Von weitem schon konnte er die Trauerweide sehen.
Sie wies ihm den Weg. Gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Gewissheit. Unbeschreiblicher Freude. Wenn er sie sah, wusste er:
Es ist geschafft. Gleich kann ich mich hingeben, dem Verlangen zu ruhen. Zu fliehen in Gedanken. Weiß ich doch, was ich an dem Schlaf habe, der mich empfängt.
Auserwählt fühlte er sich dann, glaubte an ein Leben, das länger währte als jedes andere. Zweimal täglich auferstanden er zählte die Stunden doppelt: Ein neuer Tag begann für ihn, wo der alte dauerte.
Kein Mensch durfte je davon erfahren, wie es um ihn stand. Sein Geheimnis musste bewahrt bleiben, wollte er doch für sie so sein wie sie waren.
So in Gedanken versunken kam der Schlaf Lider zuckten Augen zitterten schnell.
***
Freilauf, Miniaturen von Stefan Oehm, KUNO 2021
Die Miniaturen von Stefan Oehm sind eine Reihe von Short-Shorts, kurze Kurzgeschichten. Diese konzentrierten Prosastücke sind fast alle sind hintersinnig und mindestens doppelbödig. Einige bringen im Kopf des Lesers eine – kleinere oder größere – Welt zum Erblühen. Oder auch zum Verwelken.