Werkauswahl in drei Teilen

 

Der 1920 in Moskau geborene post-avantgardistische Dichter und Erzähler, mit dessen Texten auch eine Reihe von westlichen Slawistinnen und Slawisten seit den späten siebziger Jahren vertraut waren, gehörte seit den 1950er Jahren der russischen inoffiziellen Literaturszene an. Die dreiteilige Dokumentation mit ausgewählten, aus dem Russischen übersetzten Gedichten und Erzählungen, einigen Prosatexten wie auch mit einem Bio-Interview versehen, ist dem 100. Geburtstag von Igor Cholin gewidmet. Das Werk des 1999 in Moskau Verstorbenen zeichnet sich durch eine Reihe von literarischen Merkmalen aus, die sich bei der Lektüre der ausgewählten Texte und biografisch verbürgten Aussagen herauskristallisieren. Im Teil 1 der Werkauswahl, Gedichte unter dem Titel „Es starb der Erdball“, kongenial von Gudrun Lehmann übertragen, widmet sich Cholin umfassenden kosmischen Prozessen wie auch irdischen Abläufen, die er banalisiert, zugleich personalisiert und in oft skurrilen Kontexten verarbeitet. Sein lyrisches Ich versteckt sich hinter historischen, längst verstorbenen, berühmten Persönlichkeiten, die er in unterschiedlichen historischen Prozessen veralbert. Er spielt mit plakativen Aufrufen, ermächtigt sich selbst zum Herrscher des Weltalls. Die stakkatoartig aufgereihten Versketten erzeugen beim Hören und beim Lesen eine sich steigernde Lust an Texten, in denen auch die Vorbilder von Igor Cholin, die russischen Zaum-Dichter Velimir Chlebnikov und Daniil Charms, und manch andere durch die Textketten tanzen und auch das schelmisch-frivole Spiel mit russischen Sexualmetaphern betrieben wird.

Die kurzen Prosastücke, die der Slawist Wolfram Eggeling ins Deutsche übertragen hat, zeichnen sich durch zwei unterschiedliche narrative Themen aus. Einerseits sind es Erzählungen, die auf den ersten Blick eine nüchterne Beschreibung von alltagskomischen Begebenheiten in sowjetischen Kleinstädten enthalten. Andererseits sind es Episoden mit religiöser und mythischer Thematik aus Jerusalem. Beide thematische Blöcke zeichnen sich durch ausgereifte stilistische Merkmale und verdichtete narrative Eigenschaften aus.

Das Bio-Inter-View, das Sabine Hänsgen mit Igor Cholin im Teil 3 der Dokumentation als Videoaufzeichnung gestaltet hat, erweist sich als Schlüssel zur Persönlichkeit des Dichters. Es äußert sich eine Person, die in verschiedenen Lebensabschnitten durch schlimme Erlebnisse geprägt wurde: als Kind in Erziehungsheimen der späten 1920er Jahre, als Soldat an verschiedenen Frontabschnitten im 2. Weltkrieg, als Arbeiter in unterschiedlichen Berufen während der 1940er und 1950er Jahre. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen kristallisierte sich eine autodidaktische Persönlichkeit heraus, die in der Moskauer Barackensiedlung Lianosowo zum Dichter reifte. Die acht S-W-Fotografien, die diesem Bio-Interview beigefügt sind, vermögen diesen schmerzlichen Prozess in Ansätzen zu verdeutlichen.

Der liebevoll, sachlich und engagiert gestaltete Schuber dient der Würdigung eines russischen Dichters, der bislang in der zweiten Reihe hinter der Phalanx der unter dem kommunistischen Regime leidenden russischen Dichterinnen und Dichtern platziert war. Erst die Publikationen von Sabine Hänsgen und Georg Witte (Sascha Wonders und Günter Hirt) in den frühen 1990er Jahren zum Werk von Igor Cholin wie auch von anderen Dichtern und Künstler*innen aus dem Lianosowo-Umkreis und deren wachsendes Interesse in westeuropäischen Literatur- und Kunstkreisen legten die Grundlage für die Anerkennung seines Werkes in westeuropäischen und amerikanischen Fachkreisen. Mit der nun aus Anlass des 100. Geburtstags von Igor Cholin vorliegenden ambitionierten Auswahl an Texten und biografisch-authentischen Aussagen ist den Slawisten im Umkreis der Aspei-Edition in Bochum eine würdige Erinnerung an einen Dichter gelungen, der nicht nur der Chronist der einzigartigen Künstler- und Dichtersiedlung Lianosowo war, sondern eine eigenständige, hochsensible Persönlichkeit in der russischen postavantgardistischen Poetik des 20. Jahrhunderts darstellt.

 

 

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Cholin 100 Werkauswahl in drei Teilen. Edition Aspei, Bochum 2020.

1: Igor Cholin. Poesie: Es starb der Erdball. Übertragung aus dem Russischen von Gudrun Lehmann. 2: Igor Cholin. Prosa. Ein glücklicher Zufall. Übertragung aus dem Russischen von Wolfram Eggeling. 3. Igor Cholin¸ Bio-Inter-View. Eine Videoaufzeichnung von Sabine Hänsgen, Moskau 1996. Deutsche Übersetzung Sascha Wonders. Bochum: Edition Aspei, 2020, 38 S., Alle drei Broschüren haben Fadenbindung und kosten zusammen im Schuber 25.- Euro. Gestaltung von Martin Hüttel

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Aspei ist eine Vereinigung von Künstlern und Schriftstellern, die den Austausch von Literatur und Kunst zwischen Ost und West fördern. Dies geschieht in einem lebendigen Dialog, in der Organisation von Kunst- und Bücherausstellungen, Lesungen, Vorträgen, Konzerten, Performances u.a., ferner in Publikationen von literarischen Werken und Kunstkatalogen. Aspei besteht als informelle Gruppe seit Mitte der 80er Jahre, als gemeinnütziger Verein mit Sitz in Bochum seit 1996.