Abseitigen heraus erzählt wird, nicht aus dem beherzten Aufbruch in eine neue Zeit. Es dominiert das Zaudernde, Zögernde, Zurückweichende inmitten des großen Weltenumbaus. Seiler leuchtet kunstvoll die toten Winkel der Geschichte aus. Die Erzählung des 500-Seiten-Romans ist in seinen Details von enormer, fast lyrischer Dichte.
Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.
Walter Benjamin
Wie bereits bei seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet setzt Weigoni die Wirklichkeit eines Romans aus kleinsten Partikeln zusammen. Die Sprachklaviatur erstreckt sich von Trash über wenig zimperlicher Derbheit bis hin zum sogenannten hohen Ton. Aus dem Feinstaub der Erinnerungen und aus der brüchigen Gegenwart, aus Historie und Hirngespinsten. Seine Zombie-Erzählungen spiegelten in der Zeit nach 9/11 die Angst vor dem Untergang der Welt wider, sie feierten aber zugleich den Überlebenswillen des Individuums. Das kalte Beieinander wird im Rheinland zum Miteinander der verlorenen Seelen. Der Roman Lokalhelden ist eine Tiefenbohrung ins gesellschaftliche Gewebe einer Zeit, die an den Rändern durchlässig wird. Weigoni beschreibt das Rheinland als eine entbundene Gesellschaft, Geld ist gleichwohl wichtigste Faktor, der die Umgestaltung der Region vorantreibt. Die kommunale Selbstverwaltung französischer Provenienz, die auch unter preußischer Herrschaft noch lange erhalten blieb, verschaffte dem Rheinland eine grosse Bewegungsfreiheit und ein üerzogenes Selbstbewusstsein. Der Leser fragt sich, wie das alles zusammengeht, was man gemeinhin Leben nennt, und indem er eine klare Antwort verweigert, wechselt er auch seine Register. Weigoni erhebt weder Anspruch auf Objektivität noch den irgendeiner Form von Vollständigkeit, er verbindet regionale Aspekte mit ihrer überregionalen literarischen Bedeutung, wuchtet Literatur aus dem regionalen Heimatautoren-Sumpf heraus und gibt ihr und den Protagonisten das, was ihnen zusteht: Würde und Bedeutung, Literatur und Unterhaltung – oder einfacher gesagt: Er erzählt glaubwürdige und grandiose Geschichten.
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Stern 111 von Lutz Seiler. Suhrkamp, Berlin 2020
Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend →
Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.